Dirk Müller: Das Q ist nicht ein Kürzel aus einem James-Bond-Film, sondern steht für Qualifizierung. Das neue Zauberwort der SPD: Arbeitslosengeld Q. Das soll ein neues Recht sein für jeden, der arbeitslos wird. Qualifizierung, Weiterbildungsangebote, die angeboten werden müssen. Damit soll auch das Arbeitslosengeld I künftig zwei Jahre länger gezahlt werden können als bislang, denn nach einem Jahr droht jetzt nämlich in der Regel bereits Hartz IV. Eine Korrektur bei der Agenda 2010, die mehr als eine Milliarde Euro kosten dürfte. Für Martin Schulz ein erster Schritt seiner Agenda auf dem Weg zu mehr sozialer Gerechtigkeit.
Eine Milliarde Euro für ein längeres Arbeitslosengeld – am Telefon begrüße ich nun Steffen Kampeter, Hauptgeschäftsführer der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA), viele Jahre CDU-Politiker und Staatssekretär im Bundesfinanzministerium. Guten Morgen nach Berlin.
Steffen Kampeter: Guten Morgen aus Berlin.
Müller: Herr Kampeter, können Sie da ausnahmsweise nicht mal mitmachen?
Kampeter: Ich glaube, wir müssen die Debatte erst mal wieder auf die Füße stellen. Welches Problem soll gelöst werden? Haben wir eine steigende Arbeitslosigkeit? Nein, sie sinkt. – Haben wir bei dem Arbeitslosengeld I Leute, die länger darin bleiben? Nein! In den letzten Jahren ist die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes erheblich gesunken, von 27 auf rund 17 [Wochen] (*). – Oder haben wir bei bestimmten Problemgruppen Schwierigkeiten, beispielsweise bei den Älteren? Nein, die Beschäftigung Älterer steigt.
Ich verstehe ehrlich gesagt nicht, warum wir mit so großer Aufregung bei einem Arbeitsmarkt, der verhältnismäßig intakt ist, versuchen, Zweifel an den bewährten Instrumenten der Arbeitsmarktpolitik zu hegen, ohne irgendeine fundamentale arbeitsmarktpolitische Herausforderung zu lösen.
Müller: Sie sind sorgenfrei?
Kampeter: Ich bin nicht sorgenfrei. Ich glaube, wenn Sie sich mal die Qualifikationsstruktur derjenigen, die das Arbeitslosengeld I (ein sehr technischer Begriff) beziehen, anschauen, dann erleben Sie: Drei Viertel davon, die haben eine berufliche oder eine akademische Qualifikation. Für die ist Qualifikation nicht die Hauptherausforderung, sondern da mögen andere Vermittlungshindernisse eine Rolle spielen. Beispielsweise bei einer Alleinerziehenden ist es Kinderbetreuung, oder bei jemandem, der regional in einem Bereich ist, wo seine Qualifikation nicht nachgefragt ist, ist es vielleicht eine Mobilitätshilfe.
Wir haben sehr viele kompetente Mitarbeiter(innen) in der Arbeitsverwaltung, die ein sogenanntes Profiling betreiben, und der Vorrang muss weiter bei der Vermittlung, nicht in die Abschiebung von Warteschleifen bleiben. Wir sollten die Arbeitsagentur jetzt nicht mit neuen Aufgaben überfordern. Sie hat die Kernkompetenz von Vermittlung in den Arbeitsmarkt. Sie ist keine staatliche Weiterbildungsagentur.
"Gegen das Interesse der Steuer- und Beitragszahler"
Müller: Seit wann, Herr Kampeter, wenn ich Sie jetzt richtig verstanden habe, ist denn Weiterbildung, Qualifizierung Abschiebung?
Kampeter: In dem Augenblick, wo sie lediglich zum Selbstzweck wird und nicht dem Profil des individuell Arbeitsuchenden entspricht. Es ist ja nicht richtig, was Frau Nahles gesagt hat. Es wird niemandem, auf den eine Qualifikationsmaßnahme passt, eine solche verwehrt. Auch in den letzten Jahren ist durch die Situation bei der Arbeitslosenversicherung aus materiellen Gründen keine Qualifikationsmaßnahme abgelehnt worden. Es hat vielmehr ein Bewusstseinswandel stattgefunden, dass Qualifikation nicht in jedem Fall die Antwort auf die Arbeitssuche ist, sondern dass die Arbeitsverwaltung, die Arbeitsagentur passgenaue Lösungen macht. Wenn man dagegen jetzt einen Rechtsanspruch stellt, dann entscheidet nicht mehr der Profiler oder der Mitarbeiter der Arbeitsagentur, was individuell geboten ist, sondern dann steht im Vordergrund ein Rechtsanspruch, der zu erfüllen ist, und das entspricht weder dem neuen Verständnis der Arbeitsmarktpolitik, noch dem Interesse der Steuer- und Beitragszahler, noch, glaube ich, bestimmt es das Interesse des Beschäftigungssuchenden.
