Zarina, 1929 in Riga geboren und 2008 in Civita in Italien gestorben, war eine der hauptverantwortlichen Architekten bei der Erbauung der Wohnblöcke des Märkischen Viertels in Berlin in den 1960er-Jahren. Unmittelbar nach dem Mauerbau sollte dort Wohnraum für bis zu 50.000 Menschen entstehen. Zarina und ihrem damaligen Ehemann waren 1.148 zusammenhängende Wohneinheiten zugeordnet. Die Ehe wurde während der Bauzeit geschieden. In einer Zeit, in der die Architektur oft als rein männliches Fachgebiet gedacht wird, kommt Zarina eine Sonderstellung zu. Vor allem, weil sich ihr Arbeiten auch künftigen Generationen von Architekten eingeschrieben hat. Nach der Erfahrung in Berlin ging sie nach Rom und unterrichtete dort an der American Academy amerikanische Architekturstudenten, bis sie sich der Denkmalpflege in der Gemeinde Civita zuwandte, wo sie 2008 starb. Über das Leben, Arbeiten und den Einfluss dieser besonderen Architektin gilt es mehr zu erfahren.
Laura Helena Wurth ist Kunstkritikerin und Autorin. Sie hat Kulturwissenschaft an der Maastricht University in den Niederlanden und der Humboldt Universität zu Berlin studiert. Als freie Autorin arbeitet sie unter anderem für FAZ, NZZ, ZEIT und Deutschlandfunk Kultur. Sie ist Mitherausgeberin des Kunstmagazins One to(o) many und seit Juli 2023 Redakteurin bei Deutschlandfunk Kultur.
Das Märkische Viertel in Berlin wurde 2004 vom Berliner Rapper Sido als sein „Block” besungen und erlangte so innerhalb von Deutschland große Bekanntheit als Viertel, in dem das Leben sich besonders perspektivlos zeigt, in dem allerlei sonderbare Gestalten leben, in dem Drogen gedealt und Leute vermöbelt werden. Ein Viertel, das dem, was man aus dem amerikanischen Rap als „Ghetto” kannte, am nächsten kam. Ein Image, mit dem der damals aufstrebende Rapper aus dem Märkischen Viertel spielte.
Dabei war es einmal mit der Hoffnung auf ein besseres Leben für seine Bewohner geplant und gebaut worden. Ein Versprechen, das sich nicht einlösen sollte. Schon in den 1960er-Jahren, während das so genannte „MV“ noch geplant wurde, stand es bereits in der Kritik. Man vermisste soziale Räume: Spielplätze, Kneipen, Geschäfte, Kindergärten. All die Räume, die man zum Leben braucht, wenn Wohnen mehr ist, als in seinen eigenen vier Wänden zu sitzen.
1963 begann die Planung des Quartiers als eines der modernsten Wohnviertel überhaupt. 1974 waren die letzten der 17.000 Wohnungen für rund 50.000 Menschen fertig. Mehr als 35 deutsche und ausländische Architekten waren an der Planung und Umsetzung beteiligt. Die meisten von ihnen waren so jung, dass man sicher sein konnte, dass sie nicht für die Nazis gebaut hatten. Man wollte alles neu, anders und besser machen.
Unter den Architekten, die das Viertel planten, befand sich als einzige Frau auch Astra Zarina. Sie und ihr damaliger Ehemann Douglas Phillip Haner hatten Werner Düttmann, damals Senatsbaudirektor in West-Berlin, vermutlich 1960 auf ihrer Schiffspassage von den USA nach Europa kennengelernt und wurden direkt angeheuert. Zarina, 34 Jahre alt, mit amerikanischem Pass, bald darauf wohnhaft in Rom. Sie und Haner wurden mit der Planung von 1.148 Wohneinheiten beauftragt, dem größten zusammenhängenden Wohnblock des neu entstehenden Viertels.
Heute weiß man: Zarinas Entwürfe wurden von den verantwortlichen Architekten Georg Heinrichs, Hans Christian Müller und Werner Düttmann immer wieder verändert und so stark bearbeitet, dass von ihren ursprünglichen Ideen eigentlich nichts übrigblieb. In einem ihrer ersten Entwürfe formt sich aus den Wohneinheiten eine Art Innenhof und ebenerdig ist eine Ladenzeile untergebracht.
