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Architektursommer (3/4)
Stadt und Nicht-Stadt Schweiz

Anfang der 1960er-Jahre machte sich in der Schweiz steigender Wohlstand bemerkbar, die individuelle Mobilität veränderte die Landschaft: Wohnsiedlungen und Hausquartiere machten aus traditionellen Dörfern Agglomerationsgemeinden. In der Zeitschrift "WERK - bauen+wohnen" aus dem Jahr 1961 veröffentlichte der Soziologe Lucius Burkhardt in Form eines inneren Dialogs Gedanken zu dieser Entwicklung.

Mit Barbara Schäfer |
    Als hätte er zwei Seelen in seiner Brust, argumentierte er sowohl für wie auch gegen diese ländlichen - oder eben nur scheinbar ländlichen - Wohnformen und verglich sie mit dem Wohnen in der Stadt. Lucius Burckhardts Gedanken zu "Wo und wie wohnen wir morgen" ging auf eine Einladung des Schweizer Radios zurück, ein Gespräch über neue Formen des Wohnens zu führen. Daraus wurde ein fiktiver Dialog. Der Schweizer Architekt Jacques Herzog, zusammen mit Pierre de Meuron seit 1978 Inhaber des Architekturbüros Herzog & de Meuron in Basel, übernimmt heute die Form des fiktiven Gesprächs. Er thematisiert die Schweiz nach der Abstimmung über die Masseneinwanderungsinitiative im Februar 2014, die das Land spaltete: Als Folge der starken Zuwanderung war in den letzten Jahren ein erhöhter Siedlungsdruck auf alle städtischen Typologien feststellbar: auf die Stadt, auf die Agglomeration und auf das Dorf. Jacques Herzog bringt als fiktive Gesprächspartner einen Stadtbewohner und einen Nicht-Stadtbewohner, den er "Agglo" nennt, in Dialog.
    Für Essay & Diskurs überführen wir Jacques Herzogs Text wiederum in einen Radiodialog. Ein kurzes Gespräch mit dem Basler Architekten ergänzt den Diskurs über Migration und Urbanität.
    Jacques Herzog, geboren 1950, studierte Architektur an der ETH Zürich und gründete mit Pierre de Meuron 1978 das heute legendäre Architekturbüro in Basel. Sie bauten gemeinsam u.a. das Fußballstadion Allianz-Arena München, das Olympiastadion Peking, den Prada Store Aoyama in Tokio, den Erweiterungsumbau der Tate Gallery in London, das Vitra Haus in Weil am Rhein, das Kulturzentrum Forum 2004 in Barcelona, die Elbphilharmonie in Hamburg sowie zahlreiche Bauten in der Schweiz.
    Zunächst ein kurzer Ausschnitt aus Lucius Burckhardts 1961 entworfenen fiktiven Dialog: "Wo und wie wohnen wir morgen?"
    Der Soziologe Lucius Burckhardt lebte von 1925 - 2003 und war Dozent an verschiedenen Hochschulen. 1955 machte er mit dem programmatischen Essay "achtung: die schweiz" auf sich aufmerksam, den er mit Markus Kuttner und Max Frisch verfasste. 1962 - 1972 leitete er die Redaktion der Zeitschrift WERK bauen+wohnen. Mit der von ihm begründeten Spaziergangswissenschaft übte er "Urbanismuskritik auf Augenhöhe".
    "Wo und wie wohnen wir morgen? Ich vermute, dass wir in Zukunft alle auf dem Lande leben? Die Städte haben ausgespielt, zumindest, insofern sie Wohnorte waren. Aber auch im industriellen Geschehen. Nur noch Regierungsbeamte, Bankleute und Angehörige des Großhandels müssen in die Stadt. Die Wohnstätten und die Industrie werden sich über das ganze Land verteilen. Die elektrische Energieversorgung und die Verkehrsmittel erlauben der Produktion heute jeden Standort. Und wohnen wollen wir ja sowieso im Grünen.
    Wo und wie wohnen wir morgen? Ich behaupte das Gegenteil: Das Land entvölkert sich, die Städte wachsen. In Zukunft wird man nur noch in Großstädten leben. Schon der moderne Produktionsprozess verlangt nach einem städtischen Menschenreservoir. Die steigende Produktivität der Industrie bewirkt, dass sich die Beschäftigten von einer immer größer werdenden Zahl von Menschen regieren, verwalten, versorgen, unterhalten, bedienen lassen. Das alles geschieht in der Stadt."
