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Arbeitsmarkt
Weiterhin keine konkreten Begrenzungen für Leiharbeit

Es wird weiterhin keine zeitliche Begrenzung für Leiharbeit geben, das hat das Bundesarbeitsgericht (BAG) entschieden. Damit ist nun der Gesetzgeber wieder gefordert, beim sogenannten Arbeitnehmerüberlassungsgesetz nachzubessern, erklärt die BAG-Präsidentin Ingrid Schmidt.

Bundesarbeitsgerichtpräsidentin Ingrid Schmidt im Gespräch mit Christoph Heinemann |
    Christoph Heinemann: Das Wort Arbeitnehmer-Überlassungsgesetz besteht aus 32 Buchstaben. Das ist eindrucksvoll und erklärt, warum Ausländer an der deutschen Sprache bisweilen verzweifeln. Aber dieser Bandwurm dient einem vorgeblich oder tatsächlich guten Zweck: Arbeitnehmer auf Zeit und unterhalb der Tarifbedingungen zu beschäftigen – nicht um schlechtere Arbeitsplätze zu schaffen, sondern um ihnen etwas Besseres als die Arbeitslosigkeit anzubieten und die Unternehmen zu entlasten. Soweit die Theorie.
    Rund 780.000 Menschen arbeiten hierzulande als Zeitarbeitnehmerinnen und Arbeiter. Das Bundesarbeitsgericht hat in dieser Woche entschieden: Leiharbeiter haben auch dann kein Recht auf eine Festanstellung, wenn sie lange Zeit, wenn sie zwei, drei Jahre in einem Betrieb eingesetzt werden. Zur Erinnerung kurz: 2003 hatte Rot-Grün die Leiharbeit geregelt, 2011 besserte Schwarz-Gelb nach, indem immerhin das Wort "vorübergehend" eingefügt wurde als zeitliche Begrenzung für die Leiharbeit. Aber was heißt vorübergehend? Darum ging es in dem Urteil dieser Woche, und das habe ich Ingrid Schmidt gefragt, die Präsidentin des Bundesarbeitsgerichts, die gestern im Deutschlandfunk zu Gast war.
    Ingrid Schmidt: Das ist ein Mysterium des Rechts der Leiharbeit, das vom Bundesarbeitsgericht bisher noch nicht entdeckt worden ist.
    Heinemann: Ein Mysterium ist ein Geheimnis, und wir entschlüsseln es: Es kann heißen monatelang, jahrelang, jahrzehntelang nach jetziger Rechtsprechung.
    Schmidt: Das Mysterium wird der Gesetzgeber lüften müssen und konkrete Zeitangaben machen müssen.
    Heinemann: Wieso muss ein Arbeitgeber, der Leiharbeiter jahrelang beschäftigt, im Augenblick keine Rechtsfolgen, keine Sanktionen befürchten?
    Schmidt: Weil das Gesetz so geregelt ist. Der Gesetzgeber hat bewusst von einer Sanktion bei nicht vorübergehender Arbeitnehmerüberlassung abgesehen.
    Heinemann: Was vermuten Sie dahinter?
    Schmidt: Ich schätze mal, dass es zu keiner Einigung im Gesetzgebungsverfahren gekommen ist und deswegen diese Sanktion nicht behandelt worden ist.
    Heinemann: Und wie geht ein Gericht dann mit einem solchen Gesetz um?
    Schmidt: Es spielt den Ball zum Gesetzgeber zurück und sagt, mach deine Hausaufgaben und setz eine konkrete Grenze.
    Heinemann: Und das haben Sie konkret jetzt mit diesem Urteil am Dienstag getan?
    Schmidt: Das hat der 9. Senat des Bundesarbeitsgerichts am vergangenen Dienstag getan, ja.
    Heinemann: Bis wann muss das geregelt sein und mit welcher Grenze?
    Schmidt: Eine zeitliche Vorgabe, bis wann das geregelt werden muss, hat das Gericht nicht gemacht und hat es auch nicht machen können. Aber ich denke, der Gesetzgeber hat den Wink mit dem Zaunpfahl verstanden und wird jetzt bei der künftigen Novelle des Arbeitnehmer-Überlassungsgesetzes darauf eingehen.
    Heinemann: Künftige Novelle – im Koalitionsvertrag soll vorübergehend 18 Monate bedeuten als zeitliche Begrenzung für Leiharbeit. Wird ein Arbeitgeber dann bestraft, wenn er Leiharbeiter länger beschäftigt? Müssen da Sanktionen eingebaut werden in das Gesetz?