Das Fehlen von genau diesen sozial genutzten Räumen wurde später als größter Mangel des Märkischen Viertels identifiziert. Ein Mangel so groß, dass das Quartier sogar als komplett gescheitertes Wohnprojekt gilt. Und das schon während der Planungsphase. Die Menschen würden dort nicht richtig ankommen, hieß es. Tatsächlich vereinsamten viele, weil sie, aus ihren Altbauvierteln weggezogen, keinen Anschluss fanden, in der Presse las man von Suiziden. Doch die Herren hielten daran fest: Ein reines Wohnviertel brauche keine soziale Infrastruktur. Es liegt doch eine gewisse Ironie darin, dass genau diese sozialen Räume in Zarinas ursprünglichen Plänen vorgesehen waren und sie deren Wichtigkeit in ihrer späteren Arbeit auch immer wieder hervorhob.
Während der Planungsphase wurde die Ehe von Zarina und Haner geschieden und sie blieb allein verantwortlich. Um das Projekt abzuschließen, wurden ihr gleich zwei weitere Architekten zur Seite gestellt. Doch trotz seines frühen Ausscheidens aus dem Projekt war in einer Liste aller beteiligten Architekten, die der Senat für Bau- und Wohnungswesen noch während der Bauphase veröffentlichte, lediglich Haner gelistet, der Name Zarina fehlt darauf, wie der Architekturkurator Eduard Kögel schreibt.
„In einer weiteren Broschüre des Senats von 1975 werden alle Architekten und ihre Wohnbauprojekte ausführlich gewürdigt, die ausländischen Architekten sogar hervorgehoben, nur Astra Zarina blieb unbenannt“, schreibt Kögel.
Aus der Zeit des Baus des Märkischen Viertels stammen ihre Karikaturen und Collagen. Eduard Kögel hat sie recherchiert. Sie zeigen, mit wie viel Witz sie sich gegen diese eigentliche Unverschämtheit gewehrt hat, dass man ihr als ausgebildeter und bereits preisgekrönter Architektin so wenig zutraute. Als sie den Auftrag für das Märkische Viertel annahm, hatte sie gerade, als erste Frau überhaupt, den hochangesehenen Rome Prize der American Academy gewonnen und war auf dem Weg, sich dort mit einem zusätzlichen Fulbright Stipendium ihrer Arbeit zu widmen. Sie sollte ihr Leben lang in Rom bleiben.
Auf einem der Blätter zeichnete sie die drei verantwortlichen Architekten Heinrichs, Müller und Düttmann als etwas unförmige und behäbige Heilige Drei Könige. Überschrieben ist der 1968 entstandene Comic mit „Und nun beginnt die eigentliche Arbeit“. Darin sind die drei heiligen Könige fleißig damit beschäftigt Normen, Vorschriften und „Forza”, Kraft in einen riesigen Fleischwolf zu kippen, dazu eine Portion „Giallo“, also gelb - die Hauptfarbe des Märkischen Viertels. „Aber“, so sagt eine Sprechblase „nur 15 Prozent, nicht mehr und nicht weniger“. Aus dem Fleischwolf heraus kommen dann die einzelnen, normierten, kostengünstigen Baueinheiten des Quartiers.
Geiz, Kleingeistigkeit, das akribische Festhalten an Vorschriften und Normen kritisierte sie mit diesem Comic. Ein architektonisches Bürokratentum, das das Einhalten und Befolgen von Regeln über das menschliche Bedürfnis stellt. Dennoch wurde das Projekt pünktlich und fertig abgeliefert, wie sie sich später erinnerte. Dazu notierte sie konsterniert, dass sie dadurch weder reich noch berühmt geworden wäre. Vielleicht eines der Versprechen, das man ihr gemacht hatte. Einer der behäbigen drei Könige attestiert ihr in dem Comic, während er die Kurbel des Fleischwolfs dreht, dass sie „nicht sehr begabt dafür sei“. Ob für die Architektur selbst oder das Einhalten von Vorschriften, bleibt offen.
