Heute vor fünf Jahren sprach Angela Merkel einen Dreiwort-Satz, der sie über Jahre hinweg begleiten oder auch verfolgen sollte. "Wir haben so vieles geschafft. Wir schaffen das." Bezogen war der Satz auf die Aufnahme und Integration der Geflüchteten, die damals in großer Zahl nach Deutschland kamen. Herbert Brücker ist Migrationsexperte des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung und findet, Angela Merkels Ankündigung hat sich als zutreffend erwiesen.
Birgid Becker: Integration auf dem Arbeitsmarkt löst nicht alle Integrationsprobleme, aber sehr viele. In Deutschland leben derzeit 1,8 Millionen Menschen, die als Schutzsuchende gekommen sind, 1,1 Millionen davon seit 2015. Wie viele konnten am Arbeitsmarkt unterkommen?
Herbert Brücker: Ja, wir gehen davon aus, dass nach fünf Jahren ungefähr 50 Prozent einen Job haben. Für die Gruppe, die jetzt 2015 gekommen ist, ist diese Schwelle noch nicht ganz erreicht worden. Die haben am Jahresende 2019 gut 40, vielleicht 45 Prozent erreicht. Wegen Corona wird es dieses Jahr etwas weniger sein. Aber im Grundsatz ist die Integration auf dem Arbeitsmarkt besser verlaufen als bei Flüchtlingen in der Vergangenheit.
"Wir haben eine ganze Menge geschafft"
Becker: Nun weisen sie ja selbst durchaus darauf hin, dass die Arbeitsmarktchancen für Geflüchtete nicht die allerbesten sind, was zum Teil einfach in der Natur der Sache liegt. Eine Flucht ist ja etwas anderes als ein zielgerichteter Einwanderungsprozess. Wo stehen wir?
Brücker: Ja, ich würde sagen, wir sind ziemlich weit vorangekommen. Also wir haben eine ganze Menge geschafft, und Sie müssen sehen: Die Erwerbstätigenquoten von Deutschen stehen bei etwa 70 Prozent. Die haben 2005 auch nur bei 50 Prozent gelegen. Aber insofern sind diese 50 Prozent schon ein ziemlich großer Erfolg. Was mich überrascht hat: Die Flüchtlinge bringen überwiegend keine beruflichen Ausbildung mit, weil ein duales Ausbildungssystem, wie wir es in Deutschland kennen, in den Herkunftsländern nicht vorhanden ist. Aber trotzdem arbeitet die Mehrheit, etwa 56 Prozent, als Fachkräfte oder in akademischen Berufen. Das heißt, auch qualitativ ist eigentlich die Integration auf dem Arbeitsmarkt gut vorangekommen.
Becker: Unterdessen ist ja einiges verbessert worden bei den Verfahren für geflüchtete Menschen. Was war da nach ihrer Einschätzung besonders effektiv?
Brücker: Ja, ich glaube, es sind am Anfang einige Sachen richtig gemacht worden. Wir hatten in der Vergangenheit sehr, sehr lange Asylverfahren. Das gilt noch für diejenigen, die 2014 oder 2013 angekommen sind. Da hat das in der Regel anderthalb, zwei Jahre gedauert. Die Verfahren wurden stark verkürzt, und das hat wesentlich dazu beigetragen, dass mit der Integration früher begonnen werden konnte. Das Zweite, was richtig war, dass man Sprachkurse angeboten hat, das war vor 2015 nicht möglich. Und je besser die Sprachkenntnisse, umso besser läuft natürlich die Integration überall im Arbeitsmarkt, im Bildungssystem. Man hätte das noch besser machen können, indem man früher anfängt. Aber im Schnitt fangen die Flüchtlinge ein bis anderthalb Jahre nach der Ankunft mit den Sprachkursen an. Aber immerhin, dass man das gemacht hat, das hat stark geholfen.
