Julia Macher: Ricardo Bofill, der Weg zu Ihnen führt wortwörtlich durch Ihr Werk – und zwar durch eines, das immer noch zu den berühmtesten zählt: "La Fábrica", die alte Zementfabrik, die Sie 1973 gekauft und umgebaut haben. Ist das Werk noch heute repräsentativ für Ihre Arbeit?
Ricardo Bofill: Ja, zu hundert Prozent. Ich lebe und arbeite in dieser Fabrik. An diesem Schreibtisch, in diesem fast leeren, weißen Raum, habe ich alle Projekte meines Lebens begonnen. Hier fühle ich mich am wohlsten, kann mich zurückziehen, isolieren und mein Mönchsleben führen: mit Disziplin und strengen Arbeitszeiten. Sogar als wir in Paris und anderswo Studios hatten, entstanden die Ausgangsprojekte für die Ideen immer hier.
Japanische Sauna und Lustgarten
Macher: Als man mich in Ihr Büro geführt hat, hatte ich das Gefühl, einen eigenständigen Organismus, eine abgeschlossene Welt zu betreten....
Bofill: Die Fabrik ist ein unvollendetes Werk, in der viele unterschiedliche Stile zusammen treffen. Sie ist ein Stück dekonstruierte, traiditionelle Industriearchitektur. Wir haben mit ganz unterschiedlichen Ästhetiken und Stilen gearbeitet, die das Ergebnis meiner Reisen, meiner Entwicklung sind. Es gibt surrealistische Elemente und romantische, wie die überall wuchernden Pflanzen. Es gibt klassizistische und historizistische Elemente. Jeder Raum hat seinen eigenen Charakter. Wir haben eine japanische Sauna und einen Garten der Lüste, einen kubischen Raum und die Kathedrale, in der wir arbeiten.
Macher: In "Visions of Architecture", dem Buch, das der Gestalten Verlag über Ihr Lebenswerk herausgibt, steht, Sie seien ein Nomade.
Bofill: Dieses Etikett klebt seit 1975 an mir. Weil ich einer der ersten spanischen Architekten war, die gereist sind und im Ausland gearbeitet haben, in Kanada, in China, in Russland, in Indien. Unsere Architektur aber kann immer einem Ort zugeordnet werden und ist fest an ihm verankert. Ich mache keine "internationale Architektur", bei der an einem Schreibtisch in London oder Frankfurt ein Projekt für Saudiarabien entsteht. Ich muss in das Land fahren, das Land kennen, es verstehen. Ganz egal, was in den Zeitschriften steht: Im Land selbst wird man für das Werk beurteilt, das man dort hinterlassen hat.
Verbindung von Gebäude und Umgebung
Macher: In Frankreich und Spanien haben Sie Siedlungen entworfen, die sich immer auf die Stadt, auf das mediterrane Verständnis von Stadt beziehen...
Bofill: Mein Vater war ein großbürgerlicher, katalanischer Architekt, meine Mutter eine italienische Jüdin aus Venedig. Meine Kultur ist das Mittelmeer, in ihr bin ich aufgewachsen. Ich bin auf das Lycée Francais gegangen, habe in Paris und Italien gelebt. Meiner Meinung nach ist die wirklich gute Architektur bis ins 18. Jahrhundert am Mittelmeer entstanden, genauso wie Kunst und Malerei. Die traditionelle, die Volksarchitektur - und die gehobene Architektur des Mittelmeers: Das sind die beiden Architekturtypen, die mich interessiert und geprägt haben.
Macher: Ausgehend von der Architektur des Mittelmeers, von der mediterranen Stadt haben Sie immer wieder über das Verhältnis von privaten und öffentlichem Raum nachgedacht. Wie versuchen Sie das, auf Ihre Projekte zu übertragen?
Bofill: Es gab in der Architekturtheorie den Ansatz, nach der der öffentliche Raum das Ergebnis des Privaten ist und er da beginnt, wo die Fassade endet. Ich dagegen habe immer versucht, beides miteinander zu verschränken und beim Entwurf immer beides gleichzeitig zu gestalten – das Gebäude und die Straße.
