Thekla Jahn: In Großstädten ist Wohnraum zu einer knappen Ressource geworden. Immer mehr Menschen ziehen zu, Immobilien- und Mietpreise steigen rasant. Was bedeutet das für unser Zusammenleben? Diese Frage wirft eine Ausstellung im Vitra Design Museum in Weil am Rhein auf: "Together! Die neue Architektur der Gemeinschaft" heißt die Schau. Und über die sich still vollziehende Revolution der zeitgenössischen Architektur wollen wir mit zwei der Kuratoren mit Ilka und Andreas Ruby sprechen: Schönen guten Tag.
Ilka Ruby: Guten Tag.
Andreas Ruby: Schönen guten Tag.
Thekla Jahn: Wohnen Sie noch individuell oder leben Sie schon gemeinschaftlich?
Ilka Ruby: Also, wir wohnen individuell, aber das Haus, das wir bewohnen, wurde von einer Baugruppe gebaut. Das heißt: Wir haben uns mit 11 Parteien zusammengetan und haben dann einen Architekten beauftragt, ein Haus für uns zu bauen.
"Gemeinschaft zwischen den Häusern"
Thekla Jahn: Also schon ein bisschen gemeinschaftlich? Gemeinschaftliche Architektur - das ist natürlich gar kein neues Thema - Reformideen des Wohnens gab es schon im 19. Jahrhundert: Ab 1920 dann entstanden Wohngenossenschaften, mit der Hippie- und Hausbesetzerszene entstanden Kommunen und WGs und Mehrgenerationenhäuser sind mittlerweile auch nicht mehr innovativ.
All diese historischen Vorläufer veranschaulichen Sie in einem Bereich der Ausstellung, aber dann geht es um den Kern: nämlich um die heutigen Wohnbauprojekte. Was macht denn die - wie der Ausstellungstitel sie ankündigt - diese "neue" Architektur der Gemeinschaft aus?
Andreas Ruby: Diese neue Architektur der Gemeinschaft zeichnet sich dadurch aus, dass es nicht nur um Gebäude geht, die gemeinschaftlich genutzt werden, sondern dass man versucht, mit diesen Gebäuden ein Stück Stadt zu machen. Oder öffentliche Räume stärker gemeinschaftlich zu bestimmen. Bisher sind diese Projekte in der Stadt eigentlich relativ wahllos verteilt, stehen meistens in ganz normalen Stadtvierteln. Die Ausstellung schlägt jetzt vor, sich zu überlegen, ob man nicht auch eine Stadt von Anfang an so entwerfen könnte – oder eine Stadt-Erweiterung so konzipieren könnte – dass man ein ganzes Stadtviertel aus solchen Gemeinschaftsprojekten zusammensetzt. Weil das hätte den großen Vorteil, dass nicht nur Gemeinschaft in den Häusern selbst entsteht, sondern eigentlich auch zwischen den Häusern, in den Straßen, in den Plätzen. Weil dann bestimmte Gemeinschaftsfunktionen, die diese Häuser eben mitbringen, weil das ihre Besonderheit ist, nicht nur für die Bewohner benutzbar wären, sondern eigentlich auch für die gesamte Nachbarschaft.
Thekla Jahn: Das hört sich ganz spannend an. Welche gemeinschaftlichen Aspekte bringen denn diese Wohnbauprojekte mit, sodass sich daraus ja möglicherweise ein Stadtteil, oder eine neue, große Stadt entwickeln kann, die lebenswert ist?
Ilka Ruby: Also, das können Werkstätten sein, Bibliotheken, aber auch Restaurants, Yogastudios – also, da gibt es eine ganze Reihe von Funktionen, die für die Nachbarschaft und für die Stadt genutzt werden können. Aber es gibt in den Gebäuden selber eben auch Räume, die sich die Hausgemeinschaft teilt.
Cluster-Grundriss: ein Update der klassischen WGs
Thekla Jahn: Diese Ausstellung, die Sie kuratiert haben, zeigt ja 21 großformatige Modelle von solchen Wohnbauprojekten aus Berlin, aus Zürich, Los Angeles, Tokio oder Wien. Was ist da besonders innovativ?
Ilka Ruby: Was eine neue Typologie ist, die einige dieser Häuser aufweisen, ist der sogenannte Cluster-Grundriss. Das ist eigentlich ein Update der WG, wie man es früher kannte. In der alten WG hat jeder sein Zimmer und dann teilt man sich eine Küche und ein Badezimmer – und eventuell sogar auch ein Wohnzimmer. In der Clusterwohnung ist es so, dass jedem Bewohner ein Mini-Apartment zur Verfügung steht: Das besteht aus einem oder zwei Räumen, einer kleinen Küche und einem kleinen Bad. Und diese Mini-Apartments gruppieren sich um große Gemeinschaftsbereiche: eben auch Gemeinschaftsküche, Wohnzimmer, manchmal sogar noch ein etwas luxuriöseres Badezimmer.
