"Also, diese Raumwirkung hier zum Beispiel: Man ist im Dunklen und nach, ich glaub nach 15, 20 Minuten ist es hier taghell, aber diese Raumwirkung einer Höhle, die entsteht beim Reingehen. Und zum Beispiel auch hier diese Buntheit des Rosenkranzes, das ist doch ein Kontrast, der größer nicht sein könnte. Das Licht scheint durch, blendet einen, und über uns ist Beton, der uns runterdrückt, quasi. Also, der Kontrast mit Licht und festen Materialien ist bewusst gewählt worden."
Der Architekturkritiker Wilhelm Opatz steht in der Mitte des Kirchenschiffs von St. Ignatius, einer Jesuitenkirche im Frankfurter Westend. Hoch über ihm liegt das dunkle, gefältelte Betondach wie eine Zeltplane über dem Raum. Ringsherum dringt Tageslicht durch ein breites Band von farbenprächtigen Glasfenstern hinein. Es wirft unzählige bunte Lichtreflexe auf Boden und Kirchenbänke. Brutalistisch – so heißt dieser Beton-Baustil in der Fachsprache. Für Opatz ist jedoch nicht allein der Beton ausschlaggebend:
"Die Fantasie der Architekten, die grenzenlos war. Ich glaube, die Kirchen wollten sicherlich damit auch ein Statement setzen. Die meisten Kirchen wurden von Avantgardisten gebaut oder arrivierten großen Architekten, die ihre Linie durchgezogen haben bis in die Details."
So ist es auch bei St. Ignatius. Erbaut wurde die Kirche 1964 vom Kölner Kirchenbaumeister Gottfried Böhm – ganz aus Waschbeton. Die farbenprächtigen Betonglasfenster, die gefalteten Dächer und die kubistische Formensprache sind typisch für die von ihm entworfenen Kirchen. Die meisten sind weit über die Grenzen ihrer Städte hinaus bekannt und ein Touristenziel – bei St. Ignatius ist das anders.
"Dieser Publikumsverkehr, den gibt es gar nicht. Für die Bevölkerung ist diese Kirche eher ein Geheimtipp", sagt Opatz – und er kennt sie alle. Gemeinsam mit dem Deutschen Werkbund Hessen hat er ein Buch herausgegeben, in dem er 25 ausgewählte Frankfurter Nachkriegskirchen vorstellt und in das Bewusstsein der Leser zurückrufen will.
Brutalistische Bauten gelten gemeinhin als Bunker, Ungetüme oder architektonische Scheußlichkeiten. Kaum ein Architekturstil erfährt in der breiten Bevölkerung eine solche Ablehnung wie der Brutalismus. Kein Wunder, steckt das Wort "brutal" doch vermeintlich schon im Namen. Der allerdings leitet sich lediglich ab vom französischen "Beton brut": Sichtbeton.
Von den frühen 1960er Jahren bis etwa Ende der 70er Jahre verbreitete sich dieser Architekturstil auf der ganzen Welt. Gebäude zeigten auf einmal ihr sichtbares Betonskelett. Die Fassaden wurden nicht mehr verkleidet oder verputzt und auch die Versorgungsleitungen nicht mehr versteckt. Wie viele Vertreter der Moderne wollten auch die Architekten des Brutalismus eine klassenlose Gesellschaft. Beton erschien ihnen dafür als das geeignete Material: Es war nicht elitär, nicht historisierend und schon gar nicht glatt. Roher Beton galt als ehrlich. So waren es denn vor allem Kommunen, die expressive Betonriesen in Auftrag gaben. Solitär und mächtig erhoben sich Rathäuser, Schulen und andere öffentliche Gebäude im Stadtbild – unangepasst an ihre Umgebung, grau und oft von außen unnahbar.
Rettet die Betonmonster!
Mit dem Wort Bausünde wurden die Betonbauten auch noch theologisch aufgeladen – und der Abriss geradezu zum Akt der Buße. Oliver Elser hat eine Ausstellung im Deutschen Architekturmuseum in Frankfurt kuratiert, einen Notruf mit dem Titel: "SOS Brutalismus. Rettet die Betonmonster"
"Die Abrisse brutalistischer Bauten, die sind schon ziemlich erheblich. Also, Beispiel hier aus unserer Gegend Frankfurt: Da gab es 2014 die spektakuläre Sprengung eines Unigebäudes, des AfE-Turms, dann wurde das technische Rathaus abgerissen, das Historische Museum; also das sind so drei Bauten, wo man schon sagen kann, die waren Stadtbild prägend. Also, das sind jetzt auch nicht irgendwelche randständigen Dinge, die irgendwie eh keiner im Kopf hatte, sondern das sind Gebäude, die man durchaus auch mit dem Bild von Frankfurt verbunden hat, und die wahrscheinlich aber auch deswegen gesprengt wurden, weil sie für viele so als abweisend und unbeliebt galten."