    Soweit der Schweizer Soziologe Lucius Burckhardt in einem fiktiven Dialog, gedacht fürs Radio im Jahr 1961. Jetzt folgt der fiktive Dialog von Jacques Herzog aus dem Jahr 2014, veröffentlicht in der Jubiläumsausgabe WERK bauen+wohnen. Folgende Einführung schrieb Jacques Herzog im Mai in der NZZ:
    "Die Abstimmung über die Masseneinwanderungsinitiative vom 9. Februar spaltete die Schweiz in zwei fast gleich große Lager, welche die Migration im bisherigen Umfang befürworten bzw. einschränken wollen. Migration ist unmittelbar mit Siedlungspolitik und Urbanität gekoppelt. Als Folge der starken Zuwanderung war in den letzten Jahren ein erhöhter Siedlungsdruck auf die Stadt, auf die Agglomeration und auf das Dorf feststellbar. Bis vor kurzem sprach man bei solchen Abstimmungen von einem Stadt-Land-Konflikt. Nun zeigt sich, dass sich die Grenze zwischen Stadt und Land zugunsten der Stadt verschoben hat. Das bisher der Landbevölkerung eigene, mehrheitlich konservative Denken ist tief in die Agglomerationen vorgedrungen. Abstimmungsanalysen zeigten, dass die knappe Annahme der Initiative nur möglich war, weil in den Agglomerationen die migrationskritische Mehrheit wächst. […]
    Mein fiktives Gespräch zwischen einem Stadtbewohner und einem Nicht‑Stadt‑Bewohner ist ein Versuch, Argumente, Scheinargumente, Vorurteile, Klischees, Lösungsansätze, Ausweglosigkeit und eine gewisse Bedrücktheit zum Ausdruck zu bringen.
    Die urbanen Entwicklungsszenarien der Schweiz werden - wie aus diesem Gespräch hervorgeht, nicht so sehr aus Visionen geboren, sondern aufgrund von Leidensdruck durch Kompromisse erstritten. Der Wille der Willensnation Schweiz ist derzeit eher ein Wille zur Abgrenzung und nicht ein Wille zur Zusammenarbeit. Zusammenarbeit ist aber eine Grundvoraussetzung für Urbanität." (Jacques Herzog)

    Stadt - Nicht-Stadt Schweiz
    Agglo: Wir Bewohner in den Agglomerationen und Dörfern haben den Dichtestress satt! Wir haben zu viel Verkehrsstau, zu wenig Platz im Zug und im Tram, und dann steigen die Mieten auch noch überproportional. Es wird zu viel gebaut: Verdichtung, wohin man schaut. Die schöne Wiese vis-à-vis wird gerade zugebaut. Das mag in der Stadt o. k. sein, aber nicht hier auf dem Land. Die Bevölkerung wächst und wächst, vor allem durch Zuwanderung und Menschen, die sich an unserem Gemeinwesen hier gar nicht beteiligen wollen oder können, weil sie unsere Sprache nicht sprechen.
    Stadt: Aber wir brauchen diese Menschen doch, um unsere Wirtschaft in Schwung zu halten!
    Agglo: Aber doch nicht auch noch ihre Familien samt Onkel und Großmutter ...
    Stadt: Zugezogene Menschen haben seit je das Leben einer Stadt bereichert, und zwar wirtschaftlich wie kulturell. Das Nebeneinander von unterschiedlichen, ja gegensätzlichen Lebensformen auf engem Raum könnte man beinahe als Grundvoraussetzung einer funktionierenden Urbanität definieren. Die befruchtende Wirkung dieses urbanen Nebeneinanders beschrieb der linke, französische Stadttheoretiker Henri Lefebvre mit dem Begriff der "Differenz".
    Agglo: Für eine Stadt mag das angehen, weil es da schon immer Ausländerquartiere gab, in denen die unterschiedlichen Lebensauffassungen gelebt werden konnten, ohne dass man sich dabei in die Quere kam. In unseren Agglomerationen und Dörfern geht das nicht. Da kennt man sich noch, und je mehr nun verdichtet wird, desto anonymer wird hier das Leben. Das hat mit Leben auf dem Land und mit der Natur nicht mehr viel zu tun. Das wird dann ja schon fast wie in der Stadt!