"Vorsicht mit kulturellen Erklärungen"
Becker: Wie sieht es aus mit der Integrationsfähigkeit, wenn wir unterscheiden zwischen geflüchteten Männern und geflüchteten Frauen? Es wird ja oft angeführt, dass es schwerer möglich sei, weibliche Geflüchtete in den Arbeitsmarkt zu bringen. Ist das ein Problem der unterschiedlichen Kulturen? Oder woran liegt es?
Brücker: Also erstmal muss man konstatieren, dass das so ist. Also wir haben Erwerbstätigenquoten von Frauen, die etwa bei einem Drittel von denen von Männern liegen. Also Männer sind schon sehr, sehr weit vorangekommen bei der Arbeitsmarktintegration, bei den Frauen hängt es noch. Wir haben uns das mit der Kultur sehr genau angeguckt. Also wir haben viele Fragen gestellt. Ist es wichtig für Frauen, erwerbstätig zu sein für die Gleichberechtigung? Wie wichtig ist es überhaupt erwerbstätig zu sein? Ist es ein Problem, wenn Frauen mehr verdienen als Männer? Und wir kommen da bei sehr ähnlichen Werten raus wie in der deutschen Bevölkerung. Wir haben noch ein Zweites gemacht. Wir haben uns die häusliche Arbeitsteilung angeguckt: Also: Wer macht mehr in der Kinderversorgung? Wer macht mehr Hausarbeit? Da haben wir ein starkes Gendergefälle. Frauen, geflüchtete Frauen machen da vielmehr als geflüchtete Männer. Aber wenn wir das dann mit den deutschen Haushalten vergleichen, dann kommen wir dann auch wieder zu ähnlichen Werten. Also ich wäre wir vorsichtig mit den kulturellen Erklärungen. Was wir vor allen Dingen finden, ist, dass geflüchtete Frauen sehr viel mehr Kinder als deutsche Frauen haben, also im Durchschnitt. Wenn sie Kinder haben, drei Kinder - und 75. Prozent der geflüchteten Frauen haben Kinder. Und das sind die Bereiche, wo die Erwerbstätigen-Quoten auch bei deutschen Frauen stark untergehen. Aber ich vermute, dass da der Schlüssel liegt - und auch in der Kinderbetreuung - der Schlüssel liegt für eine bessere Integration von geflüchteten Frauen in den Arbeitsmarkt, aber auch in andere gesellschaftliche Bereiche.
Becker: Wenn wir das nach Branchen unterteilen, in welchen Bereichen, in welchen Branchen sind Geflüchtete hauptsächlich untergekommen? Wo haben sie hauptsächlich Fuß fassen können?
Brücker: Es sind überwiegend Branchen, ja Nischen in den Dienstleistungsbereichen. Das sind Bereiche wie Gastronomie, manchmal auch das Reinigungsgewerbe, Sicherheitsdienste, aber auch in der Pflege, ja überhaupt im Gesundheitsbereich sind relativ viele Geflüchtete untergekommen. Im Transportgewerbe, Lagerei. Das sind alle Bereiche, wo die Nachfrage bis zum Ausbruch der Corona-Krise in Deutschland sehr, sehr stark war, wo die Beschäftigung überdurchschnittlich gewachsen ist. Also nicht nur bei den Geflüchteten, sondern generell. Wo wir seit 2010 etwa ein doppelt so starkes Wachstum der Beschäftigung beobachten im Vergleich zu anderen Berufen. Also in genau diese Bereiche sind sie gegangen. Aber das sind jetzt dummerweise die Bereiche, die besonders stark von der Krise betroffen sind.
Auswirkungen der Coronakrise
Becker: Wie sehr wirft denn die Coronakrise alle Integrationsbemühungen zurück?