Macher: Gegenüber Ihrem Büro steht das Walden 7, eine Ihrer berühmten Wohnburgen. Spielt dieser Gedanke da auch eine Rolle?
Bofill: Das Walden ist ein Sonderfall. Da geht es um die Utopie einer ganzen Stadt in einem Gebäude. Wir haben nicht nur mit neuen Wohnmodellen, sondern auch mit neuen Eigentumsmodellen, mit neuen Familienmodellen experimentiert. Dem wollten wir mit einem Modulmodell, bei dem Bewohner zwei, oder drei Module horizontal oder vertikal bewohnen können, Rechnung tragen. Jede Wohnung ist anders.
Macher: Wissen Sie, wer heute in dieser Utopie lebt?
Bofill: Heute ist das sehr bürgerlich. Das ist eine sehr eingeschworene Gemeinschaft von Menschen, die stolz darauf sind, in diesem Denkmal zu wohnen, die sich aber in sich selbst eingeschlossen haben. Heute wäre ein Walden nicht mehr möglich.
"Ruhm interessiert mich nicht"
Macher: Warum?
Bofill: Das war ein Projekt des sozialen Wohnungsbaus, da sind die Vorgaben heute ganz andere. Beim Walden habe ich mich um alles gekümmert – Finanzierung, Bau, Preis und Verkauf der Wohnungen. Manchmal kommen Leute und sagen zu mir, sie hätten gerne ein Walden – aber das geht heute nicht.
Macher: Auf Instagram ist das Walden 7 immer noch eine der meist fotografierten Bauten – ebenso wie Ihr pinker Apartmentkomplex "La Muralla Roja" in Calp. Das brutalistische "Les Espaces d'Abraxas" war ein halbes Dutzend Mal Filmkulisse – unter anderem für die Verfilmung der Romantriologie "Tribute von Panem". Dass Ihre Bauten vor allem für ihre visuelle Monumentalität, für ihre spektakuläre Ästhetik bekannt sind – ärgert Sie das oder macht Sie das stolz?
Bofill: Ich bin in einer Lebensphase in der das Ego nicht mehr zählt und mich Ruhm nicht mehr interessiert. Als junger Mann war ich berühmt, danach habe ich einfach weitergemacht, meinen eigenen Stil, meine eigenen Prinzipien verfolgt – aber immer mit der Idee der Stadt dahinter. Jedes meiner Werke ist als Teil einer Stadt konzipiert.
"Ich glaube an Sterbehilfe"
Macher: Im Dezember werden Sie 80 Jahre alt – haben Sie über Ruhestand nachgedacht.
Bofill: Nein, ich werde nicht in Rente gehen. Ich habe eine Zeitlang mal versucht weniger zu arbeiten, aber das hat nicht funktioniert. Wenn man als Archtiekt seine Arbeit liebt, will man Projekte machen - eins nach dem anderen. Ich habe mein ganzes Leben lang Ideen entwickelt, Projekte gezeichnet – das werde ich bis zum Ende machen, bis zur Euthanasie – ich glaube an Sterbehilfe.
Macher: Ihr Büro RBTA soll ganz traditionell Familienunternehmen weitergeführt werden, von Ihren zwei Söhnen und Ihrer Frau. Eine beruhigende Perspektive?
Bofill: Es ist ein Versuch, Kontinuität zu schaffen – aber Ruhe schafft das nicht. Man weiß nie was passiert. Und um kreativ zu sein, braucht man Anspannung, braucht man kontrollierte Angst – sie sorgt für die notwendige Vitaliät, um etwas Neues schaffen zu können. Der Schöpfer muss immer an der Grenze zwischen Normalität und Wahnsinn stehen. Absolute Normalität und Ruhe ist für einen Kreativen unmöglich.
Ricardo Bofill: "Visions of Architecture"
Die Gestalten Verlag Berlin, 2019. 300 Seiten, 49,90 Euro.
Die Gestalten Verlag Berlin, 2019. 300 Seiten, 49,90 Euro.
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