Mascha Drost: Ein Stadtrundgang ist ein Gang durch die Geschichte, Bauten sind das Gedächtnis einer Stadt, seiner Bewohner – und nirgendwo lässt sich Erinnerung eindringlicher erleben, als anhand von Architektur – wenn Stadtplaner und Architekten es denn richtig angestellt haben. Wann das der Fall ist und wann nicht, darüber habe ich mit dem Architekturhistoriker Winfried Nerdinger gesprochen, im Rahmen unserer Sommerreihe "Erinnern und Vergessen". Winfried Nerdinger ist Direktor der Abteilung Bildende Kunst der Bayerischen Akademie der Schönen Künste, er war viele Jahre Professor an der TU München und Gründungsdirektor des NS-Dokumentationszentrums in München. Zuerst wollte ich wissen, welche Bedeutung Architektur auf das kulturelle Gedächtnis einer Gesellschaft hat.
Winfried Nerdinger: Ich glaube, eine ganz entscheidende Architektur ist Stein geworden, ist Gedächtnis. Man kann über Architektur Geschichte wieder abrufen und kann auch praktisch Architektur ganz besonders gut mit Erinnerung im Gedächtnis verknüpfen.
Drost: Sie haben das mal Lernen am historischen Ort genannt. Ist das die Erziehung, die Bildung eines Menschen auch anhand von Architektur?
Nerdinger: Das ist ein Aspekt. Also das NS-Dokumentationszentrum haben wir als einen Erinnerungs- und Lernort bezeichnet und die Ausstellung auch so konzipiert, dass man auf die historischen NS-Orte blickt und dazu Information erhält, was ist dort geschehen, und auf diese Art und Weise bleibt auch die Erinnerung ganz besonders gut im Gedächtnis haften. Das ist ja seit der Antike bekannt, dass wenn man etwas mit einem Ort, mit einem Bauwerk verknüpft, dass man es dann ganz besonders gut später wieder abrufen kann. Die großen Gedächtniskünstler arbeiten bis heute so.
Auch belastete Orte vermitteln Wissen über die Zeit
Drost: Sie haben das NS-Dokumentationszentrum gerade schon angesprochen. Wie sollte man denn mit unliebsamen Erinnerungen im Stadtbild umgehen oder Architektur, die eben diese Erinnerung hervorruft, seien es jetzt Denkmale aus der Bismarck-Zeit, Flaktürme in Hamburg oder bestimmte DDR-Bauten? Das Haus der Kunst in München ist ja auch ein prominentes Beispiel. Muss deren Geschichte in der Erinnerung immer wachgehalten werden?
Nerdinger: Ja, denn ein Bau spricht nur zu uns, wenn wir auch Informationen über diesen Bau haben und wenn wir uns auch darum kümmern, dass dieser Bau diese Information weitergibt. Das heißt also, wenn wir ihn teilweise abreißen oder verkommen lassen, dann kann er diese Geschichte nicht mehr weiter vermitteln. Es gibt angenehme Orte der Erinnerungen, und es gibt unangenehme, und zu den negativen Erinnerungen gehört nun mal die NS-Zeit. Und da ist es eben gerade wichtig, dass wir solche Orte haben, an denen wir lernen können, und deswegen mein Plädoyer immer: Diese Orte dazu verwenden, um Wissen mittels dieser Orte über diese Zeit zu vermitteln. Weil das ganz besonders sofort im Gedächtnis haften bleibt und auch intensiv über das Bauwerk und den Ort vermittelt wird.
Drost: Aber es kommt ja auch vor, dass sich nach Jahrzehnten Erinnerungen überschreiben können oder auch sollten.
Nerdinger: Ja, das ist immer eine Frage der gesellschaftlichen Abwägung. Das kann schlecht einer alleine bestimmen. Geschichte hat ja schon im deutschen Wort die Schichtung implizit. Das heißt also, es lagert sich immer wieder neues Geschehen ab. Das geschieht natürlich auch an Bauwerken, aber gerade bei Bauwerken, wenn sie uns eine bestimmte Geschichte vermitteln sollen, muss man eben auch darauf achten, dass sie nicht vollständig von anderen Ereignissen später überlagert werden oder dass dann die eigentliche Geschichte, um die es geht, eben nicht mehr ablesbar ist.
Drost: Da kommt man ja fast schon in psychologische, psychoanalytische Bereiche, also das Verdrängen unliebsamer Erinnerungen, das Ausblenden. Kann man denn zum Beispiel durch einen Abriss Geschichte vergessen lassen?
Nerdinger: Das ist ja immer in der Geschichte auch versucht und auch gemacht worden. In der jüngsten Geschichte hat man eben nach Beendigung der NS-Zeit die Reichskanzlei, aber auch in München beispielsweise die sogenannten Ehrentempel gesprengt und abgerissen. Die Geschichte war damit keineswegs beseitigt, sondern Freud sagt ja, vieles, was verdrängt ist, kommt dann wieder hervor, was man unter den Teppich gekehrt hat. Und deswegen ist es sinnvoll, gerade beim Umgang mit negativer Geschichte, sich hier praktisch vorwärtsgehend damit auseinanderzusetzen. Nur so kann man auch die Geschichte verarbeiten.
Drost: Derzeit wird ja gerade erbittert um sogenannte Rekonstruktionen diskutiert. Prominentestes Beispiel ist natürlich das Berliner Schloss. Sind solche Wiederaufbauten nicht eigentlich geschichtsvergessen, also das genaue Gegenteil von dem, was sie vorgeben zu sein?