Das, was Zarina passiert ist, stellt eine Architekturwelt dar, die von Männern für Männer errichtet wurde. Kein Wunder also, dass man leicht denkt, der Kanon der Architektur würde nur von Männern bestimmt. Sicherlich gab es Frauen, die die Architektur beeinflusst haben. Doch ihre Bautätigkeit und ihr Einfluss wurden nicht kanonisiert, nicht festgehalten, der Nachwelt nicht vermittelt. Höchstens als leuchtende Ausnahmeerscheinung, nur selten als gleichberechtigte Teilnehmerin am Diskurs.
In der Kunstgeschichte gibt es momentan eine Bewegung, die den Kanon um all die vergessenen weiblichen Positionen ergänzt, sogar eine „Kunstgeschichte ohne Männer” hat die britische Kunsthistorikerin Katy Hessel verfasst. Dort wurde die Geschichte der Kunst nur durch weibliche Positionen erzählt. Man bekommt dadurch einen klareren Blick auf die Kunstgeschichte und es wird deutlich, dass das, was man als Kanon lange einfach hingenommen hat, auch ganz anders sein könnte.
In der Architektur müsste es nun etwas Ähnliches geben. Man sollte den Kanon um all die Frauen ergänzen, die immer schon gebaut haben, die schon immer Einfluss auf die gestaltete Umwelt genommen haben und die sich verdient gemacht haben, um die Architektur und ihre Geschichte.
Astra Zarina jedenfalls ist keiner der Namen, der schnell fällt, wenn es um bedeutende Architekten des 20. und 21. Jahrhunderts geht. Dabei war ihr direkter und vor allem indirekter Einfluss immens. Denn es lief nicht immer so schlecht wie beim Bau des Märkischen Viertels. Nach der Planungsphase des Projekts hat sie sich der Lehre und der Restauration, dem Erhalt von Gebäuden gewidmet. Beides Aufgaben, die in der Architektur einen weitaus größeren Stellenwert verdient hätten und heute größte Bedeutung erhalten.
Es muss geradezu einen Paradigmenwechsel geben, wenn wir über Architektur nachdenken und sie bewerten. Was ist gute Architektur, was ist schlechte? Wie bemessen wir Erfolg für einen Architekten? Ist man nur dann ein erfolgreicher Architekt, wenn man besonders viel gebaut hat? Schaut man sich die Preisträger des renommierten Pritzker-Preises der letzten Jahrzehnte an, dann könnte man diesen Eindruck gewinnen.
Sollte man nicht dahin kommen, nicht nur diejenigen, die besonders aufsehenerregend gebaut haben, als erfolgreich wahrzunehmen, sondern auch und gerade diejenigen, die Wissen weitergeben und - statt selbst etwas aus dem Boden zu stampfen - lieber im Bestand bauen. In einer Welt, in der der Bau und Erhalt von Gebäuden gut 40 Prozent des globalen CO2-Ausstoßes ausmachen, müssen wir die Erfolgsparameter dieser Profession grundsätzlich überdenken.
Genau dafür könnte die Lehre von Astra Zarina, ihr Wirken in Rom und ihr Einfluss auf ihre Studierenden ein richtungsweisender Ansatz sein. Einer, der zeigt, dass Architektur mehr ist, als die Summe der gebauten Einheiten, sondern auch das Nachdenken, Sprechen und Schreiben darüber, wie unsere Welt aussehen soll. In dieser Hinsicht kann man Astra Zarina ohne weiteres als eine sehr erfolgreiche Architektin bezeichnen.
