Ein Mann um die 50 sitzt in einer Leipziger Straßenbahn und hustet, mit geschlossenem Mund, möglichst leise. Trotzdem erntet er verstohlene Blicke. Es ist März. Die Corona-Pandemie ist in Deutschland angekommen. Es gelten Ausgangssperren und Kontaktverbote, wer nicht raus muss, um zu arbeiten, soll zu Hause bleiben.
Am Stadtrand steigt der Mann bei einer riesigen graugelben Halle zusammen mit einem Dutzend anderer Fahrgäste aus. Auf dem Bürgersteig davor bleibt er stehen und zündet sich eine Zigarette an.
"Hallo, Jennifer Stange, Deutschlandfunk, darf ich Sie kurz..." - "Nein" - ".. was fragen?"
Noch ein paar hastige Züge an der Zigarette, dann verschwindet er hinter den Drehkreuzen des Leipziger Amazon Logistikzentrums. Für die Logistik-Arbeitskräfte des Konzerns lohnt es sich gerade mehr als sonst zur Arbeit zu gehen: Befristet gibt es in der Coronazeit mehr Geld: Zwei Dollar plus pro Stunde in den USA, in Deutschland und einigen anderen europäischen Ländern sind es zwei Euro mehr.
Ein Gewinner der Krise
Darüber freuen sich die rund 1.500 Mitarbeiter in Leipzig, sagt Betriebsrat Jens Lämmerhirt, aber: "In gewissen Maße ist das ja ein gefährliches Spiel, weil man damit Leuten einen Anreiz gibt, die sich nicht gut fühlen, die eventuell Symptome haben, egal ob jetzt in Richtung Corona oder andere Krankheiten, einen Anreiz gibt, sich zur Arbeit zu schleppen. Also das haben manche in der Vergangenheit wirklich gemacht, in der Weihnachtszeit, wo es diesen Anwesenheitsbonus gab, da haben sich manche wirklich zur Arbeit geschleppt."
Der Onlineversandhandel mit Hauptsitz in den USA zählt zu den Gewinnern der Coronakrise. Während weltweit Läden schließen müssen, steigt bei Amazon die Nachfrage und der Aktienkurs klettert auf Rekordhoch. Amazon bietet alles, was Menschen in guten wie in schlechten Zeiten brauchen können. Genau das sorgte in den vergangenen Wochen weltweit für Konfliktstoff. Nach COVID-19-Infektionen an mehreren Standorten forderten Mitarbeiterinnen in Frankreich, Italien und Spanien zumeist vergeblich den Vertrieb nicht lebenswichtiger Produkte einzustellen, um die Mitarbeiterinnen zu schützen. In Leipzig sind dem Betriebsrat Lämmerhirt bisher keine Infektionen bekannt:
"Bei unseren Mitarbeitern ist alles dabei, von ‚Das ist völlig übertrieben‘, bis ‚Man müsste viel mehr machen an Schutzmaßnahmen‘. Also, es ist alles bunt durchmischt. Leute, die panische Angst haben, die sich dann zum Teil gegenseitig angehen, ‚Wie könnt ihr hier noch zu dritt in einem Auto zur Arbeit kommen? Das geht doch nicht, ihr könnt doch nicht!‘ Bis hin zu Leuten, die auch selbst wenn du sagst: ‚Bitte halte die zwei Meter Abstand‘, das nicht machen oder dir eventuell noch näher kommen."
Keine Angaben zu Infektionen
Doch in Deutschland ist es vergleichsweise ruhig: keine Proteste, keine aufgebrachten Gewerkschafter. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Standorten in Bayern, Rheinland-Pfalz und Niedersachsen berichten allerdings von Infektionsfällen. Die zuständigen Gesundheitsämter wollen dazu keinen Angaben machen. Beim Amazon-Standort Winsen in Niedersachsen soll es laut Mitarbeiterinformationen Ende April mindestens 68 Infektionsfälle gegeben haben. Der zuständige Landkreis Harburg bestätigt mehrere Fälle, will aber keine Zahlen nennen. Das Unternehmen selbst verweigert gegenüber dem Deutschlandradio jegliche Angaben zum Thema.