    Stadt: Das wäre ja das beste Argument, die Agglomerationen weiter zu verdichten. Statt der angeschwollenen Dörfer könnten richtige Quartiere entstehen, mit Plätzen, Straßen und Gassen.
    Agglo: Dann geht aber unsere Identität als Dorf verloren und der Bezug zur Natur.
    Stadt: Im Gegenteil, so entsteht erst Identität. Die städtischen Quartiere tragen Namen: St. Johann, Matthäus oder Paulus in Basel, Enge, Wiedikon oder Seefeld in Zürich, Matte, Länggass oder Kirchenfeld in Bern, Eaux-Vives, Plainpalais oder Pâquis in Genf. Namen, die jeder kennt und mit denen er klare Bilder verbindet. Sie sind Teil einer Stadt mit einer spezifischen Identität, während ehemalige Dörfer wie Riehen, Oberwil, Birsfelden, Dietikon, Altstetten, Ittingen, Ostermundigen Lancy oder Meyrin um ihre Identität ringen und nicht wissen, wer sie sind und wohin sie gehören.
    Agglo: Sie gehören aufs Land und sicher nicht zur Stadt mit ihrer arroganten Haltung gegenüber denjenigen, die anders denken und sich zum Land und zur Idee der Heimat bekennen!
    Stadt: Zu welchem Land? Das Land verschwindet ja in erschreckender Weise, weil durch die lockere Streubauweise in den sogenannten Landgemeinden alles zugebaut wird.
    Agglo: Etwas mehr als die Hälfte der Schweizer Bevölkerung lebt in Agglomerationen und Dörfern und ist zufrieden mit dieser Streubauweise. Bei uns gibt es noch Natur und nachbarliches Leben.
    Stadt: Es gibt auch in der Stadt Natur und nachbarliches Leben! Es gibt großartige Parks, in denen sich die Menschen begegnen, wenn sie das wollen. Es gibt Alleen, Promenaden entlang der Seen, des Rheins oder der Aare. Außerdem gibt es stadtnahe Wälder und Hügel. Leider werden diese natürlichen Erholungsräume von den ausufernden Agglomerationen immer mehr beschnitten. Die Gründe sind die mangelnde Bebauungsdichte und der daraus resultierende übergroße Flächenbedarf.
    Agglo: Die Menschen wollen aber so leben; sie wollen in und mit der Natur aufwachsen. Das entspricht dem schweizerischen Selbstverständnis und unserer bäuerlichen Tradition. Die Schweiz hat genug Land und Natur, wenn wir nicht mehr und mehr Menschen in unser Land hineinlassen.
    Stadt: Das sieht die Mehrheit der Schweizer aber anders, wie man bei der Abstimmung zur Zweitwohnungsinitiative beobachten konnte. Die Schweizer sind besorgt um ihre Landressourcen.
    Agglo: Aber schauen Sie sich doch die Dörfer in den Bergregionen an, die nun von dieser Initiative betroffen sind. Dort gehen Arbeitsplätze in Bauwirtschaft und Tourismus verloren. Das ganze lokale Gewerbe leidet, weil die Städter aus ihrer nostalgischen Sehnsucht nach unberührter Natur diese Initiative durchdrückten.
    Stadt: Das ist doch aber eine verkehrte Welt! Einerseits wenden Sie sich gegen die Stadt, weil Sie das Ländliche dem Städtischen vorziehen, und wenn es darum geht, dieses Ländliche auch für eine kommende Generation zu erhalten, wollen Sie davon nichts wissen und fordern das Recht und die Freiheit, weiter in die Landschaft hinauszubauen.
    Agglo: Das hat tatsächlich mit anderen Vorstellungen über Recht und Freiheit zu tun. Es geht doch nicht, dass Basler, Genfer oder Zürcher den Wallisern oder den Tessinern sagen, ob sie in ihrem eigenen Kanton bauen dürfen oder nicht. Jede Gemeinde ist autonom und kann über ihr Territorium selbst bestimmen. Deshalb sind auch Gemeindefusionen problematisch, weil dabei immer ein Stück Unabhängigkeit und Identität preisgegeben wird. Über Kantonsfusionen müssen wir schon gar nicht reden.
    Stadt: Es scheint tatsächlich so, als dürfe man nicht einmal darüber reden, geschweige denn Simulationsstudien in Auftrag geben, die objektive Daten und Grundlagen liefern über Vor- und Nachteile einer Kantonsfusion. Das beste Beispiel ist der Kanton Baselland.