Der Rome Prize sah eigentlich vor, dass sie ein Jahr in Rom bleiben sollte, danach folgte mit dem Fulbright Stipendium noch eines und dann ein weiteres. Bis sie sich schließlich ganz in Italien niederließ. Sie heiratete den amerikanischen Architekten Anthony Costa Heywood, der bei einer amerikanischen Firma in Rom arbeitete, und rief das „AIR“ Programm der Washington University ins Leben. Das „Architecture in Rome Program”, das bis heute existiert und etliche heute praktizierende Architekten nach Rom gebracht hat. Dieses Programm wirkte nicht nur auf einer fachlichen Ebene, sondern - schenkt man den Berichten glauben - vermittelte einen anderen, einen offeneren Blick auf das Leben und das Lernen. Zu ihren berühmtesten Studenten zählt sicherlich der Pritzker-Preisträger Steven Holl, der Zarina zu einer seiner bedeutendsten Lehrer*innen zählt und Teil der ersten Gruppe Studierender war, die 1970 von Zarina in Rom unterrichtet wurde. Anlässlich einer Ausstellung zu Zarinas Ehren 2019 an der Washington University betonte er nochmals den enormen Einfluss, den ihre Lehre auf ihn und alle anderen beteiligten Studierenden hatte. Man kann sich fragen, ob eine aktive Beschäftigung mit Rom, als Stadt, in der der Umgang mit der Vergangenheit so präsent ist, nicht jedem Architekten gut tun würde. Denn was man dort sehen und lernen kann, ist genau das, was in der heutigen Architektur mehr denn je gebraucht wird: Der Umgang mit der gebauten Vergangenheit und der Erhalt dessen, was Vorgänger geschaffen haben.
Zarina ist 1929 in Lettland geboren und 2008 in Rom gestorben. In diesen 79 Jahren fächert sich ein, wie man sagen würde und wie wir bereits bemerkt haben, „bewegtes” Leben auf. 1944 konnte die Familie von Riga nach Salzburg ausreisen, um der russischen Besatzung zu entgehen und überstand die Zeit bis Kriegsende bei Weißensee in Österreich, nahe der italienischen Grenze. Nach dem Krieg, als Lettland von den Russen besetzt worden war, zog die Familie weiter nach Esslingen bei Stuttgart in ein Lager für „Displaced People“. Während des Aufenthalts in Esslingen bewirbt Astra sich an der Technischen Universität in Karlsruhe und beginnt mit gerade einmal 16 Jahren ein Architekturstudium bei dem stilprägenden Egon Eiermann. Nach zwei Jahren bekommt die Familie die Erlaubnis, nach Amerika auszureisen, wo sie 1949 ankommen. Zunächst leben sie in der Nähe von Seattle auf dem Land.
Obwohl der Vater ausgebildeter Ökonom war, hatte er bei der Einreise angegeben, Bauer zu sein, weil er wohl dachte, dass man im Amerika der 1950er-Jahre nur wenig mit einem lettischen Wirtschaftswissenschaftler anfangen könnte. Das alles notiert Zarinas ehemalige Studentin Betty Torrell in einem Heft, das sie 2019 für eine Konferenz anfertigt, bei der sie über Zarinas Resilienz spricht. Nach einem Jahr erfolglosem Kohlanbaus zieht die Familie nach Washington und Zarina beendet ihr Grundstudium an der Washington University School of Architecture in Seattle 1953 mit Auszeichnung. Zur Fortführung bewirbt sie sich in Harvard, am Massachusetts Institute of Technology - dem MIT - und am Illinois Institute of Technology - den renommiertesten Architekturuniversitäten des Landes, wenn nicht der Welt. Sie wird an allen angenommen und entscheidet sich für das MIT, wo sie 1956 - wieder mit Auszeichnung - abschließt. Anschließend arbeitet sie vier Jahre lang für das Büro des Architekten Minoru Yamasaki, der später den Bau des World Trade Centers verantwortete. Sie bewirbt sich für den Rome Prize und das Fulbright Stipendium, gewinnt beides und zieht 1960 nach Rom. Wo sie ihr Leben lang bleibt.
Trotzdem hat sie eine enge Verbindung nach Amerika. Sie fährt regelmäßig zurück und unterrichtet ab 1965 als „Visiting Lecturer“ an der Washington University. Sie pendelt irgendwann so regelmäßig zwischen beiden Orten, dass sie keine Kleidung mehr mitnimmt, wenn sie fährt, sondern nur Unterlagen und Bücher. Alles andere hat sie an beiden Orten. Es ist eine absolut moderne, emanzipierte und transnationale Existenz, die Zarina sich in diesen Jahren aufbaut.