Brutalistische Kirchen wecken weniger Abrisslust. Verglichen mit Profanbauten sind sie regelrecht beliebt. Elser erklärt, warum: "Also bei den Kirchen ist es mir in der ganzen Beschäftigung mit dem Thema eigentlich am häufigsten passiert, dass man auf Gemeinden trifft, oder auf Pfarrer trifft, die sagen, ‚Wir fühlen uns wohl hier.‘ Also, da ist die Akzeptanz deutlich höher als bei vielen anderen Bautypen. Wenn sie so sehr skulpturale, sehr besondere Betonkirchen dieser Zeit mal sich in dem Kontext vorstellen, in dem sie gebaut wurden, dann waren die Siedlungen oft sehr, sehr spartanisch, und die Kirchen sind quasi so als architektonische Ausreißer, Ausnahmeerscheinung, Höhepunkte eines ganzen Stadtviertels zu sehen."
Auch beim Thema Denkmalschutz gibt es einen Unterschied: Deutlich mehr brutalistische Sakralbauten als Profangebäude wurden bislang unter Denkmalschutz gestellt und somit der drohenden Abrissbirne entzogen. Doch warum ist das so? Oliver Elster antwortet: "Weil sie von vornherein als Kunstwerke stärker erkennbar sind, was für viele Profanbauten tatsächlich nicht gilt. Also, bei den Profanbauten muss man erst auf den zweiten, dritten Blick sich erst mal erschließen, was daran vielleicht jetzt besonders ist, bei den Kirchen sticht einem mehr ins Auge", sagt Oliver Elser.
Coole Schwarz-Weiß-Optik
Architekturkritiker Wilhelm Opatz hat noch einen weiteren brutalistischen Geheimtipp parat. Am Frankfurter Friedhof Westhausen steht eine 1960 errichtete Trauerhalle mit angrenzender Trauerwand. Das Ensemble hat in der Vergangenheit kontroverse Debatten ausgelöst, aber heute ist es fast vergessen, fast so wie der gesamte Friedhof, der doch der zweitgrößte in Frankfurt ist.
Der Friedhof Westhausen liegt draußen am Stadtrand. Der Wind rüttelt an den hohen, alten Bäumen, Wasser plätschert in einem Teich – und ab und zu stört ein startendes Flugzeug die Stille. Wilhelm Opatz zeigt auf die von Günter Bock gestaltete Trauerhalle: "Der macht keine Mätzchen oder keine Sperenzchen oder will blenden – nein überhaupt nicht! Ein grundehrlicher Architekt, der heute noch fasziniert."
Ohne Sperenzchen, kompromisslos schlicht und schnörkellos: Dieses gängige Bild gilt nicht für alle brutalistischen Gebäude und auch nur bedingt für diese Trauerhalle. Das Betongebäude mit dem gefalteten Dach und der ebenso gestalteten Rückwand ist zwar schlicht und schnörkellos, aber die angrenzende 75 Meter lange Trauerwand aus rauem Sichtbeton, die auch Teil der Gebäudevorderseite ist, kann man nicht als schlicht bezeichnen, im Gegenteil.
"Typische Hajek-Ornamente, recht wilde Geschichte, vor Ort erstellt, mit Styropor-Teilen in Beton hineinimplementiert. Aber die Thematik erschließt sich einem, glaube ich, nicht so wirklich, das sind eher ornamental glatte und poröse Flächen – und zum Glück seit einigen Jahren grünfrei", freut sich Opatz.
Das vom Bildhauer Otto Herbert Hajek geschaffene und im Laufe der Jahrzehnte zugewucherte Relief wurde freigelegt und dadurch wieder sichtbar gemacht – ein erster Schritt! Denn an vielen brutalistischen Gebäuden nagt mittlerweile der Zahn der Zeit. Sie sind überwuchert, verwittert und weisen Baumängel auf. Außerdem zeigen sie starke Spuren der Vernachlässigung. Letzteres gilt vor allem für Profanbauten. Sie werden oftmals bedeutend schlechter gepflegt als Sakralbauten. Auch das kann ein Grund dafür sein, dass Kirchen des Brutalismus von vielen Menschen als weniger hässlich empfunden werden als Rathäuser oder Schulen: Sie sind meistens in einem besseren Erhaltungszustand.
Was auch immer es für Gründe sind, ob es die stilistische Schlichtheit der Betonkirchen ist, die in einer Zeit der Bilderflut und der permanenten äußeren Reize einen guten Rahmen zur Kontemplation bietet. Ob es das imposante Licht- und Schattenspiel ist, das durch Betonglasfenster auf die rohen, grauen Wände geworfen wird, oder vielleicht auch die imposante Erscheinung einer Kirche, deren Turm sich wie eine Skulptur in den Himmel schraubt – brutalistische Kirchen finden zunehmend Fans. Vor allem junge Leute pilgern dorthin, auch deswegen, weil sich der expressionistische Stil auf Schwarzweiß-Fotos ausgesprochen gut macht. In den sozialen Netzwerken werden die stylischen Fotos hundertfach gelikt und geteilt.
Vielleicht kann ja diese neu entflammte Liebe künftig den Abriss des einen oder anderen "Betonmonsters" verhindern.