    Agglo: Wieso Geld für teure Studien ausgeben, wenn ohnehin klar ist, dass eine Fusion nicht erwünscht ist. Wollen wir riskieren, dass die bürgerliche Landschaft von der rot-grünen Politik der Stadt über den Tisch gezogen wird? Nein! Wollen wir höhere Verwaltungskosten durch mehr Administration? Nein! Wollen wir unsere ländliche Identität aufgeben? Nein!
    Stadt: Da kommt aber viel Ablehnung, die bei genauer und objektiver Betrachtung nicht haltbar ist. Der Landkanton ist bevölkerungsreicher, wird also auch in einem fusionierten Kanton bei Abstimmungen mehr politisches Gewicht in die Waagschale werfen können. Ein Kanton ist administrativ zunächst einmal viel schlanker aufgestellt als zwei Halbkantone. Das Problem ist wohl eher, dass zahlreiche Beamte und Gemeindepolitiker um ihre Ämtlein fürchten!
    Agglo: Trotzdem bleibt das Problem der verlorenen Identität, wir sind nicht Stadt, wir sind Land.
    Stadt: Wenn Identität nur durch Abgrenzung gegenüber der Stadt definierbar ist, dann ist das aber eine schwache Identität! Gerade die Liebe und Verbundenheit zur Landschaft ist ein Grund zur Fusion mit der Stadt. Funktionen können zusammengelegt werden, es wird weniger Land verbaut, und die Agglomeration wird aufgewertet, weil die Zusammenarbeit mit der Stadt eifersuchtslos und pragmatisch angepackt werden kann. Die Stadt Basel braucht die Landschaft, und Basel-Land braucht die Stadt. Zusammen sind sie sowohl wirtschaftlich als auch politisch stärker.
    Agglo: Stadt und Land arbeiten ja in wichtigen Dossiers ohnehin zusammen; das funktionierte ja offenbar bisher. Außerdem führte Zusammenarbeit mit der Stadt stets zu hohen finanziellen Belastungen, zum Beispiel für kulturelle Leistungen wie das Theater, welche nur von wenigen Leuten genutzt werden. Es gibt auch eine Kultur in den Agglomerationen und Dörfern, die gefördert und erhalten werden will. Unsere Gesangsvereine, unsere Mehrzweckhallen, unsere regionalen Feste.
    Stadt: Niemand will populäre Kultur abwürgen, weder in der Stadt noch auf dem Land. Ich bezweifle aber, dass man sie in einem "pseudoländlichen" Kontext für die Zukunft bewahren und für die Jungen einer nächsten Generation attraktiv erhalten kann. Es verändert sich alles, und nur durch ständige Veränderung und Infragestellung lassen sich Traditionen und Werte aufrechterhalten.
    Agglo: Das ist doch keine Generationenfrage. Es wird immer Menschen geben, welche sich auf dem Land wohler fühlen und das Stadtleben ablehnen. Das erlebt die Stadt ja sogar in ihren eigenen Mauern. Einzonung von Familiengärten für Wohnüberbauungen werden abgelehnt, obwohl mehr Menschen davon profitieren könnten, Zonenplanrevisionen haben es schwer beim Volk, weil die Leute Hochhäuser und Verdichtung nicht mögen. Die von Ihnen verspottete dörfliche Mentalität erfasst also auch die Stadt. Viele wollen auch in der Stadt an Orten wohnen, die dörflichen, ja bäuerlichen Charakter haben.
    Stadt: Bäuerlich ist das nicht, aber tatsächlich gibt es eine Bewegung hin zu landwirtschaftlicher Produktion mitten in der Stadt. Urban-Farming-Pioniere produzieren auf Flachdächern von Lokremisen frisches Gemüse und betreiben Fischzucht. Aber das ist Ausdruck einer urbanen Kultur und nicht einer bäuerlichen Retro-Bewegung. Das ist eine kreative Form, an verdichteten, "unmöglichen" Orten Qualität zu produzieren. Es ist auch ein weiterer Beweis, dass Kreativität und Innovation in der Stadt entstehen, weil dort seit je Konkurrenz und der Druck, sich zu behaupten, herrschen, während außerhalb der Stadt Selbstgenügsamkeit und Abwehrhaltung gegenüber Neuem dominieren. Wenn Sie sagen, die dörfliche Mentalität erfasse die Stadt, so antworte ich, dass nur eine urbane Mentalität die Agglomeration vor der Verslumung und Verwahrlosung retten kann. Nur dann wird diese riesige schweizerische Nicht-Stadt, in der über die Hälfte der Schweizerinnen und Schweizer leben, zum attraktiven Ort für Menschen und für Firmen.