"Eines ist natürlich klar, dass, wenn man einfach sehr viel höheren Frequenzen, was das Treffen anderer Menschen angeht, ausgesetzt ist, führt natürlich zu einem höheren Risiko."
Infektionsrisiko innerhalb der Gesellschaft ungleich verteilt
Gerald Pruckner ist Professor am Institut für Volkswirtschaft an der Universität Linz und leitet die Abteilung Gesundheitsökonomie. Er ist davon überzeugt, dass das Infektionsrisiko innerhalb der Gesellschaft ungleich verteilt ist.
"Ganz konkret, die einen machen Homeoffice, die anderen können kein Homeoffice machen, weil das einer bestimmten Gruppe vorbehalten ist."
Nach Umfragen des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung arbeiteten Anfang April nur 27 Prozent der Beschäftigten von zu Hause und das lässt ahnen: Millionen Menschen gehen während des Shutdowns arbeiten wie zuvor.
"Das Risiko, sich mit COVID-19 zu infizieren, ist für niedrigere sozioökonomische Gruppen größer. Zum einen hat das etwas zu tun mit dem Arbeitsplatz, auf dem man arbeitet: Niedrigere sozioökonomische Gruppen haben gewisse Jobs, die andere nicht haben."
Das Robert-Koch-Institut nennt zwei Faktoren, die das Coronavirus gefährlich machen: Alter und Vorerkrankungen. Der Ökonom Pruckner nennt einen dritten: den sozioökonomischen Status. Das ist ein Begriff aus der Soziologie, der ein Bündel von Merkmalen beschreibt, die das Leben zentral mitbestimmen. Dazu zählen: Bildung und Beruf, gesellschaftliches Ansehen und Lebensstil, sowie Einkommen und Besitz.
"Es ist wissenschaftlich belegt, dass niedrigere sozioökonomische Gruppen einen schlechteren Gesundheitszustand haben, eine kürzere Lebenserwartung und höhere Anfälligkeit haben für chronische Erkrankungen wie Diabetes, kardiovaskuläre Erkrankungen. Und damit sind wir schon eindeutig bei den Risikofaktoren für COVID-19."
Ist das so, spiegeln sich sozioökonomische Ungleichheiten in den Infektionszahlen wieder? Belegen lässt sich das bisher nicht. Zumindest nicht anhand der Daten des Robert-Koch-Instituts. Hier werden zwar Geschlecht und Alter erhoben, mit Ausnahme von Personal in medizinischen Einrichtungen, allerdings weder Branche noch Beruf, oder sonstige Statusinformationen erfasst.
Kontrastmittel für soziale Ungleichheit
In Frankfurt am Main wirkt der Lockdown wie ein Kontrastmittel für soziale Ungleichheit. Die Anzüge, die Krawatten und Kostüme der Bankerinnen, der Broker und Berater sind von den Straßen verschwunden. Die Frauen und Männer, die sich morgens in einem Frankfurter Linienbus unterhalten oder telefonieren, tun das mehrheitlich nicht auf Deutsch. Bei den Männern mit leuchtenden Helmen und Warnwesten auf den Baustellen im Zentrum ist es ähnlich. Dort arbeitet Radu, der seinen Nachnamen nicht sagen will, er hat sich in einem Einkaufszentrum einen Kaffee geholt.
"Angst hat jeder, will niemand krank stehen irgendwo in einem Krankenhaus."
Reporterin: "Was wäre dann?"
Radu: "Wir haben nicht mehr Geld, ohne Geld kannst du nicht mehr überleben und so weiter. Gehen wir zum Arbeiten, manchmal ist schwer, aber ohne Arbeit ist ein großes Problem."
Radu ist selbständig und fürchtet in der Coronakrise in erster Linie den wirtschaftlichen Schock und erst an zweiter Stelle eine COVID-19-Erkrankung. Wenn er nicht mehr arbeitet, sei schnell die Existenz seiner Familie bedroht. So gehe es vielen seiner Landsleute, sagt der gebürtige Rumäne. Sie arbeiteten als Entsandte für Firmen aus ihren Heimatländern, als Zeitarbeiter, Leiharbeiter, Minijobber, Tagelöhner - ohne oder nur mit geringem Kündigungsschutz und häufig nicht sozial- und somit auch nicht krankenversichert.
