Birgid Becker: Die August-Statistik der Nürnberger Bundesagentur, die weist die geringsten Arbeitslosenzahlen in einem August aus seit der Wiedervereinigung. Die letzte Statistik ist das vor der Bundestagswahl. Man muss also schon genau hinsehen, um in der Statistik politischen Zündstoff zu entdecken.
Worüber die Statistik nichts aussagt, das sind die Schattenseiten auf dem Arbeitsmarkt: Befristete Arbeit, prekäre Arbeit, schlecht entlohnte Arbeit. Wie sehr kratzt das am Glanz der Statistik? Das habe ich den Arbeitsmarkt-Experten Alexander Spermann gefragt.
Alexander Spermann: Wir müssen uns jetzt mehr mit den Schattenseiten beschäftigen, insbesondere mit der Langzeitarbeitslosigkeit. Da beobachten wir, dass die Langzeitarbeitslosigkeit durch die konjunkturelle Entwicklung deutlich zurückgegangen ist, aber doch über einen relativ langen Zeitraum jetzt schon bei ungefähr einer Million verharrt. Das liegt auch daran, dass in diesen Bereich zu wenig investiert wird.
Becker: Wenn Sie sagen, die Langzeitarbeitslosigkeit verharrt bei etwa einer Million – da gibt es dieses seltsame Kontrastbild von etwa einer Million offener Stellen. Wie passt das zusammen?
Spermann: Das passt leider gut zusammen, weil die offenen Stellen nicht auf die Langzeitarbeitslosen passen. Langzeitarbeitslose sind typischerweise Menschen mit einer sehr geringen Qualifikation. Es sind auch sehr viel ältere dabei, es sind auch Frauen dabei, die in Teilzeit arbeiten können. Die offenen Stellen, wie wir sie haben, über eine Million, enorm viel, passen aber leider nur zu einem kleinen Bruchteil für die Arbeitslosen.
An den richtigen Stellschrauben drehen
Becker: Was fehlt an der Stelle? Ist Qualifikation der entscheidende Schlüssel, um da weiterzukommen?
Spermann: Qualifikation hilft nur in der mittleren Frist. In der kurzen Frist hilft bei den Langzeitarbeitslosen eine ganz intensive Betreuung durch die Jobcenter-Mitarbeiter, die für diese Betreuung auch noch besser ausgebildet werden müssen. Es hilft eine Suchtberatung, Schuldnerberatung, psychosoziale Beratung, um Vermittlungshemmnisse in der mittleren Frist auch wegzubringen. Und was auch helfen würde sind zeitlich befristete Anreize, finanzielle Anreize, um Jobs aufzunehmen. An diesen Stellschrauben könnte man drehen. Da wird noch zu wenig gedreht.
"Präventive Arbeitsmarktpolitik ist auch zu kurz gekommen"
Becker: Und bevor Arbeitslosigkeit entsteht, also das, was man unter dem Stichwort präventive Arbeitsmarktpolitik bezeichnet, was wäre da vorstellbar?
Spermann: Präventive Arbeitsmarktpolitik ist auch zu kurz gekommen. Menschen, die Kompetenzen haben, die am Arbeitsmarkt nicht mehr gefragt sind, sollten unterstützt werden. Deshalb muss man intensiv diskutieren über eine Lotsenfunktion der Bundesagentur für Arbeit an dieser Stelle, weil der Weiterbildungsmarkt sehr, sehr undurchsichtig ist. Da braucht man jemanden, der einen an die Hand nimmt und der auch Finanzierungsmöglichkeiten aufzeigt für die Weiterbildung, um dann erst gar nicht arbeitslos zu werden oder nur relativ kurz arbeitslos zu sein, weil Kompetenzen sich angeeignet werden, die am Arbeitsmarkt gefragt sind.
Becker: Wenn die Deutschen eines nicht fürchten müssen, dann, dass ihnen die Arbeit ausgeht. So wird heute der Chefvolkswirt der KfW Zeuner in den Agenturen zitiert. Wirklich nicht? Sie haben ja schon mal beschrieben, dass es einen Doppelschlag aus Digitalisierung und Demografie geben könnte.
Spermann: Diesen Doppelschlag, den gibt es. Das Schöne ist, dass der Doppelschlag zusammen passt in dem Sinne, dass Demografie eine höhere Produktivität der Arbeitnehmer erfordert, weil ja immer weniger für Ältere arbeiten müssen, und zum anderen Digitalisierung eine höhere Produktivität aber auch ermöglicht.