    Agglo: Es entspricht doch nicht der Schweizer Mentalität, die Vororte zu verstädtern. Das ging höchstens noch zur Zeit der Eingemeindungen Anfang des 20. Jahrhunderts, als z. B. das Weinbauerndorf Höngg von Zürich oder das Fischerdorf Kleinhüningen von Basel einverleibt wurde. Das wäre doch heute undenkbar! Nennen Sie mir einen einzigen Ort in der Schweiz, wo das heute probiert wird.
    Stadt: Es gibt leider bis jetzt nichts Beispielhaftes, aber interessante Versuche: L'Ouest Lausannois, Zürich Glatttalstadt und die Birsstadt vor den Toren von Basel. Interessant ist vor allem, dass die Initiative zur gemeinsamen Planung mittlerweile von den Gemeinden ausgeht und nicht bloß auf Druck der Kantone, das heißt bottom-up. Diese Beispiele werden zeigen, ob es der Schweiz gelingt, für das Problem der Zersiedlung und des Bevölkerungswachstums eine eigene, spezifische Lösung zu finden, einen neuen Föderalismus, der ohne Heimatparolen und Subventionen überleben kann.

    Moderatorin Barbara Schäfer: Jacques Herzog, 1950 in Basel geboren, studierte von 1970 bis 1975 Architektur an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich bei Aldo Rossi und Dolf Schnebli. Auf der Architekturbiennale in Venedig hatte er Zeit für ein kurzes Interview über den Schweizer Soziologen Lucius Burckhardt, der in den Siebzigerjahren in Zürich lehrte, als Jacques Herzog und Pierre de Meuron ihn kennenlernten. Jacques Herzog.
    Jacques Herzog: Wir waren zwei Jahre bei ihm Studenten. Also unser Architekturstudium fing eigentlich mit Lucius Burckhardt an, und wir haben zwei Jahre bei ihm studiert an der ETH Zürich. Das war das eine, und weil wir beide in Basel zu Hause sind und wohnten, haben wir häufig den Zug genommen, um zu pendeln. Und da, das war natürlich sehr privilegiert, dass wir da auf diesen Zugreisen extrem viel direkt so mitbekommen haben von Lucius. Er ist ein ganz wichtiger Denker und Soziologe. Er war ein Pionier, indem er die Soziologie an die Architekturschule brachte in der Schweiz.
    Schäfer: Hatte er einen Architekturlehrstuhl oder war es Soziologie?
    Herzog: Er hatte natürlich einen Architekturlehrstuhl - das gab es da noch nicht, Soziologie -, und weil er eben nicht Architekt war, hatte man ihm nicht einen Lehrstuhl, sondern hat das Lehrcanapé genannt, indem man einen Architekten dazu nahm, damit das als legitimer Architekturunterricht gelten konnte. Und man konnte auch Projekte machen, aber eigentlich machte niemand im herkömmlichen Sinn Architekturprojekte mit Plänen und Zeichnungen und Modellen, sondern eher theoretische Arbeiten.
    Schäfer: Genau, das klingt nach großer Theorie, das klingt nach jemand, der sozusagen ein Mind-Opener ist für etwas, was man vorher vielleicht nicht bedacht hat in seinem Fach, aber dann gibt es auch den Lucius Burckhardt, der Spaziergänger, der Flaneur war, der Erfinder der Promenadologie?
