Ein katholischer Gottesdienst in einem Elendsviertel von Buenos Aires – in normalen Zeiten wird hier jeden Abend die Messe gefeiert. Zurzeit jedoch sind religiöse Feiern – egal, welchen Credos – in Argentinien verboten. Es herrscht eine landesweite Pflicht-Quarantäne: Die Bevölkerung soll zuhause bleiben, damit eine massive Ausbreitung des Coronavirus‘ verhindert wird. Dies gilt auch für die Armenviertel mit ihren beengten Wohnverhältnissen.
"Die Häuser sind sehr klein und die Familien sind sehr groß – da ist es schwer, die Quarantäne strikt einzuhalten. Daher sagen wir den Leuten: Bleibt zuhause – oder bleibt zumindest in eurem Viertel."
Gustavo Carrara ist einer der katholischen Priester, die in vielen argentinischen Elendssiedlungen im Einsatz sind. Padre Gustavo betreut eine Gemeinde im Viertel Bajo Flores in Buenos Aires. Seit 2017 ist er außerdem Weihbischof der Erzdiözese der argentinischen Hauptstadt – ernannt von Papst Franziskus. Rund viertausend Elendsviertel gibt es in der Heimat des Papstes: Prekäre Behausungen aus Wellblech oder unverputzten Ziegelsteinen und eine schlechte oder nicht vorhandene Infrastruktur – das haben diese Armutsenklaven gemeinsam.
"Konkret heißt das: In vielen Vierteln gibt es nicht einmal fließendes Wasser, das ja zurzeit besonders notwendig ist, um sich die Hände zu waschen und die Unterkünfte zu reinigen", sagt der Soziologe Juan Ignacio Bonfiglio von der Universidad Católica Argentina. An dieser katholischen Hochschule gibt es eine Beobachtungsstelle, die regelmäßig über die Armutsentwicklung in Argentinien informiert. Sie hat jetzt auf die schwerwiegenden Konsequenzen des Coronavirus‘ für die Armenschicht hingewiesen, zu der bereits vor Ausbruch der Pandemie gut 35 Prozent der argentinischen Bevölkerung gehörten.
"Eine der Folgen ist: Diese Menschen sind direkt vom Einbruch der wirtschaftlichen Aktivität betroffen. Weil sie ihre überwiegend informelle Arbeit nicht ausüben können, verlieren sie ihre Einkünfte."
Keine Arbeit für die Ärmsten
Was das bedeutet, erleben die Priester in den Armenvierteln, wo sie nicht nur Seelsorger, sondern auch Sozialarbeiter sind und sich um alte Menschen, alleinerziehende Mütter und drogensüchtige Jugendliche kümmern. Die Armenküchen ihrer Gemeinden erleben infolge der Coronavirus-Quarantäne einen noch größeren Andrang als sonst. Bischof Gustavo Carrara:
"Viele Leute leben von der Hand in den Mund, verdingen sich als Gelegenheitsarbeiter, Müll-Recycler, Bauarbeiter oder Reinigungskräfte. Doch all diese Tätigkeiten können sie wegen der Ausgangs-Beschränkungen seit Wochen nicht ausüben. Daher der deutlich gestiegene Bedarf nach Nahrungsmittel-Hilfen."
Wie bedürftig die Menschen in den armen Gegenden Argentiniens sind, wurde am vergangenen Freitag auf erschreckende Weise deutlich: Zwei Wochen nach Beginn der Quarantäne hatten zum ersten Mal die Banken geöffnet und Hunderttausende strömten nach draußen – getrieben von der Notwendigkeit, ihre magere Rente oder Sozialhilfe zu kassieren. Menschen über 65, die durch den Coronavirus besonders gefährdet sind und stundenlang Schlange stehen mussten: Ein organisatorisches Versagen von Behörden, Banken und Gewerkschaften, über das sich Präsident Alberto Fernández verärgert zeigte. Er räumte ein, das Chaos habe seine Bemühungen, mit der Quarantäne die Pandemie zu bremsen, gefährdet. Die Regierung Fernández hatte früh gehandelt – aus Angst vor einem Kollaps des Gesundheitssystems. Bisher zumindest ist die Pandemie in Argentinien weniger dramatisch verlaufen als anderswo.
Vaterunser mit dem Präsidenten
"Bleib zuhause", predigt der Präsident seit Wochen. Er hat sogar einen Videospot mit einer Gruppe von Armenpriestern aufgenommen – gerichtet an die Bewohner der Elendssiedlungen.
Der Spot endet mit einem gemeinsamen Vaterunser. Seit seinem Antritt im Dezember hat sich der Peronist Alberto Fernández schon mehrmals mit den Armenpriestern getroffen. Der Religionssoziologe Fortunato Mallimaci analysiert diese Nähe:
"Ein Präsident, der gemeinsam mit Priestern das Vaterunser betet – das verstärkt die in Argentinien seit jeher existierenden Bande zwischen Religion und Politik. Der Präsident weiß, dass diese Geste ihm nutzt. Aber auch die Kirche gewinnt durch die Nähe zur Regierung an Legitimität."
Fortunato Mallimaci untersucht regelmäßig das Verhältnis der Gesellschaft zu den Religionen und weiß, dass selbst viele nicht gläubige Argentinier die katholische Kirche für eine glaubwürdige Institution halten. Präsident Fernández scheint das wohl bewusst zu sein. Er zeigt auch eine demonstrative Nähe zu seinem Landsmann Franziskus. Ende März, bei der Videokonferenz der G20-Staaten, schlug Fernández angesichts der COVID-19-Pandemie einen globalen Solidarpakt vor und zitierte den Papst: Es sei nötig, mit "einer neuen Sensibilität" zu handeln. Soziologe Mallimaci:
"Der argentinische Präsident hat bei der G20-Konferenz auch gesagt, dass er die Gesundheit und das Leben der Menschen über die Interessen der großen Finanz- und Wirtschaftsgruppen stellt. In der Coronavirus-Krise üben unsere Regierung und der Papst den Schulterschluss."