In dieser Zeit erfährt sie viel öffentliche Aufmerksamkeit, sie wird viel interviewt und kann ihre Forderungen an die Architektur, unter anderem, dass ein wesentlich größerer Fokus auf dem Erhalt liegen sollte, sogar in der New York Times formulieren. 1970 wird sie in einer Ausgabe der Frauenzeitschrift Cosmopolitan mit 25 weiteren in Rom lebenden Amerikanerinnen porträtiert.
Nachdem sie 1970 den Dekan der Washington University überzeugen konnte, dass sie viel besser in Rom unterrichten könnte, kommen kurzerhand sechs Studierende zu ihr nach Rom. Sie bringt sie erstmal in ihrem eigenen Apartment unter. Eigentlich als einmalige Sache gedacht, waren die zurückgekehrten angehenden Architekten so begeistert, dass das Programm fortgeführt wurde. Das AIR-Programm der Washington University gibt es, dank Astra Zarina, mittlerweile seit über 50 Jahren. Anfangs war es nur für Architekten gedacht, heute sind auch andere Wissenschaftszweige im Palazzo Pio untergebracht und ermöglichen Studierenden der Washington University einen Aufenthalt in der ewigen Stadt. Den Palazzo Pio sicherte sie 1981 für das bereits verstetigte Rom-Programm der Universität. Sie führte die Verhandlungen mit den italienischen Behörden, um der Universität die dauerhafte Nutzung des Gebäudes zu sichern und eine geringe Miete, wenn die Universität die Renovierungskosten des heruntergekommenen Palazzo aufbringen würde. Zarina verantwortete auch die Renovierungsarbeiten, die sie behutsam umsetzte. Wann immer sie einen Fenstergriff fand, den man noch verwenden konnte, wurde er aufpoliert und wieder eingebaut. Diese Wertschätzung und das Anerkennen des Wertes historischer Gebäude vermittelte sie auch ihren Studierenden.
Alles, was man noch gebrauchen konnte, wurde dem Haus wieder zugeführt. Ein ewiger Kreislauf. Von 1984 bis 1994 war sie schließlich Direktorin des neuen „Rome Center“ der Washington University und mittlerweile auch feste Professorin. 1999 unterrichtet sie ihre letzten Studierenden in Rom und setzt sich zur Ruhe.
In Rom muss sie begonnen haben, Architektur als etwas Anderes als „Bauen” begriffen zu haben und legte den Fokus auf den Erhalt und die Restaurierung. Es ist wohl ganz ähnlich wie mit der Prävention von Krankheiten: Es ist besser, die Krankheit von vornherein zu verhindern als sie heilen zu müssen. Was genau der Grund dafür ist, sich Zarinas Arbeit heute, wo man am besten nur noch im Bestand baut und ein Zusammenschluss verschiedener deutscher Architekten selbst erst letztes Jahr ein Baumoratorium forderte, wieder zuzuwenden.
1976 schrieb sie zusammen mit dem Fotografen Balthazar Korab ein, heute leider nur sehr schwer erhältliches Buch über römische Terrassen: I Tetti Di Roma. Diese Terrassen verbinden die Stadt oberirdisch miteinander und schaffen so auf einer anderen Ebene Verbindungen und Zugangswege. Darin zeigt sich deutlich die Idee davon, dass eine Stadt in Zarinas Wahrnehmung stark von den in ihr lebenden Gemeinschaften geprägt war und dass diese Gemeinschaften erst durch Gebäude und ihre Konstruktion zusammenkommen können. Diese Räume beschränken sich nicht auf die Ebenerdigkeit, sondern beziehen auch die Terrassen mit ein, die in Rom zu fast jedem Haus gehören und eine Art obere öffentliche Sphäre konstituieren. Einen Raum über dem Raum.