    Herzog: Das hängt natürlich alles zusammen, weil bei ihm war ja ein Widerstand da gegen - er war eigentlich ein klassischer Vertreter einer alten Bourgeoisie. Burckhardt ist ja ein altes Geschlecht in Basel, er ist ja ein Verwandter auch von dem berühmten Historiker Jacob Burckhardt, den er zwar nicht mochte - aber das sind diese alten Familien, also eine alte Patrizierfamilie, das ist die eine Wurzel, die er hat, diese alte Basler Patrizierfamilie. Das andere war etwas sehr Revolutionäres, also etwas sehr Sozialkritisches - er war eigentlich ein Linker. Und in beiden Wurzeln steckt auch etwas von Verweigerung, also die alten Adeligen oder Patrizier waren einfach nicht in dem Maße wie andere interessiert an einer ständigen Veränderung der Gesellschaft oder an einem ständigen Verändern der Stadt in dem Sinne, dass man durch Bauen, durch Wachstum die Städte verändert, sondern in einem ganz anderen Prozess. Und das kam bei ihm eben zusammen, dieses Verweigern des Wachstums, der Wachstumsgläubigkeit dieser Zeit. Diese Kritik, seine Kritik der beginnenden Postmoderne sozusagen. Und bei ihm kam auch zusammen etwas, das dann später in der grünen Politik weiterging, nämlich die ökologische Seite, das heißt, das Wahrnehmen der Spontanpflanzen, die sich in den Städten eher finden, der kleinen Dinge, der unwichtigen Dinge, die man dem langsam sich Bewegenden beim Spazieren eher wahrnimmt als beim Fortbewegen via Autobahn, via Flugzeug. All diese Transportmittel der Moderne und die Geschwindigkeit und das Wachstum quasi versinnbildlichen, oder. Das sind alles so Elemente, die er in seine Kritik aufnahm. Und er war ja auch einer der Vordenker und Mitbegründer der Grünen Partei.
    Schäfer: Man kann den Eindruck gewinnen, dass Basel ein Zentrum von Urban Gardening 2.0 wird oder schon ist eigentlich. Beziehen die sich auf Lucius Burckhardt?
    Herzog: Basel hat natürlich eine sehr starke Tradition in diesen innovativen Ansätzen, die letztlich natürlich auch aus der Kunst einerseits, das ist eine starke Wurzel in Basel, aber auch die Naturwissenschaften. weiß man ja, Life Science, Pharmaindustrie, das ist ja nicht umsonst dort. Es gibt sehr viele Leute, die aus der Forschung kommen, und letztlich sind ja das alles Sachen, die irgendwie zusammenhängen. Und Urban Gardening finde ich persönlich auch ein interessantes Phänomen, ist aber auch einfach wieder eine Bewegung von heute. Bei Lucius war es eigentlich viel grundsätzlicher noch so, dass er einfach, bevor man überhaupt irgendetwas verändert, schaut, wie kann man mit dem Bestehenden umgehen, und das durch die eigene Wahrnehmung schon sich verändert. Und dass die Promenadologie, die Sie erwähnten, ist ja genau das, dass durch diese sorgfältige und langsame Bewegung durch die Städte sich einem Dinge erschließen, das Sie sonst gar nicht tun. Ich meine, ganz krass ist es ja, wenn man heute irgendwelche Leute anschaut, das gab es ja zu seiner Zeit noch nicht, das Mobiltelefon. Alle sind ja nur noch mit dem Mobiltelefon beschäftigt - ich sage das jetzt nicht als Kritik, sondern das ist einfach eine Tatsache -, da bleibt gar keine Zeit und keine Muße, irgendwas anderes anzuschauen. Das heißt, die Welt draußen ist gar nicht mehr in dem Sinn Teil der Wahrnehmung, oder nur noch selten. Die meisten Leute riechen auch nicht, dass jetzt gerade die Lindenbäume blühen, was ja sehr typisch ist gerade für die Jahreszeit, wo wir jetzt drin sind. Oder dass es jetzt da nach Wasser riecht in Venedig. All diese Sachen, die ja ein Teil unserer Human Condition, also unserer menschlichen Wahrnehmungsfähigkeiten, all dieser Sinne, die wir haben. Das sind ja alles Potenziale, Möglichkeiten, die wir nicht mehr ausschöpfen, wenn wir ständig beschäftigt sind mit dem Mobiltelefon. Das sind eher Sachen, die für ihn wichtig waren. Und das Urban Gardening ist einfach interessant, weil wir die Stadt oder das Potenzial der Stadt mehr nutzen. Wir gehen auf die Dächer und machen auf den Dächern Fischzucht und Gemüse. Das finde ich eigentlich interessant, dass die Dächer einfach nur als technisches Überbleibsel mit Abluftrohren zu sehen. Also in dem Sinn ist das schon auch ein Weiterdenken. Das ist ein Denken, das weiter geht.
    Schäfer: Sie haben ja diesen Dialog geschrieben auf der Grundlage von einer Vorlage von Lucius Burckhardt aus dem Jahr 1961.