Hans-Joachim Rosenbaum, Chef der Industriegewerkschaft Bauen-Agrar-Umwelt in Hessen, fordert seit Jahren gleiche Rechte für ausländische Beschäftigte, die vor allem aus südosteuropäischen EU-Staaten kommen und im Baugewerbe und in der Landwirtschaft arbeiten.
"Menschen melden sich und sagen, ‚Ich bin krank, ich glaube, ich habe Corona, ich habe Fieber, ich trau mich aber nicht, mich krank zu melden‘. Weil das nicht nur bedeutet, dass sie vielleicht 60 Prozent hätten, oder wie andere Menschen Entgeltfortzahlungen bekommen, sie bekommen ihre Kündigung. Sie werden einfach rausgeschmissen, sie wissen nicht, wann sie ihr nächstes Geld bekommen, sie wissen nicht - weil die Transitstrecken dicht sind - wie sie nach Hause kommen."
Dumpinglöhne und niedriger Arbeits- und Gesundheitsschutz seien eine hohe Belastung und ein großes Risiko für alle Beschäftigten. Ausländische Beschäftigte in prekären Beschäftigungsverhältnissen brächten sie aber immer häufiger in eine schwierige soziale Lage. Weil sie ihre Rechte nicht kennen würden, weil der Zugang zum Gesundheitssystem für sie erschwert sei, weil Arbeitgeber ihre Pflichten vernachlässigten. Gerade jetzt zeige sich: Was schon immer ungesund war, werde in der Coronakrise gefährlich.
"Wenn man in Sammelunterkünften lebt, das heißt Vierbettzimmer, Sechsbettzimmer, Achtbettzimmer, das heißt sehr, sehr eng zusammen ist, das heißt eine gemeinsame Dusche nutzt, gemeinsame Küche nutzt, dann ist der Abstand eigentlich nicht mehr gewährleistet. Und wenn dort einer erkrankt oder in Verdacht gerät, Corona zu haben, dann ist eine Isolation fast unmöglich."
Und so häufen sich die Fälle von COVID-19 Infektionen vor allem in Betrieben, die auf solche Sammelunterkünfte setzen: Auf einer Baustelle des Bahnprojekts Stuttgart 21 mussten schon im April 90 Kontaktpersonen von infizierten Bauarbeitern in Wohncontainern unter Quarantäne gestellt werden. Im nordrhein-westfälischen Landkreis Coesfeld musste der Fleischproduzent Westfleisch vergangene Woche auf gerichtliche Anordnung hin schließen: Mehr als 200 Mitarbeitende waren positiv auf das Virus getestet worden.
Wenn der Mindestabstand kaum eingehalten werden kann
Am Fließband und in den Umkleiden habe es Probleme gegeben, den Mindestabstand von 1,50 Metern einzuhalten. Und: Viele der Arbeiter sind nach Angaben von Westfleisch mehrheitlich in Wohnungen mit drei, vier oder fünf Personen untergebracht. Freddy Adjan, stellvertretender Vorsitzender der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten:
"Die Unterbringung in Sammelunterkünften ist ein wesentlicher Faktor, der zur Verbreitung von Infektionen beiträgt. Das war auch schon vor einem Jahr so, als es in der Fleischwirtschaft eine Hepatitis-Infektion gab."
In Gruppenunterkünften sind auch viele Erntehelfer untergebracht. Und auch auf den Feldern wurde das Corona-Virus schon zum Problem: Ein 57-jähriger Rumäne starb bereits am Karsamstag auf einem Spargelhof in Baden-Württemberg. Laut Recherchen der Wochenzeitung "DIE ZEIT" ohne überhaupt einen Arzt gesehen zu haben. Postmortem wurde eine Coronainfektion diagnostiziert. Dabei sind die Regeln für ausländische Saisonkräfte eigentlich besonders streng: So dürfen Erntehelferinnen dem Maßnahmenkatalog von Bundeslandwirtschafts- und Bundesinnenministeriums zufolge die Höfe in den ersten 14 Tagen nach ihrer Ankunft nicht verlassen, danach nur unter Auflagen. Wäsche und Geschirr müssen bei mindestens 60 Grad gereinigt, Abstandsregeln eingehalten werden. Besuche sind nicht erlaubt.