Nerdinger: Ja, das Berliner Schloss ist ein sehr gutes Beispiel für auch eine Art selektiven Erinnerungsprozess, denn es wurde ja gesprengt auf Anordnung der DDR-Machthaber. Aber man hat das Portal 4, von dem Karl Liebknecht die sozialistische Republik verkündet hat, bewahrt und hat es im Staatsratsgebäude eingebaut. Dort ist es heute noch, das originale Portal 4. Jetzt ebenfalls auf Beschluss der Bundesregierung, demokratischer Beschluss, wird dieses Schloss wieder rekonstruiert, inklusive dieses Portal 4. Es wird also in Berlin in Zukunft zwei Portale nebeneinander geben, ein originales und ein rekonstruiertes. Rekonstruktionen sind Wiederholungen, die aus einem ganz bestimmten Grund geschehen. In diesem Fall geht es ganz sicher auch um Wiederherstellung einer stadträumlichen Situation, auch Wiederherstellung der Geschichte, aber man sollte solche Wiederholungen auch immer kenntlich machen. Man sollte auch sagen, hier handelt es sich nicht um den Originalbau, sondern um eine Rekonstruktion. Das finden Sie auch vielfach, beispielsweise wenn Sie nach Polen fahren, dort wurden ja unendliche Mengen an Kulturgütern zerstört. Vieles davon ist rekonstruiert worden, und dann finden Sie auch den Hinweis, das wurde von den Deutschen zerstört und wurde dann und dann wieder rekonstruiert, im Sinne auch einer Wiedergewinnung der Geschichte, mit der man sich auseinandersetzt.
"Es ist im Laufe der Geschichte immer rekonstruiert worden"
Drost: Was interessant ist, dass viele Befürworter so einer historisierenden Innenstadt, etwa in Berlin oder vielleicht noch extremer in Potsdam, ja selten Urberliner oder Potsdamer sind, sondern nach der Wende zugezogen. Wird vielleicht auch deshalb so erbittert gestritten, weil es um persönliche Erinnerungen geht, der Einwohner, die auf einmal von anderen ausgelöscht werden sollen?
Nerdinger: Ja, ich glaube diese Rekonstruktionsdebatte, die ja ganz besonders heftig in Deutschland, nicht so sehr in anderen Ländern, geführt wird, die ist ein bisschen vergiftet durch die Begrifflichkeit, indem man hier immer von Lüge und Attrappe und anderen Dingen spricht und damit auch von vornherein jede Form von Rekonstruktion diskreditiert. Es ist aber im Laufe der Geschichte immer rekonstruiert worden, wenn etwas, was für die Erinnerung wichtig war, ein Bauwerk, eine Kirche, ein heiliger Ort, wie man das auch manchmal genannt hat, wenn das die nachfolgenden Generationen wieder haben wollten, weil sie es für ihre Geschichte wichtig fanden, dann wurde es rekonstruiert. Man sollte hier nicht mit diesen moralisierenden Begriffen an das herangehen, sondern man sollte aufklären, und das ist heute ja eigentlich ganz einfach, indem man an solchen Rekonstruktionen auch dann sagt: Das ist nun ein Neubau, das ist beschlossen worden, aber es ist nicht der historische Bestand.
Drost: Aber das ändert ja nichts, dass für so ein Neubau andere, vielleicht für die Anwohner sehr bedeutende und wichtige Architektur dann fällt.
Nerdinger: Ja, das ist natürlich speziell die Auseinandersetzung jetzt in Berlin, also sowohl beim Schloss, wo dafür der Palast der Republik abgerissen wurde, also das, wenn man so will, DDR-Symbol, oder eben jetzt in Potsdam, wo man auch letztlich DDR-Geschichte ungeschehen macht. Vieles davon ist einfach ein politischer Beschluss gewesen. Die Beseitigung der DDR-Geschichte als Bild im Stadtraum, das waren politische Entscheidungen nach der Wende.
Wie der Zeitgeist die Erinnerungskultur bestimmt
Drost: An was, an wen und wie erinnert wurde, das haben früher allein ja die Herrschenden bestimmt, heute ist es vielleicht ein bisschen anders. Da gibt es demokratische Abstimmungen, Ausschreibungen, jahrelange Streitereien ziehen sich hin, bevor überhaupt der erste Spatenstich getan wird. Wenn wir jetzt noch mal ein Beispiel nehmen, das geplante Einheitsdenkmal, Herr Nerdinger, wie sinnvoll ist das eigentlich, überhaupt heutzutage anhand eines Denkmals an bestimmte Ereignisse zu erinnern? Wir haben ja Bilder, Filme, Aufzeichnungen, die viel genauer und auch vielfältiger erinnern können.
Nerdinger: Ja, Denkmale in der klassischen Form, dass also ein dreidimensionales Objekt errichtet wird, sind wirklich heutzutage problematisch, und wir haben ja auch relativ wenige Beispiele, die allgemein überzeugen. Diese Einheitswippe ist ja auch heftig diskutiert oder das Holocaustdenkmal, das hat ja schon eine eigene Geschichte der Auseinandersetzung. Das Problem ist eben häufig, dass etwas errichtet wird, was dem Zeitgeist entspricht, also einer bestimmten vielleicht abstrakten Architektur- oder Skulptursprache und oft auch, dass diese Denkmäler an Orten errichtet werden, die mehr oder weniger zufällig sind. Das ist ja auch das Grundproblem des Holocaustdenkmals, dass es sich an einem Ort befindet, der eigentlich nichts mit dem Holocaust zu tun hat. Sie können es nicht wirklich über den Ort mit der Geschichte verknüpfen, und deswegen ist es ja auch teilweise wirklich nur dann noch ein Spielplatz geworden. Das ist einfach vom Ansatz her falsch gemacht worden.
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