Müller: Herr Kampeter, das soll ja für beide Seiten gelten. Das heißt, derjenige, der keine Lust hat, sich weiterzuqualifizieren, und nicht arbeitet, soll im Grunde dann dazu gezwungen werden, wenn er weiter Geld erhalten will, diese Qualifikationsmaßnahmen einzugehen. Es gibt doch Hunderttausende, das ist jedenfalls die These, die durch mehr Weiterbildung und Qualifikation einen Arbeitsplatz bekommen könnten. Viele von denen machen es derzeit nicht.
Kampeter: Herr Müller, ich glaube, wir müssen weiterhin noch mal auf die Tatsachen schauen. Wir haben zwei Rechtskreise. Das eine ist der Rechtskreis Hartz IV. Das ist der größere. Da haben wir völlig andere Herausforderungen. Das andere ist der Rechtskreis, über den die SPD derzeit hier Vorschläge unterbreitet. Meine These lautet, bei ungefähr 800.000 Leuten, die im Bereich Arbeitslosengeld I sind, ist es nicht zielführend, wenn man den Vorrang der Vermittlung zu Gunsten eines Rechtsanspruches auf Qualifikation aufgibt.
Müller: Das ist aber noch nicht gesagt, Herr Kampeter.
Kampeter: Das ist aber der Vorschlag der Sozialdemokraten, denn Sie müssen sich ja mal in die Entscheidungssituation stellen, wenn beispielsweise ein Ortswechsel empfohlen wird, oder eine andere Maßnahme, die dem Beschäftigten nicht adäquat erscheint, dann zieht er den Rechtsanspruch und dann muss die Arbeitsagentur, obschon sie möglicherweise bessere Instrumente der Arbeitsvermittlung hat, ihn in eine solche Schleife schicken. Und ich glaube, das ist weitaus weniger zielführend.
Ich darf darauf hinweisen, dass Gerhard Schröder zurecht damals gesagt hat, wir brauchen mehr Eigenverantwortung in dem Bereich. Das gilt sowohl für die Beschäftigungssuchenden, aber auch für die Arbeitsverwaltung, die wir in den letzten Jahren doch geradezu darauf getrimmt haben, sich jeden Fall einzeln anzugucken und zu gucken, ist eine Qualifikationsmaßnahme das Instrument der Wahl, ist ein Einarbeitungszuschuss das Instrument der Wahl, oder möglicherweise aus dem differenzierten Instrumentarium. Sie schaffen doch mit dieser Diskussion lediglich Abstiegsängste, weil so getan wird, als hätten wir nicht die richtigen Instrumente für die unterschiedlichen individuellen Beschäftigungslagen.
"Kernkompetenz für Fortbildung liegt in den Unternehmen"
Müller: Herr Kampeter, lassen wir beim Interview-Modus bitte bleiben. Ich habe noch ein paar Fragen, die müssen Sie mir alle noch beantworten. – Ich kann mich noch daran erinnern, dass wir beide auch über Facharbeitermangel im Deutschlandfunk geredet haben. Da haben Sie gesagt, klar, wir haben da ein Problem. Qualifizierte Weiterbildung würde doch da die Voraussetzung schaffen, mehr qualifizierte Facharbeiter auf den Weg zu bringen. Ich verstehe nicht, warum Sie sich dagegen sperren, auch in den Unternehmen.
Kampeter: Ich sperre mich nicht in den Unternehmen. Aber wenn Sie mal schauen: Die bundesdeutschen Unternehmen geben knapp 60 Milliarden Euro aus eigener Verantwortung für Fort- und Weiterbildung aus. Die Kernkompetenz für Fort- und Weiterbildung liegt in den deutschen Unternehmen und dort sollte sie auch bleiben. Der tiefere Kern der Vorschläge der Sozialdemokratie steht doch neben einem Mentalitätswandel, dass man Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung auch wieder zurückbezahlt bekommt, auch in der politischen Idee, aus der Bundesagentur für Arbeit eine Qualifikationsagentur zu machen, und das greift in die Kernkompetenzen der kleinen, mittleren und großen Unternehmen ein. Qualifikation, berufliche Ausbildung und Fortbildung ist die Kernkompetenz der Unternehmen und wenn die Bundesagentur oder die Sozialbürokratie in Deutschland aufgrund der erfreulicherweise sinkenden Arbeitslosigkeit sich neue Aufgaben sucht, dann halte ich das Feld der beruflich und staatlich administrierten Qualifikation – darauf hat Arbeitgeberpräsident Ingo Kramer mehrfach hingewiesen -, dann halte ich dieses Feld für eine falsche staatliche Betätigung. Das ist die Kernkompetenz der Unternehmen, da sollte sie auch bleiben.
