Gorleben im Mai 1980. 33 Tage "Republik Freies Wendland". Am 4. Juni die Räumung. Bulldozer, Hubschrauber, ein Heer von Polizisten und Bundesgrenzschützern. Wenn der junge Archäologe Attila Dézsi ein paar Fundstücke aus seiner "Schatzkammer" an der Uni Hamburg holt, dann scheint das Geschehen von damals wieder lebendig zu werden.
"Das ist ein Gasmasken-Filter von der Polizei. Also ich denke mal von der Polizei. Es kann natürlich auch weiterhin von den Leuten sein, die dort waren, aber es kamen noch weitere Elemente hinzu wie Kabelbinder, mit denen man festgenommen wird."
Was damals in Gorleben geschah, ist natürlich durch Aussagen von Beteiligten und Filmaufnahmen bestens dokumentiert. Attila Dézsi aber will mehr wissen, will die Geschichte der legendären "Republik Freies Wendland" auch anhand von Bodenfunden dokumentieren. Und gegebenenfalls neu erzählen. Auch wenn es dabei meist nur um ganz alltägliche Dinge geht:
"Diese Plastikbecher und Konservendosen, das sind allein 700 Stück Einwegbesteck und ich glaube, 400 Konservendosen. Und da kann man schon denken, okay, das könnte jetzt auch von den Rationen sein von der Polizei. Genau, Butterreis mit Hühnerfrikassee. Auch ganz viel Waschmittel oder halt auch Kondom-Verpackungen und solche Dinge, die halt ja so Alltagsmomente widerspiegeln, die da auch stattgefunden haben."
Das Fach verändert sich
Aber: Ist das wirklich Archäologie? Für Archäologie-Professor Reinhard Bernbeck von der Freien Universität Berlin ist das genau die richtige Richtung:
"Im internationalen Bereich hat sich diese Wissenschaft seit ungefähr 25 Jahren sehr rasch in eine Richtung entwickelt, wo sie von sich selbst sagt: Wir sind die Wissenschaft des Materiellen. Egal von wann. Uns interessiert jetzt nicht mehr, wie alt das ist. Gestern ist auch schon alt. Sondern das ist die Wissenschaft der Interpretation des Materiellen. Und ganz wichtig: Dass muss überhaupt nicht unterm Boden sein."
Auch Reinhard Bernbeck merkt den Unterschied: Seine Steinzeitfunde aus Vorderasien sind für Fachleute höchstinteressant. Wissenschaftliche Laien hauen sie dagegen kaum vom Hocker. Ganz anders ist das, wenn er in Berlin Überreste aus der Nazi-Zeit ausgräbt:
"Ich habe nie soviel Interesse aus dem öffentlichen Bereich an Ausgrabungen gefunden wie bei einer Archäologie, bei der es sich um das 20. Jahrhundert dreht. Da ist immer großes Interesse da. Und das ist was ganz anderes, ob ich sage, ich arbeite, was ich auch tue, über das 5. Jahrtausend in Turkmenistan. Insofern ist das schon etwas, was weiterentwickelt werden sollte. Wir sind an einem Punkt angelangt, wo sich das Grundverständnis verschiebt. Und es verschiebt sich dieses Fach in Richtung Moderne und in Richtung einer zeitlichen Unabhängigkeit."
Skurrile Funde
Allerdings gibt es auch ziemlich skurrile Beispiele für diese "Archäologie der Gegenwart". So haben Wissenschaftler zum Beispiel die Überreste einer Hippie-Villa in den USA erforscht. Ein Klumpen übel stinkendes Fett aus der Kanalisation hat es in ein Londoner Museum geschafft. Und ein alter VW-Bus musste dran glauben, damit Studierende mehr über die Fahrgäste erfahren konnten, weiß die Steinzeit-Archäologin Daniela Hofmann von der Uni Hamburg:
"Dann konnte man zum Beispiel nachweisen, dass in diesem VW-Bus dann auch Weihnachtsfeiern stattgefunden haben. Da gab's dann ein Stück von Lametta und Überreste von Bierkorken und so weiter. Und da konnten Hundehaare rausgezogen werden, wo dann jemand seinen Hund spazierengefahren hat und so."
Aber egal ob bahnbrechende Erkenntnisse oder nicht: Die "Archäologie der Gegenwart" spricht die Menschen möglicherweise mehr an als die Altertumsforschung. Und genau darin sieht Daniela Hofmann eine große Chance für die Weiterentwicklung ihres Fachs:
"Dass man die Grenze aufbrechen kann zwischen Wissenschaft und was man normalerweise vielleicht so als Laien bezeichnet. Also wir müssen uns weiter in die Öffentlichkeit wagen, als wir das bisher getan haben. Einerseits, um immer motivierten Nachwuchs zu haben. Aber andererseits auch, um zu zeigen, dass wir eben durchaus auch gesellschaftlich und gesellschaftskritisch auch selber was bewegen können."