Thekla Jahn: Wohnen und Bauen im Kollektiv – das setzt ja, wenn man weiter denkt, eine ur-demokratische Konzeption voraus, dass jeder Beteiligte gleichberechtigt Entscheidungen mittreffen kann?
Andreas Ruby: So ist das bei diesen Projekten eigentlich auch. Also, in einem viel, viel größeren Maße können dann die Wohnenden selbst mit Einfluss nehmen auf die Formen des Wohnens. Das fängt zum Beispiel damit an, dass die Bewohner selbst, von solchen Projekten, sich mehrheitlich dafür aussprechen, weniger Wohnfläche individuell zu haben - das ist ein eigener, freier Entschluss – um im Gegenzug dafür Gemeinschaftsflächen zu haben, die man sich selber nicht leisten könnte, selbst wenn man eine ganz große Wohnung hätte.
Wir haben noch länger mit Ilka und Andreas Ruby gesprochen -
Hören Sie hier die Langfassung des Corsogesprächs
"Unsere Vorstellung von Privatheit ist ein moderner Mythos"
Thekla Jahn: Stadt und Wohnraum, Öffentlichkeit und Privatsphäre sind ja in vielen dieser Projekte, wie Sie das auch gerade geschildert haben, nicht mehr ganz klar getrennt, sondern auf neue Weise miteinander verwoben. Braucht es denn nicht eigentlich Privatheit - einen Rückzugsort, ganz individuell, ganz materiell – um zur Ruhe kommen zu können, ungehetzt, unbeobachtet? Also, entspricht das nicht dem Wesen des Menschen, gar nicht so viel zu teilen?
Andreas Ruby: Da bin ich nicht ganz sicher. Also, unsere Vorstellung von Privatheit ist ein moderner Mythos. Die größte Zeit der Menschheitsgeschichte haben Leute nicht privat gewohnt, sondern eigentlich immer in Kollektiven. Und zwar in Kollektiven, die größer waren als die Kernfamilie, wie wir sie heute kennen. Das heißt: In der meisten Zeit der Geschichte haben Leute in Mehrgenerations-Familienverbänden gelebt und damit sich eigentlich immer als Teil eines Ganzen begriffen. Heute ist es umgekehrt so, dass 60 Prozent der Bevölkerung in Ein- bis Zwei-Personen-Wohnhaushalten leben und viele davon sozial und psychologisch bedrückt werden. Weil sie dieses Kollektiv eben nicht mehr in der, scheinbar naturgegebenen, Standardausfertigung der Familie bekommen. Weil eben Familien heute nicht mehr die Familien sind, die sie vielleicht mal vor fünfzig Jahren waren, Eltern sich schneller trennen und die Kinder dann geteilt aufwachsen. Weil viele Leute überhaupt nicht heiraten, weil es viele Leute gibt, die Singles bleiben oder Singles wieder werden: Nämlich dann, wenn wir alt werden und wenn wir auf einmal merken, durch eine höhere Lebenserwartung haben wir dann, wenn unser Lebenspartner verstorben ist, auf einmal 30 Jahre Lebenszeit, die wir dann alleine mit uns verbringen.
"Mit sich alleine Tischtennis spielen, ist ein bisschen schwierig"
Thekla Jahn: Das heißt also, Individualität und Selbstverwirklichung finden dann nicht mehr statt – aber die sind eigentlich auch gar nicht mehr gefragt?
Andreas Ruby: Doch. Diese Individualität und Selbstverwirklichung findet dann einfach in einem interaktiven, sozialen und kommunikativen Miteinander mit anderen statt. Individualität heißt ja nicht "alleine sein", sondern Individualität heißt, das herauszufinden, was mich besonders glücklich macht. Und das kann ich manchmal am besten mit anderen. Zum Beispiel dann, wenn ich merke, dass die Sachen, die ich gerne mag, dass ich die nicht gut alleine machen kann: Also mit sich alleine Tischtennis spielen, ist ein bisschen schwierig.
Thekla Jahn: Jetzt frage ich mit bei Ihrer Ausstellung - Sie wollen ja auch zur Diskussion anregen - geht die Ausstellung auch hin und hinterfragt Prämissen? Also der Wohnungsknappheit, zum Beispiel. Sie setzen voraus, dass es immer knapper wird, aber wir haben eine Landflucht: In weiten Teilen Deutschlands gibt es genug Wohnraum. Also denkt man auch da über architektonische Visionen auf dem Land zum Beispiel nach?
Andreas Ruby: Es gibt bisher eine Reihe von Initiativen, die so was machen. Das heißt, in aussterbende Landstriche gehen und dort ein ganzes Dorf wieder aufmöbeln und dort Leute hinbringen, aber die alle haben zur Bedingung, dass diese Leute, die dort wohnen, ihre Arbeit eigentlich ortsunabhängig machen können und gewissermaßen nicht von der ländlichen Ökonomie abhängig sind, sondern von städtischen Ökonomien mitleben können.
Die Ausstellung ist im Vitra Design Museum in Weill am Rhein zu sehen noch bis zum 10. September.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.