Und so wie sie über das Konzept „Stadt“ nachdachte, ging sie auch ihre Lehre an. Betty Torrell, die ehemalige Studentin, erinnert sich, dass Zarina jedem ihrer Studierenden einen traditionellen römischen Verwaltungsbezirk zuordnete, einen „Rione“, den derjenige drei Monate erforschen sollte. Am Ende sollte ein Rundgang für Zarina und die restlichen Studierenden dabei herauskommen. Sie sollten sich das Viertel auf allen Ebenen zu eigen machen, es beobachten, wahrnehmen, wie die Menschen sich darin bewegten, ihren Alltag gestalteten und das Viertel mit Leben füllten. Torrell selbst erinnert sich, dass sie stundenlang erfolglos um die Villa Farnesina, die damals noch nicht für die Öffentlichkeit zugänglich war und in der es besonders schöne Fresken von Raffael gibt, herumschlich, ehe sie an einer Gartentür klopfte und ihr tatsächlich jemand aufmachte, der sich um das Gebäude kümmerte. Diese Person konnte sie mit viel Mühe und Überzeugungskraft dazu bringen, die Tür auch zum Termin des Rundgangs zu öffnen. Eine andere Studentin sorgte durch unermüdliches Nachfragen dafür, dass man exklusiven Zugang zu einem bestimmten geschlossenen Gebäude des Vatikans bekam. So viel Eigeninitiative und Ehrgeiz kitzelte Zarina aus ihren Studierenden heraus, die sich laut Torrell nur allzu gern ihrer neuen Aufgabe widmeten.
Zarina ging es eben nicht darum, stur einem Curriculum zu folgen und Punkte abzuarbeiten. Sie lud die Studierenden zu Abendessen zu sich nach Hause ein, es gab Pilz-Risotto, Huhn mit Estragon und Bayrische Creme mit selbstgemachtem Granatapfelsirup. Alle Studierenden waren angehalten, beim Kochen zu helfen und die Abende wurden oft lang. Diese Zusammenkünfte, vielleicht erinnert man sich sogar selbst an ähnliche aus seiner eigenen Studienzeit, an denen man noch lange am Tisch saß und über alles Mögliche und vor allem das Unmögliche spricht, sind oft die prägendsten Momente, die, in denen man am meisten Ermutigung erfahren hat.
All das scheint Zarina auf eine Weise bewusst gewesen zu sein. Denn sie ermutigte ihre Studierenden, Rom nicht nur als Stadt mit Gebäuden und Einwohnern und einer Infrastruktur zu betrachten, sondern auch das Leben in Rom. Wie die Menschen sich in der Stadt bewegen, wie die Vergangenheit sich eingeschrieben hat in die Gegenwart. Nur so könne man verstehen, dass eine Stadt und wie sie aussieht, immer ein Produkt der entsprechenden Kultur ist, die sie hervorgebracht hat.
Doch neben Rom widmet Zarina ab den frühen 1960er-Jahren - man kann es so sagen - ihr Leben auch dem kleinen, ja winzigen Ort Civita Di Bagnoregio. Gute 120 Kilometer von Rom entfernt, circa zwei Stunden mit dem Auto. Diesen Ort, gemeinsam mit dem von ihr und ihrem Ehemann Anthony Costa Heywood initiierten Civita Institute, das sich um den Erhalt des Bergdorfes kümmert, kann man als ihr Vermächtnis betrachten.
Die Geschichte, wie sie dazu kam, dort das erste Haus, das vielmehr ein einziger Raum war, dort zu kaufen, hat sich fast schicksalhaft zugetragen.
Sie war zuvor schon ein paar Mal mit Freunden in Civita gewesen, diesmal, es ist 1961, machte sie einen Ausflug mit ihrer Schwester, die sie gerade besuchte, und einem befreundeten amerikanischen Architekten. Der Himmel zog sich zu, es gab einen heftigen Wolkenbruch, vor dem sie flüchtete und wahllos an einer Haustür klopfte. Von ihren Begleiterinnen keine Spur. Die Tür öffnete ein Kind, das sie in ein Haus führte, das eigentlich nur ein einziger kleiner Raum war, in dem ein großes Feuer loderte.
Es kam dazu, dass der Besitzer ihr anbot, den Raum zu kaufen. Und das tat sie. Sofort.