BAU-Gewerkschafter Rosenbaum: "Die Situation war immer schon dort sehr bescheiden für die Menschen. Nicht nur in der Coronazeit, sondern gerade jetzt müsste man ein ganz besonderes Auge auf die Höfe haben."
Dort, wo ausländische Arbeitskräfte eingesetzt werden, werfen Gewerkschaften den Behörden mangelnde Kontrollen vor. Was die Gewerbeaufsicht betrifft, bestätigt das Wirtschaftsministerium Baden-Württemberg auf Nachfrage des Deutschlandfunks, dass Betriebe im April kaum kontrolliert wurden. Zum Schutz der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, so die schriftliche Begründung. In Zukunft soll sich das ändern. Die fehlenden Kontrollen werfen Fragen auf: Wird hier mit zweierlei Maß gemessen? Werden riskante Arbeitsbedingungen für Beschäftigte im Niedriglohnsektor für vertretbar gehalten, während die Aufsicht dieser Arbeitsbedingungen für die Mitarbeiter im öffentlichen Dienst als kaum zumutbar gilt?
Soziologen gehen davon aus, dass sich gesellschaftliche Ungleichheit auch entlang unveränderbarer Eigenschaften von Individuen spiegelt. Jan Paul Heisig, Leiter der Forschungsgruppe Gesundheit und soziale Ungleichheit am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung.
"Wir sehen, dass es über den sozioökonomischen Status, den wir über die Bildung oder das Einkommen messen, hinaus andere sozusagen horizontale Unterschiede gibt."
Neben Alter und sozialer Herkunft zählen vor allem Geschlecht und Migrationsstatus zu den sogenannten horizontalen, also den unveränderlichen, Faktoren. Man geht davon aus, dass sie in Wechselwirkung mit dem sozioökonomischen Status stehen.
"Also, dass zum Beispiel Personen mit Migrationshintergrund in bestimmten Tätigkeiten überrepräsentiert sind, stark zum Beispiel in der fleischverarbeitenden Industrie, dass Frauen überrepräsentiert sind in Pflegeberufen. Die Folge ist ein erhöhtes Infektionsrisiko."
Nach der Krise wieder Business-as-usual?
In Deutschland gibt es dazu bislang keine Studienergebnisse. Befunde aus Norwegen legen allerdings einen Zusammenhang zwischen niedrigem sozioökonomischen Status und einem erhöhten Infektionsrisiko nahe: Während die ersten Coronafälle im wohlhabenden Westen von Oslo auftauchen und auf Skiurlaube in Österreich und Reisen nach Italien zurückgeführt werden können, verbreitet sich das Virus schneller im ärmeren Ostteil der norwegischen Hauptstadt und trifft hier überdurchschnittlich häufig die migrantische Bevölkerung.
Zwei Ursachen nennt das Peace Research Institute Oslo: Migrantinnen arbeiten häufiger in systemrelevanten Berufen mit hohem Ansteckungsrisiko. In Jobs, die außerdem unterdurchschnittlich bezahlt sind mit der Konsequenz, dass die Betroffenen meist in kleineren Wohnungen und dadurch mit größerer Ansteckungsgefahr leben. Diese Ergebnisse könnten auch auf Deutschland übertragbar sein, denn die Ausgangslage ist vergleichbar. In beiden Ländern erledigen laut einer OECD-Studie aus 2018 Migrantinnen und Migranten etwa 40 Prozent der Jobs im Niedriglohnsektor. Für beide Länder gilt auch, dass ein Großteil der Beschäftigten in systemrelevanten Berufen unterdurchschnittlich bezahlt ist.
In Deutschland fallen in diesem Segment vor allem Geschlechterunterschiede ins Auge. Dieses Problem kennt auch Berna Kocak. Ursprünglich aus der Türkei nach Deutschland gekommen, arbeitet sie seit 24 Jahren im Uniklinikum Essen als Reinigungskraft. Dass Frauen wie sie durch die Coronakrise einem größeren Risiko ausgesetzt sind, zeichnet sich inzwischen ab: Laut einer Studie des Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung liegt der Frauenanteil in systemrelevanten Berufen insgesamt bei knapp 60 Prozent.
