In vielen Unternehmen gilt bis heute: Vertrauen geht vor Stempeluhr. Die Beschäftigten sorgen selbst dafür, dass sie die vereinbarte Stundenzahl pro Woche einhalten. Doch die tatsächliche Arbeitszeit muss nach Anweisung der Gerichte transparent erfasst werden – es ist ein Schritt, der wohl auch die hohe Zahl der Überstunden eindämmen dürfte. Im Jahr 2022 waren es bundesweit 702 Millionen unbezahlte Überstunden.
Das Arbeitsministerium reagiert mit seinen aktuellen Gesetzesplänen auf Urteile des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) und des Bundesarbeitsgerichts (BAG), die eine Erfassung der Arbeitszeiten verlangt hatten. Zuletzt hatte das Bundesarbeitsgericht im September 2022 entschieden, dass Arbeitgeber ein System zur Erfassung sämtlicher Arbeitsstunden einführen müssen. Das Gericht setzte damit ein Urteil des EuGH aus dem Jahr 2019 um. Juristisch herrscht also Klarheit. Nun soll das noch in ein Gesetz gegossen werden.
Wie gehen Unternehmen derzeit mit der Arbeitszeit um?
Offenbar gibt es sehr unterschiedliche Modelle in den Verwaltungen, Büros und Fabriken. Sechs von zehn Unternehmen bundesweit (59 Prozent) erfassen einer aktuellen Umfrage zufolge die Arbeitszeit ihrer Beschäftigten. Ein Drittel (33 Prozent) der Firmen tat das bereits vor dem entsprechenden Urteil des Bundesarbeitsgerichts, 26 Prozent begannen danach damit, wie eine Umfrage des Digitalverbands Bitkom ergab. 28 Prozent der befragten Firmen wollen noch dieses Jahr damit beginnen, zwölf Prozent wissen noch nicht, ab wann sie das tun werden.
Was soll sich bei der Arbeitszeiterfassung ändern?
Ein erster Referentenentwurf aus dem SPD-geführten Bundesarbeitsministerium (der noch nicht die Ressortabstimmung innerhalb der Bundesregierung durchlaufen hat) sieht vor, dass Arbeitgeber künftig sicherstellen sollen, die tägliche Arbeitszeit ihrer Beschäftigten elektronisch aufzuzeichnen. Eine bestimmte Art der elektronischen Aufzeichnung will das Arbeitsministerium demnach nicht vorschreiben. Neben bereits gebräuchlichen Zeiterfassungsgeräten kämen auch andere Formen der elektronischen Aufzeichnung mithilfe von elektronischen Anwendungen wie Apps auf einem Mobiltelefon in Betracht, heißt es im Entwurf. Onlinetools wie Arbeitszeitrechner sind also offenbar möglich.
Der Arbeitgeber soll laut dem Entwurf dazu verpflichtet werden, Beginn, Ende und Dauer der täglichen Arbeitszeit der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer jeweils am Tag der Arbeitsleistung elektronisch aufzuzeichnen. Die Aufzeichnung soll aber auch durch die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer selbst oder durch einen Dritten erfolgen können, zum Beispiel einen Vorgesetzten. Die Daten müssen für zwei Jahre aufbewahrt werden – und die Arbeitnehmer dürfen sie jederzeit einsehen.
Allerdings sollen Ausnahmen vereinbart werden können. Die nicht-elektronischen Formen der Erfassung müssten in einem Tarifvertrag oder in einer Betriebs- oder Dienstvereinbarung festgelegt werden. Auch die Möglichkeit von Vertrauensarbeitszeit, also Tätigkeiten ohne exakte Dokumentation der täglich geleisteten Arbeitsstunden, soll weiter möglich sein. Damit sollen flexible Arbeitsmodelle nicht zu sehr eingeschränkt werden.
Was will der Minister mit dem Gesetz erreichen?
Anders als von manchen beschrieben wolle er keine neue Stechuhr, sagte Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) dem SWR-Hörfunk. Vielmehr gehe es um Arbeitsschutz und darum, dass Beschäftigte nicht um ihren Lohn geprellt würden. Irgendwann müsse „ja auch mal Feierabend sein“, betonte Heil. Er habe einen Weg gefunden, dass die Umsetzung des Gerichtsurteils nicht zu unnötiger Bürokratie führe, Flexibilität solle weiter ermöglicht werden.
Welche Kritik gibt es an den Plänen?
Die FDP will Heils Pläne laut Medienberichten so nicht mittragen. Die Arbeitszeiterfassung müsse zwar europarechtskonform geregelt werden, sagte FDP-Fraktionsvize Lukas Köhler am 19.04.2023 der „Süddeutschen Zeitung“. "Es muss aber den Arbeitgebern überlassen bleiben, auf welche Weise die Arbeitszeit erfasst wird. Die Bedingungen in einzelnen Betrieben sind viel zu unterschiedlich, als dass die digitale Zeiterfassung für alle praktikabel und mit vertretbarem Aufwand umsetzbar wäre", wurde Köhler zitiert.
Oliver Zander, Hauptgeschäftsführer des Arbeitgeberverbandes Gesamtmetall, nannte den Entwurf einen „Gruselkatalog“ an Bürokratie, Widersprüchlichkeiten und Fortschrittsverweigerung. Von Arbeitgeberseite wird unter anderem moniert, die sogenannte Vertrauensarbeitszeit werde mit dem Vorhaben faktisch abgeschafft. Auch hätten die Tarifvertragsparteien in den vergangenen Jahren für eine neue, offenere Arbeitszeitkultur gekämpft und große Fortschritte erzielt. Die minutengenaue Erfassung der Arbeitszeit ist bei den Arbeitgebern nicht willkommen.
Es könne nicht angehen, "dass Ausnahmen nur für tarifgebundene Betriebe gelten sollen. Damit werden Unternehmen zweiter Klasse geschaffen", sagte der Geschäftsführer des Verbandes Deutscher Maschinen- und Anlagenbau (VDMA), Thilo Brodtmann.
Wer ist für die gesetzliche Regelung?
Die Vize-Chefin der Linksfraktion im Bundestag, Susanne Ferschl, sagte, Arbeitszeiterfassung sei ein wirksames Instrument für den Gesundheitsschutz und gegen Lohnraub. Deswegen dürfe es keine Ausnahmen geben.
Der DGB hatte bereits die Feststellung des Bundesarbeitsgerichts zur Erfassung der Arbeitszeiten als lange überfällig bezeichnet. „Die Arbeitszeiten der Beschäftigten ufern immer mehr aus, die Zahl der geleisteten Überstunden bleibt seit Jahren auf besorgniserregend hohem Niveau“, sagte DGB-Vorstandsmitglied Anja Piel. Arbeitszeiterfassung sei kein bürokratischer Selbstzweck, sondern Grundbedingung, damit Ruhe- und Höchstarbeitszeiten eingehalten werden.
Quellen: Volker Finthammer, dpa, AFP, tei