Sie begann, den verbliebenen Familien in dem kleinen Ort mit Restaurierungen und dem Erhalt ihrer Häuser zu helfen, und involvierte 1976 auch ihre Studierenden mit einem eigenen Programm der Washington University für italienische Bergdörfer. Heute wird der Raum, den es nach wie vor gibt, vom Civita Institute verwaltet. Unter anderem Steven Holl hat die Gründung großzügig unterstützt. Das „Northwest Institute for Architecture and Urban Studies in Italy“, heute nur noch Civita Institute, ist zwischen Civita und Seattle angesiedelt und widmet sich nach wie vor dem Erhalt Civitas.
Wie viele kleine italienische Bergdörfer war auch Civita kaum noch bewohnt, als Zarina in den frühen 1960er-Jahren dort ankam. Ursprünglich lebten einmal rund 2.500 Menschen in dem von den Etruskern auf weichem Tuffstein erbauten Ort, der auf einem Berg gelegen, die umliegenden Felder überblickte. Nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Einsetzen der Industrialisierung, die den Menschen dort kaum noch Arbeitsmöglichkeiten bot, waren es schließlich 1970 noch zwölf. Es gab keine Heizung, keine Wasserversorgung. Zarina war die erste, die in dieser von der Moderne bislang unberührten Stadt ein funktionierendes Badezimmer hatte.
Sie begann mit den übrig gebliebenen Familien ihre Häuser zu restaurieren, immer mit den Mitteln, die gerade zur Verfügung standen. Eine Sisyphos-Aufgabe, weil Civita immer wieder von Erdrutschen heimgesucht wird, die Teile der Häuser und des Grundes abtragen. „Bröselig wie ein frischer Ricotta“, sagte ein Bewohner einmal.
Es wurde Zarinas Lebensaufgabe, diesen Ort zu erhalten, zu erforschen und mit den Bewohnern zu erneuern. Anhand Civitas kann man sehen, wie sich Gegenwart und Vergangenheit verbinden lassen. Wie man Altes erhalten und trotzdem das Neue einziehen lassen kann. Gemeinsam mit ihren Studierenden, die alle teilweise auch in Civita lebten, versuchte man herauszufinden, wie eine Stadt, in der die Zeit stehen geblieben ist, wieder in die Gegenwart geholt werden kann.
Es gibt etliche dieser kleinen Bergdörfer in Italien, die fast alle kaum noch bewohnt und davon bedroht sind, irgendwann einfach zu verschwinden, wenn man sie sich selbst überlässt. Zarina hat Civita zum Stellvertreter dieser Dörfer gemacht und sich immer wieder bemüht, den Ort als UNESCO-Weltkulturerbe zu listen. Bis heute nicht erfolgreich. Der letzte Versuch wurde 2021 unternommen. Immerhin war Civita 2006 auf der Liste der 100 bedrohtesten Monumente der Welt.
Heute ist Civita auch eine Touristenattraktion, die von Reisebussen angefahren wird. Bis zu 3.000 Touristen schieben sich an einem Tag über die schmale Brücke, über die man die Stadt nur zu Fuß erreichen kann. Doch wenn die Touristen nach 19 Uhr weg sind, sind die Einwohner unter sich, die New York Times berichtete in einem Artikel von ruhigen Abendessen in privaten Gärten und einer gemütlichen, vertrauten Atmosphäre zwischen den Einwohnern und denjenigen, die zugezogen sind.
2008 starb Astra Zarina mit 79 Jahren. Ihr Grab ist in Civita. Sie hinterließ eine ganze Stadt und mehrere Generationen junger Architektinnen und Architekten, die dank ihr gelernt haben, dass Architektur weit mehr als Bauen ist.
Auch durch Geschichten wie der von Astra Zarina lässt sich der Mythos, dass es in der Vergangenheit, bis auf wenige leuchtende Ausnahmen, schlicht keine Frauen in der Architektur gegeben hätte, widerlegen. Vielleicht haben nur viele ihre aktive Bautätigkeit eingestellt, weil sie ähnliche unerfreuliche Erfahrungen wie Zarina in Berlin gemacht haben. Damit haben sie aber gleichsam, wenn auch wohl unfreiwillig, eine heutige Entwicklung der Architektur hervorgesehen. Eine, bei der es nicht mehr so sehr um das Bauen selbst, sondern vielmehr um das Denken und alles drum herum geht.