"Die Kollegen, die im Coronabereich arbeiten, die sind eins und zu eins betroffen. Die haben dann mehr Angst, zum Beispiel in Zentralnotaufnahme, die müssen dann diese Untersuchungsbereiche mehrere Male am Tag reinigen, also Grundreinigung machen nach jedem Patient und die haben mehr Kontakt mit den Coronapatienten."
Kocak ist im Uniklinikum Essen auch Personalrätin. Obwohl das Risiko für fast alle, die im Krankenhaus arbeiten, gleich hoch sei, hatten sie und ihre Kolleginnen den Eindruck, mehr um Schutzkleidung kämpfen zu müssen als das Pflegepersonal und die Ärztinnen und Ärzte, als die ersten COVID-19 Infizierten kamen. Die Pressestelle des Krankenhauses antwortet darauf lediglich, dass es in der Versorgung zu keinem Zeitpunkt Engpässe gegeben habe. Kocak sagt: Die Angst unter den Reinigungskräften sei groß gewesen.
"Die Kolleginnen haben sich dann mehr geäußert: Für das wenige Geld, das ich kriege, muss ich mein Leben auf’s Spiel setzen und kann sein, dass ich Viren nach Hause bringe, und dann ist auch meine Familie in Gefahr."
Doch selbst unter den Reinigungskräften im Uniklinikum Essen würde eine Infektion mit dem Virus nicht alle gleichermaßen, sondern manche härter als andere treffen: Personalrätin Berna Kocak ist direkt bei der Klinik angestellt. Sie bekommt für das Reinigen der Flure, Krankenzimmer, OP-Säle und der Coronastation im Uniklinikum deutlich mehr Geld als diejenigen, die bei der universitätseigenen Tochterfirma arbeiten. Für dieselbe Arbeit. Gerade in der Coronazeit sei diese Ungleichheit bei steigendem Druck unerträglich geworden. Kocak will, dass alle Reinigungskräfte gleich viel Geld bekommen. Die Geschäftsleitung lehne das bisher ab, aber in der gesamten Belegschaft gebe es viel Unterstützung.
"Die haben dann so Solidaritätsfotos uns geschickt, solche Fotos. Da steht auch: Mehr Zeit und Lohn zum Reinigen. Wir stehen an eurer Seite." Berna Kocak bedeutet das viel. Ob die Menschen auch sie gemeint haben, als sie auf ihren Balkonen standen und für diejenigen geklatscht haben, auf die es in der Coronakrise ankommt, weiß sie nicht.
Nicole Mayer-Ahuja, Professorin für Arbeitssoziologie an der Universität Göttingen, befürchtet, dass die in der Hochzeit der Coronakrise entstandene Debatte um die Arbeitsbedingungen und faire Löhne im Gesundheitswesen schnell vergessen sein und dem Business-as-usual weichen könnte. Sie sagt: Anerkennung und öffentliche Aufmerksamkeit seien zwar ein guter Anfang, tatsächlich aber verschlechterten sich die Arbeitsbedingungen gerade:
"Das heißt aber auch gleichzeitig, dass man in Anführungsstrichen 'beweist', dass man eben die Arbeitsbedingungen noch weiter verschärfen, den Druck noch weiter erhöhen kann und alles dann schon irgendwie geht. Und aktuell sehen wir tatsächlich, dass damit experimentiert wird, mit noch weniger Personal noch längere Schichten zu fahren."
Die erste Verschärfung des Arbeitsrechts gab es schon mitten in der Krise. Anfang April haben das Bundesarbeits- und das Gesundheitsministerium die sogenannte COVID-19-Arbeitszeitverordnung erlassen. Damit dürfen in Krisenzeiten zwölf-Stunden-Schichten für die systemrelevanten Berufe zulässig sein.
"Meine persönliche Einschätzungung wäre, man muss tatsächlich diese Grundsatzfragen stellen und man muss im nächsten Schritt die Beschäftigten dafür auch organisieren, damit sich wirklich etwas verändert."