"Einmal sah ich Borges im Halbdunkel. Ich fragte ihn - dumme Frage eines Halbwüchsigen - Borges, warum sind Sie allein? Er antwortete: Ich bin nie allein, ich habe meine Bibliothek."
Als Alberto Manguel diese Anekdote 2014 erzählte, wusste er noch nicht, dass er einmal dasselbe Amt bekleiden würde, das der berühmte Schriftsteller Jorge Luís Borges von 1955 bis 73 innehatte: Direktor der argentinischen Nationalbibliothek. Im Dezember hat Argentiniens neue Regierung Manguel auf diesen Posten berufen. Aus dem jungen Mann, der einst dem erblindeten Borges vorlas, ist ein weltbekannter, hochgeachteter Autor geworden.
Auf Deutsch liegt von Alberto Manguel ein Dutzend Buchtitel vor, darunter "Eine Geschichte des Lesens" und "Die Bibliothek bei Nacht". Ein großer Teil von Manguels Werks dreht sich um Bücher, ums Lesen - er selbst besitzt eine Bibliothek mit 40.000 Bänden. Die Geschicke von Argentiniens Nationalbibliothek in seine Hände zu legen, scheint daher eine kluge Entscheidung. Das findet auch die Essayistin María Pia López:
"Manguel ist ein intellektueller Humanist, mit viel Interesse und viel Liebe für die Kultur des Buches. Wir haben aus der Nationalbibliothek eine sehr aktive und moderne Bibliothek gemacht. Ich denke, Manguel mit seinen Kontakten in der ganzen Welt könnte ihr eine stärkere internationale Ausrichtung geben."
240 Angestellte wurden entlassen
María Pia López leitete bis Dezember das der Nationalbibliothek angegliederte "Museum des Buches und der Sprache", das Ex-Direktor Horacio González ins Leben rief. González, ein angesehener Intellektueller mit ideologischer Nähe zur Regierung von Cristina Kirchner, hatte den Posten elf Jahre lang inne - bis zum Regierungswechsel Ende 2015. Er begann einen Prozess der Modernisierung und Digitalisierung, zog mehr Nutzer an, schuf einen bibliothekseigenen Verlag und richtete neue Abteilungen ein - darunter ein Kulturzentrum, das Lesungen, Ausstellungen und Konzerte organisierte. All dies ging mit einem erheblichen Personalzuwachs einher: Mehr als 700 neue Mitarbeiter wurden eingestellt, einige noch kurz vor Gonzalez' Abtritt. Unverhältnismäßig fand das die Regierung von Mauricio Macri - und ließ 240 der gut tausend Angestellten die Kündigung schicken.
"Es wurden nicht nur Leute entlassen, die vor Kurzem eingestellt wurden, sondern in einigen Fällen langjährige Mitarbeiter. Ganze Abteilungen wurden demontiert. Das große Problem ist, dass keiner die Verantwortung übernimmt. Die Leute wissen nicht, warum sie ihren Job verloren haben", kritisiert María Pia López.
Macri will den öffentlichen Dienst modernisieren und entpolitisieren, 11.000 Staatsbeschäftigte hat seine Regierung nach eigenen Angaben bisher entlassen. Doch nur der Personalabbau in der Nationalbibliothek rief Schriftsteller und Intellektuelle auf den Plan. Am Donnerstag veröffentlichten mehr als 400 Autoren und Akademiker aus der ganzen Welt, darunter der südafrikanische Nobelpreisträger John M. Coetzee, eine Erklärung, in der sie ihre Sorge über die Zukunft der Nationalbibliothek ausdrücken.
Neuer Direktor hat sich noch nicht geäußert
Die Unterzeichner bitten den designierten Direktor, der bisher geschwiegen hat, seine Pläne zu präsentieren. Alberto Manguel scheine sich in einem Elfenbeinturm zu befinden, meint Luisa Valenzuela, Präsidentin des argentinischen Pen-Zentrums, das ebenfalls gegen die Kündigungen protestierte:
"Ohne die Leute, die rausgeworfen wurden, stirbt die Bibliothek, die wir in den vergangenen Jahren genießen durften. Eine freundliche Bibliothek, in der nicht nur Bücher aufbewahrt wurden, sondern in der die Literatur lebendig wurde."
Wie Manguel sich seine Nationalbibliothek vorstellt, und was er von den Entlassungen hält, dazu wird er wohl in zehn Tagen Stellung nehmen müssen - dann kommt er nach Buenos Aires, um die Buchmesse zu eröffnen.