Becker: Und dass Digitalisierung Arbeitsplätze frisst, das befürchten Sie nicht?
Spermann: Digitalisierung frisst natürlich Arbeitsplätze. Wir sind im Strukturwandel. Aber wir sind hin zu einem Strukturwandel, hin zu einer Dienstleistungsgesellschaft, in der immer neue, uns bisher noch nicht bekannte, zusätzliche Dienstleistungsjobs entstehen werden. Da können wir sicher sein: Die Arbeit wird uns nicht ausgehen.
"Zunächst mal wird es Verlierer geben"
Becker: Und wenn das alles doch anders funktioniert beziehungsweise nicht funktioniert, wenn Digitalisierung sich doch als Jobkiller erweist, dann gäbe es gedanklich ja einen ganz großen Schritt voran, und der würde besagen, dass dann ein bedingungsloses Grundeinkommen helfen könnte, das ja nicht nur Die Linke favorisiert, sondern auch Ökonomen wie zum Beispiel Thomas Straubhaar. Was spricht dagegen?
Spermann: Zunächst mal wird es Verlierer geben dieses Strukturwandels, der durch die Digitalisierung auch stark befördert wird. Die gibt es, die kann man nicht leugnen. Und für diese Verlierer, dauerhaften Verlierer des Strukturwandels – es werden aber nur wenige Hunderttausend sein, bei denen alle anderen arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen versagen werden -, für die brauchen wir einen sozialen Arbeitsmarkt und kein bedingungsloses Grundeinkommen.
Ein bedingungsloses Grundeinkommen würde ja nur dann finanzierbar sein, wenn man den kompletten Sozialstaat abschaffen würde, und dann hätten wir überhaupt keine Betreuung mehr für die Verlierer. Dann hätten wir überhaupt keine Unterstützung mehr für die Personen, die den Strukturwandel nicht so gut bewältigt haben. Das halte ich für verantwortungslos.
Becker: Wenn man sich nun erinnert: Ein zweiter oder womöglich dritter Arbeitsmarkt, das war vor wenigen Dekaden noch unter den meisten oder für die meisten Ökonomen ein wahres Teufelszeug. Wenn Sie nun sagen, es muss diese sozial geförderte Arbeit geben, was für eine Art von gedanklichem Wechsel hat denn da stattgefunden?
Spermann: Zunächst wurden ja in der Vergangenheit im zweiten Arbeitsmarkt Menschen geparkt, die bei einer intensivsten Betreuung ganz leicht oder zumindest nicht besonders schwer auch wieder den Schritt in Richtung Arbeitsmarkt geschafft hätten.
Bei unserer Annahme, dass eine sehr, sehr intensive Betreuung in Zukunft stattfinden wird, wird es dennoch Personen geben, aber nur einen sehr kleinen Kreis, die den Weg auf den ersten Arbeitsmarkt nicht schaffen werden. Das müssen wir zur Kenntnis nehmen, das müssen wir akzeptieren. Nach zehn Jahren Hartz IV wissen wir, dass es diesen harten Kern von Menschen geben wird mit mehrfachen Vermittlungshemmnissen, und diesen Menschen müssen wir auch eine Option anbieten und die heißt sozialer Arbeitsmarkt. Die heißt sozialversicherungspflichtige Beschäftigung, möglichst im privaten Arbeitsmarkt bei hundertprozentiger Lohnkostensubventionierung für die Unternehmen, die diese Menschen einstellen.
Das ist eine flankierende Maßnahme im Rahmen einer Vollbeschäftigungsstrategie. Vollbeschäftigung ist ein realistisches Ziel. Dazu ist vieles notwendig wie beispielsweise mehr Arbeitsanreize für Frauen, für Ältere, ein Einwanderungsgesetz, um auch Migranten aus nicht EU-Staaten anzuziehen, Migranten mit Qualifikation, was uns bisher noch kaum gelingt. Dazu gehört aber auch als flankierende Maßnahme ein sozialer Arbeitsmarkt, um hier auch den Verlierern, den wenigen Verlierern eines Strukturwandels eine Option zu ermöglichen, am Arbeitsleben teilzunehmen.
"Vollbeschäftigung ist keine Fata Morgana"
Becker: Und diese Aussicht auf Vollbeschäftigung, das noch mal nachgefragt, das halten Sie nicht für eine Fata Morgana, sondern tatsächlich für möglich?
Spermann: Vollbeschäftigung ist keine Fata Morgana, aber sie kommt nicht von alleine.
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