    Schmidt: Es müssen Sanktionen eingebaut werden in das Gesetz, weil das Unionsrecht, das diesem Gesetz zugrunde liegt, Sanktionen vorschreibt. Allerdings hat der Gesetzgeber die Entscheidungsbefugnisse darüber, welche Sanktionen das sein sollen. Er kann entscheiden, dass ein Arbeitsverhältnis zum Entleiher zustande kommt, er kann entscheiden, dass Schadenersatz an den Leiharbeitnehmer zu zahlen ist, er kann entscheiden, dass der Verleiher, der dauerhafte Überlassung betreibt, seine Verleiherlaubnis verliert, und vieles andere mehr ist denkbar. Die Werkzeuge kennt der Gesetzgeber und er muss sich für eines entscheiden.
    Heinemann: Welches Werkzeug ist das wahrscheinlichste?
    Schmidt: Das wird der Gesetzgeber in seiner Weisheit herausfinden.
    Heinemann: Sie haben gerade gesagt, dem Gesetz lag ein Unionsrecht, ein Recht der Europäischen Union zugrunde. Aber das war doch bislang auch schon, und trotzdem ging es ohne Sanktionen.
    Schmidt: Ja das spricht dafür, dass dieses Gesetz bisher nicht die Bedingungen des Unionsrechts erfüllt hat und damit nicht unionsrechtsgemäß gewesen ist.
    Heinemann: War dieses Gesetz, das rot-grüne und das schwarz-gelbe Gesetz, schlampig gearbeitet?
    Schmidt: Es spricht nicht viel dafür, dass es schlampig gearbeitet war, sondern es spricht einiges dafür, dass es in diesem Punkt zu keiner Einigung gekommen ist und deswegen der Gesetzgeber besser keine Regelung als eine solche vorgenommen hat, die dann politisch nicht durchsetzbar gewesen ist.
    Heinemann: Frau Schmidt, wie kann es sein, dass ein Landesarbeitsgericht Ja sagt, langfristige Leiharbeit hat Rechtsfolgen, und das Bundesarbeitsgericht Nein? Sie stützen sich doch auf die gleichen Gesetze.
    Schmidt: Das ist so. Rechtsprechung ist konstitutionell uneinheitlich, sagt das Bundesverfassungsgericht. Die Richter müssen nicht alle einer Meinung sein und nicht alle zum gleichen Auslegungsergebnis kommen, und deswegen gibt es auch die obersten Gerichtshöfe des Bundes, die bei unterschiedlichen Auffassungen der Vorinstanzen die letztgültige dann festlegen.
    Heinemann: Ist das Nein aus Erfurt eine Ohrfeige für die untere Instanz?
    Schmidt: Nein. Das war ja eine offene Rechtsfrage, und wie zu vielen Rechtsfragen lassen sich juristisch viele Meinungen vertreten, und die Entscheidungsbefugnis des Bundesarbeitsgerichts liegt in diesem Punkt halt darin, dass es sagt, diese oder jene Meinung ist die für alle geltende.
    Heinemann: Das Bundesverfassungsgericht liest dem Gesetzgeber ja gelegentlich unüberhörbar die Leviten. Welche Möglichkeiten haben Sie am Bundesarbeitsgericht, zumindest mal mit dem Zaunpfahl zu winken?
    Schmidt: Ob das Bundesverfassungsgericht Leviten liest, das möchte ich bezweifeln.
    Heinemann: So kommt es zumindest manchmal in Berlin an, sagen wir mal so.
    Schmidt: Es kann verfassungsgeleitet die Handlungsspielräume des Gesetzgebers einengen. Diese Möglichkeit haben wir nicht. Wir haben das Recht, wie es der Gesetzgeber uns vorgibt, erst mal auszulegen. Wenn wir zu dem Ergebnis kommen, das ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, dann müssen wir es auch im Einzelfall anwenden. Und wenn der Gesetzgeber mit unserer Auslegung nicht zufrieden ist, kann er hergehen und ein neues Gesetz machen. Diese Möglichkeit ist ihm ja beim Bundesverfassungsgericht verwehrt.
    Heinemann: Aber im Fall dieser Woche haben Sie ganz klar gesagt, lieber Gesetzgeber, hier muss was passieren?