Brücker: Sie hat massive Auswirkungen. Also es ist so, dass etwa vier Prozent der Geflüchteten ihre Jobs verloren haben, also von denen, die beschäftigt waren - im Vergleich zu einem Prozent im Beschäftigungsdurchschnitt und bei den Deutschen. Also es hat sehr viel stärkere Auswirkungen gehabt. Und das kann man eben zum Teil durch diese Branchenzusammensetzung erklären, zum Teil aber auch einfach dadurch, dass Geflüchtete häufig noch befristete Verträge haben, in Zeitarbeit sind. Manche machen auch erst ein bezahltes Praktikum und Ähnliches. Wir haben sehr häufig atypische Beschäftigungsverhältnisse, wie man das im Arbeitsmarkt-Jargon nennt. Und das führt dazu, dass dann diejenigen natürlich sehr viel stärker von der Krise betroffen sind. Also das gilt ganz generell, dass derjenige, der zuletzt eingestellt worden ist, häufig auch zuerst entlassen wird. Und das Phänomen trifft halt jetzt die Geflüchteten besonders stark,
Becker: Was in diesen fünf Jahren ja auch passiert ist. Wenn über Migration gesprochen wurde, dann hat man unterschiedslos Asylbewerber zusammengefasst mit mit Migration jedweder Art, mit Flucht, Arbeitsmigration. Migration überhaupt, das war alles Eins. Wie haben Sie das, wie hat das der Migrationsforscher erlebt?
Brücker: Völlig anders. Wir wussten von vornherein schon 2015, dass die Arbeitsmarktintegration von Flüchtlingen viel, viel schwieriger ist als von anderen Gruppen. Also jetzt jemand, der aus der Europäischen Union kommt, oder jemand, der über ein Visum zur Erwerbszwecken kommt, integriert sich viel schneller in den Arbeitsmarkt. Um das vielleicht mit einem Beispiel zu unterlegen: Also jemand, der über ein Visum zur Erwerbszwecken kommt oder aus der Europäischen Union kommt und keinen Berufsabschluss hat, hat deutlich bessere Arbeitsmarktchancen als ein Geflüchteter mit einem Hochschulabschluss. Also es ist so, es gibt eine Reihe von institutionellen Barrieren, da werden die Sprachkenntnisse schlechter, die Vorbereitung auf den Arbeitsmarkt ist schlechter. Und dann haben wir noch das Phänomen, dass jetzt die Ausbildung zwar im schulischen Bereich so am oberen Ende gar nicht so schlecht ist - wir haben allerdings auch einen erheblichen Anteil, der keine Schulen besucht hat oder nur Grundschulen besucht hat. Wir haben vor allen Dingen Defizite in der beruflichen Ausbildung, weil in den Herkunftsländern die Qualifikationen in der Regel durch Training on the job erworben wurden, und nicht durch Zertifikate, also durch strukturierte Ausbildungsgänge wie das bei uns üblich ist. Und das erweist sich dann natürlich für die Arbeitsmarktintegration in Deutschland als ein Nachteil.
Becker: Dennoch, Sie haben festgehalten: Fünf Jahre später ist etwa die Hälfte der Geflüchteten im Arbeitsmarkt angekommen. Von daher aus der Rückbetrachtung: Wie sehen Sie den Satz "Wir schaffen das"? Hat sich das als zutreffend erwiesen?
Brücker: Ja, ich würde sagen ja. Also gemessen an dem, was man erwarten konnte, ist es sogar ein Stück weit besser gelaufen. Also wir haben die Flüchtlinge besser integriert als in der Vergangenheit. Und das war nicht unbedingt zu erwarten, weil das wesentlich mehr waren und weil die Bildungsvoraussetzungen schlechter waren. Und das ist natürlich auch die Folge eines extrem hohen Engagements. Aber das waren einerseits viele staatliche Institutionen, die Arbeitsagentur, das Bamf, die ganzen Integrationskurse, die angeboten wurden. Aber es war auch das Engagement der Zivilgesellschaft, von vielen Ehrenamtlichen, der Unternehmen, Gewerkschaften und so weiter. Also, die ganze Gesellschaft hat sich eigentlich engagiert, also stärker als jemals in der Vergangenheit. Und auch wenn die Gesellschaft heute polarisiert ist, darf man nicht vergessen, dass sehr viele Leute in der Unterstützung aktiv waren. Und das hat natürlich geholfen.