    Herzog: Ich habe das Format übernommen, diesen fiktiven Dialog, den fand ich interessant, um nicht nur eben aus einer Perspektive zu schreiben, nämlich sag‘ ich mal aus der Perspektive dessen, der sich für die Stadt engagiert, sondern auch von der Gegenposition. Weil das erlaubt eigentlich, Gegenpositionen einzunehmen und einzubauen, ohne dass man da immer quasi komplizierte Übergänge schaffen muss. Das ist eine reine Frage des Formats. Aber inhaltlich ist das, glaube ich, anders, weil wir heute schon wieder andere Voraussetzungen haben. Und die Argumente kennen wir ja. Oder in der Schweiz oder SVP, die Haltung gegenüber Fusion, jetzt im Fall von Kanton Basel Stadt, Basel Land, alles, was Zusammengehen, Brücken bauen, einander die Hand reichen, mit Nachbarn sich einlassen, Stichwort Europa, das sind alles Sachen, die quasi von der Rechten bei uns bekämpft werden und die letztlich auch einen antiurbanen Reflex beinhalten. Darum geht es mir eigentlich in dem Text, das aufzuzeigen.
    Das ist natürlich eine sehr schweizerische Debatte, letztlich das Verweigern von Stadt. Die Schweiz ist eine gegen den Willen urbanisierte Landschaft eigentlich. Es gibt ja in der Schweiz nicht wirklich große Städte, es gibt einfach erfolgreiche Städte. Und es gibt natürlich in diesen Städten schon urbane Menschen, eine urbane Kultur, aber es ist nicht in dem Sinne urban, wie wir das in anderen Ländern kennen, wo es viel größere Zusammenballungen gibt von Menschen und auch urbaner Architektur, viel dichtere Architektur, viel höhere Architektur. Und in der Schweiz gibt es einfach eine große Verweigerungshaltung dieser Urbanität gegenüber.
    Schäfer: Die kommt aus der Stadt oder die kommt vom Land?
    Herzog: Letztlich ist das eine überall inhärente Haltung, auch die Städter letztlich haben häufig eine nicht städtische Haltung. Das sage ich ja auch in dem Gespräch, es gibt ja auch in den Städten eine Haltung, die letztlich gegen das Wachstum, gegen die weitere Verdichtung gerichtet ist. Das, merke ich gerade, spielt sich nicht nur in der Schweiz ab, sondern auch in Deutschland. Deutschland hat ja auch eine eher germanische Tradition, das heißt, eigentlich nicht eine urbane Kultur, wie das im Süden viel stärker ausgeprägt ist. Wenn ich daran denke, dass in Berlin die Leute von links bis rechts neue Wohnquartiere, Verdichtung quasi in- und ablegen, auf dem Tempelhof-Areal, ist das eigentlich fast nicht zu glauben. Weil, Berlin ist ja nicht eine Stadt, die an Grünflächen mangelt, die an Freiraum mangelt, an offenem Raum. Das ist eine tiefer liegende Unzufriedenheit dem weiteren Wachstum, der weiteren Verdichtung, der weiteren Urbanisierung gegenüber.
    Schäfer: Aber Sie profitieren alle von der Urbanisierung, weil Sie ja dort wohnen!
    Herzog: Genau, aber dem Menschen ist es ja Wurst, ob sie profitieren. Die denken ja nicht rational, sondern sie denken nur sehr egoistisch und persönlich. Das werden wir auch nie ändern können, das ist auch irgendwo verständlich. Aber vielleicht müssen wir und alle, die mit Stadt zu tun haben, ganz anders denken. Wir müssen vielleicht wirklich bereit sein, Stadt nur noch dort weiterzudenken und weiterzubauen, weiter zu verdichten, wo schon was steht. Und alles, was noch nicht bebaut ist, müssen wir einfach in den nächsten Jahren, Jahrzehnten zunächst mal so lassen.
    Schäfer: Das war der Architektursommer in Essay und Diskurs, heute mit der dritten Folge "Stadt - Nicht-Stadt Schweiz", ein fiktiver Dialog von Jacques Herzog und ein kurzes Gespräch mit dem Basler Architekten. Den Dialog sprachen Susanne Flury und Walter Gontermann. Die Zitate in der Sendung sprachen Volker Risch und Franz Laake. Technik Sylvia Kraus. Redaktion und am Mikrofon Barbara Schäfer.
    Am nächsten Sonntag hören Sie ein Gespräch über Soziales Bauen mit dem Direktor des Architekturmuseums der TU München, Andres Lepik.
    Architektursommer Teil 4: "Soziale Architektur" am 27.07.2014