Gerade erst hat die schottisch-ghanaische Architektin Lesley Lokko, die die vergangene Architektur-Biennale in Venedig kuratierte, die RIBA Royal Gold Medal für Architektur erhalten. Ein Preis, der vom englischen Monarchen persönlich an Architekten vergeben wird, die sich besonders um die Architektur und ihre Vermittlung verdient gemacht haben. Das einzige Gebäude, das Lokko gebaut hat, ist ihr eigenes Wohnhaus in Accra. Ihr Verdienst liegt also viel mehr in der Lehre und der Vernetzung von jungen Architektinnen und Architekten, durch das von ihr gegründete African Futures Institute. Sie hat einmal gesagt, als sie mit dem Dekan der Universität von Johannesburg sprach und sie sich fragten, warum so wenig afrikanische Studierende in dem Architekturprogramm waren, dass sie diese Architekten nicht suchen und finden, sondern ausbilden, also selber machen müssten. „We don‘t have to find them, we have to make them“, sagte sie. Und ganz ähnlich ist wohl Zarina die Ausbildung der Architekten in Rom angegangen. Es geht nicht nur darum, jemanden mit den nötigen technischen Fähigkeiten auszustatten, um einen Auftrag fristgerecht und kostengünstig abzuliefern, sondern den Raum zu schaffen und die Welt dann vielleicht auch ganz anders zu denken. Dafür braucht es Ermutiger, die oftmals die wichtigsten Personen in der professionellen Karriere von Menschen sind.
Lokko verkörpert diese Art des neuen Architekten.
Schaut man noch einmal zurück, dann sieht man, dass auch große Architekten, Architekten, die von anderen oft als große Vorbilder genannt werden, gar nicht selbst gebaut haben. Yona Friedman wäre einer davon. Gebaut hat er letztendlich nichts. Aber er hat die Nachverdichtung der Stadt mit seiner 1958 entwickelten „Ville Spatiale“ genauestens erdacht und geplant. Jeder Zwischenraum würde genutzt, man würde die Stadt in die Höhe verdichten, nicht in die Breite, wo man Böden versiegeln und die Natur zerstören müsste. Wie bei Zarina würde in seiner Version einer neuen Stadt nichts abgerissen, sondern alles erhalten werden. Diese Ideen schleichen sich ein in die Arbeit praktizierender Architektinnen und Architekten und gelangen so, hochverdünnt, dann doch in die Welt.
Die Idee von Friedman findet sich beispielsweise auch in der Architektur des Australiers Liam Young, der seine Art zu arbeiten „Spekulative Architektur“ nennt und sie mithilfe von Computerspieltechnologien baut. Laut Young haben wir die technischen Mittel, um den Klimawandel zu stoppen, wir brauchen nur noch die gesellschaftliche Akzeptanz, sie umzusetzen. Dafür tragen auch Architekten und die Baubranche Verantwortung. Seine ätherischen Welten kann man in Videos ansehen, die er auch in Kunstausstellungen präsentiert und die es so schaffen, in vielen verschiedenen Sphären präsent zu sein.
Man bemerkt: Langsam, aber sicher gibt es ihn, den Paradigmenwechsel. Und sicherlich ist ein Blick zurück in eine Architekturwelt hilfreich, die wesentlich mehr Perspektiven hat als die, die bislang im Kanon erhalten sind. Und so kann man am Leben und Wirken Astra Zarinas vielleicht lernen, dass die Profession der Architektur viel mehr ist, als Häuser bauen. Nämlich denken, lesen, schreiben, träumen und - im Falle Zarinas besonders: Lehren. Genau dadurch schafft man gedankliche Räume und vielleicht sollte das Schaffen dieser gedanklichen Räume die wichtigste Aufgabe eines Architekten sein. Und einer Architektin.