    Schmidt: Ja. Der Druck, der hier entsteht, der ist aber nicht vom Gericht gewollt, sondern wenn das Gericht feststellt, dass der Gesetzgeber eine Aufgabe nicht erledigt hat, die er eigentlich hätte erledigen müssen, dann geht der Auftrag an ihn zurück, ja.
    Heinemann: Werden Grundsatzurteile, etwa auch Ihres Gerichts, für Sie rasch genug in Gesetze übertragen?
    Schmidt: Das lässt sich so allgemein nicht sagen. Ich meine, es ist so: Gesetzgebung muss auch eine gewisse Zeit haben, zu vernünftigen Lösungen zu kommen, viele Meinungen zu hören und dann in der Lösung auch zu überzeugen – in der Gestalt, dass man sie vorher auch diskutiert in einer breiten Öffentlichkeit. Es ist nicht so, dass Schnellschüsse zu besseren Ergebnissen führen als solche, die mit der politischen Diskussion behandelt worden sind.
    Heinemann: Das war jetzt die Erklärung. Und die Bewertung, rasch genug oder zu langsam?
    Schmidt: Die Geschwindigkeit des Gesetzgebers wird doch wohl offensichtlich vom politischen Handlungsdruck bestimmt, und je größer der Druck ist, desto schneller ist der Gesetzgeber.
    Heinemann: Gut. Aber Sie warten ja auch in Ihrem Gericht und Ihre Kollegen, die so ein Urteil jetzt geschrieben haben. Geht denen das schnell genug, oder sagen die, mein Gott, das dauert ja wieder lange?
    Schmidt: Subjektive Erwägungen der Richterinnen und Richter können da auch keine Rolle spielen. Wir sind da in einer völlig passiven Rolle. Wir können nur die Gesetze anwenden, die uns der Gesetzgeber vorgibt, und wenn er nicht aktiv wird, dann haben wir eben kein Gesetz.
    Heinemann: Das Bundesarbeitsgericht wird 60 Jahre alt im kommenden Jahr. Sie haben viele wegweisende Urteile gefällt, entschieden. Welche Bereiche des Arbeitsrechts bedürfen der Rechtsentwicklung? Wo brennt es arbeitsrechtlich in Deutschland vor allem?
    Schmidt: Momentan brennt es bei der Behandlung von Equal Pay. Equal Pay im Bereich der Leiharbeit ist ja gleicher Lohn für gleiche Arbeit, sowohl der Stammbelegschaft als auch des Leiharbeitnehmers. Das hört sich so griffig an, ist aber extrem schwer zu bestimmen: Was ist denn Equal Pay überhaupt, welche Gehaltsbestandteile zählen dazu, betrifft es auch den Urlaub, wie ist es mit der Urlaubsabgeltung. Da gibt es eine Fülle von Rechtsfragen, die sich in diesem Bereich stellen, die mittlerweile einen Senat des Bundesarbeitsgerichts völlig lahmlegen.
    Heinemann: Das ist das zentrale Arbeitsfeld, auf das Sie sich konzentrieren?
    Schmidt: Das ist momentan das zentrale Arbeitsfeld.
    Heinemann: Frau Schmidt, als Sie 1994 beim Bundesarbeitsgericht begannen, waren Sie die einzige Richterin. Sie sind jetzt die erste Frau an der Spitze des Bundesarbeitsgerichts und es gibt auch sonst nicht sehr viele Frauen in hohen juristischen Positionen. Benötigt Deutschland da eine Frauenquote?
    Schmidt: Man würde es sich wünschen, dass keine Frauenquote gebraucht wird, aber offensichtlich ist es doch der Fall, wobei ich die ganze Diskussion um die Frauenquote so richtig nicht verstehe. Es gibt ja Bereiche, in denen wir uns an Quoten gewöhnt haben, ohne sie zu hinterfragen – denken Sie an den Regionalproporz in der Politik. Es findet jeder in Ordnung, dass alle Landesverbände von Parteien irgendwo Berücksichtigung finden müssen. Nur wenn es um die Berücksichtigung von Frauen in bestimmten Ämtern geht, dann wird das auf einmal zum Politikum. Finde ich merkwürdig!
    Heinemann: Die Antwort auf meine Frage war also ja?
    Schmidt: Ja.
    Heinemann: Danke, Frau Schmidt. – Ingrid Schmidt, die Präsidentin des Bundesarbeitsgerichts. Das Gespräch haben wir gestern Nachmittag aufgezeichnet.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.