Müller: Obwohl das Ihnen Kosten sparen und ersparen würde.
Kampeter: Ja die Unternehmen ticken nicht so, dass es hier um Kosten geht, sondern um passgenaue betriebsnahe und marktnahe Fort- und Weiterbildung. Ich glaube, dass der Unternehmer oder die Unternehmerin für seinen Betrieb besser entscheiden kann, was er an Fort-, Weiter- und Ausbildung benötigt, als der Staat.
Müller: Jetzt reden wir noch mal über das Arbeitslosengeld I. Da will ich jetzt auch noch einmal in die Mottenkiste greifen, kann das jetzt hier gar nicht spontan beweisen. Ich meine, es sind zehn, zwölf Jahre her, da haben wir beide hier im Deutschlandfunk – da waren Sie als CDU-Politiker im Bundestag noch aktiv – auch über Hartz IV geredet, über die Konsequenzen, über vermeintliche Ungerechtigkeiten, in der Bevölkerung sehr, sehr umstritten, dass einer, der jahrelang arbeitet, 30 Jahre lang, 20 Jahre lang, wie lange auch immer, dann in vielen Fällen nach einem Jahr Arbeitslosengeld, wenn er entlassen wurde, schon in Hartz IV kommt. Der SPD geht es ja auch darum, diese Zeit, diesen Zeitkorridor etwas zu verlängern. Ist das nicht in der Form dann ein Schritt zu sagen, okay, Du hast so viel gearbeitet, Du hast jahrelang immer eingezahlt, jetzt hast Du auch mehr Möglichkeiten, bessere Möglichkeiten, wieder zurückzukommen?
"Rechtsanspruch wäre falsch"
Kampeter: Aber Herr Müller, genau das ist doch in den letzten zehn Jahren passiert. Ich habe doch darauf hingewiesen. Sinkende Arbeitslosigkeit, sinkende durchschnittliche Bezugsdauer von Arbeitslosengeld.
Müller: Aber Sie sagen, nach 17 [Wochen] ist er schon in Hartz IV.
Kampeter: Er ist bei 17 [Wochen] nicht in Hartz IV. Das wissen Sie sehr exakt. Sondern wenn das erfolgreich ist, ist er in einer Anschluss- und Folgebeschäftigung. Wir haben ja auch gleichzeitig den höchsten Stand an offenen Stellen. Noch mal: Ich glaube, dass das Rezept der Qualifikation im betrieblichen und sicherlich auch im Bereich der Bundesagentur für Arbeit ein richtiges ist. Falsch ist, darauf einen Rechtsanspruch zu setzen. Falsch ist, es zu verbinden mit einem Verlängerungsanspruch auf eine staatliche Leistung. Und falsch ist es, die Bundesagentur für Arbeit zu einer staatlichen Weiterbildungsagentur auszurichten. Die Antworten passen nicht auf die arbeitsmarktpolitischen Herausforderungen. Da würde ich eher mal auf Hartz IV schauen, wo wir ein völlig anderes Qualifikationsprofil haben, ob es hier nicht Möglichkeiten gibt, insbesondere im Bereich der Ertüchtigung, der Fortbildung, der differenzierten Antworten, stärker die Interessen der Beschäftigungssuchenden in den Blick zu nehmen.
Müller: Das heißt, bei der jetzigen Regelung Arbeitslosengeld I sagen Sie, Herr Kampeter, das jetzige System ist gut und gerecht?
Kampeter: Das jetzige System ist gut, vernünftig und gerecht. Es hilft dem Arbeitssuchenden besser als alle Vorgängersysteme. Wir sollten es nicht in Frage stellen.
Müller: Bei uns heute Morgen im Deutschlandfunk Steffen Kampeter, Hauptgeschäftsführer der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA). Danke, dass Sie für uns Zeit gefunden haben. Einen schönen Tag in Berlin.
Kampeter: Herzlichen Dank!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
[*] Anm. d. Red.: In der Sendefassung sprach Steffen Kampeter an diesen Stellen versehentlich von "Monaten" und bat nach dem Interview um eine Korrektur: Gemeint waren Wochen. Wir haben diese Änderung im Text vorgenommen.