In Argentinien sind keine 30.000 Menschen verschwunden: Lässig sagte es der Kulturminister von Buenos Aires, Darío Lopérfido, dahin und löste damit einen Aufstand von Kunst- und Kulturschaffenden aus. Bei einer Podiumsdiskussion Ende Januar fügte der Minister noch hinzu, die Zahl von 30.000 Verschwundenen sei eine Lüge und konstruiert worden, um Subventionen zu erhalten: eine Anspielung auf das Bemühen argentinischer Menschenrechtler um internationale Unterstützung während der Militärdiktatur von 1976 bis '83.
"Er beleidigt nicht nur uns, sondern vor allem das Andenken an die 30.000, an unsere verschwundenen Kinder", empörte sich Tati Almeida, eine der Mütter der Plaza de Mayo, die seit Mitte der 1970er-Jahre ihre Söhne und Töchter suchen.
Nicht nur gegen linke Guerilleros, auch gegen Studenten und Gewerkschafter führten die argentinischen Militärs einen schmutzigen Krieg. Die Desaparecidos, Verschwundenen, wurden verschleppt, gefoltert und in den meisten Fällen ermordet. Nach der Diktatur arbeitete eine staatliche Kommission die Verbrechen auf und bezifferte die Zahl der Desaparecidos schließlich auf knapp 9.000. Doch Menschenrechtsorganisationen und viele Angehörige der Opfer glauben, dass es mehr waren. Sie sprechen seit Jahrzehnten von 30.000. Die Zahl ist zu einem Symbol geworden: für den Staatsterrorismus, für die Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
"Mit unserem Brief wollen wir nicht in die Diskussion über die Zahl der Verschwundenen einsteigen, sondern klarstellen, dass der Minister uns, die Kulturschaffenden von Buenos Aires, nicht repräsentiert."
2.500 Kulturschaffende fordern Rücktritt
Juan Pablo Gomez ist Dramaturg und Regisseur. Wie er haben bisher rund 2.500 argentinische Theatermacher, Schauspieler und andere Künstler die Rücktrittsforderung an Darío Lopérfido unterzeichnet. Sie alle sehen in Lopérfidos Äußerungen eine Leugnung oder zumindest eine Banalisierung, des Staatsterrorismus. Regisseur Gomez:
"Es ist gefährlich, dass ein Vertreter des Staates solche Aussagen macht. Andere könnten seinem Beispiel folgen. Möglicherweise wird die Zahl der Verschwundenen von Politik und Menschenrechtsorganisationen noch einmal debattiert werden. Aber die Art und Weise, in der sich Lopérfido geäußert hat, immerhin unser Kulturminister, ist nicht akzeptabel."
An den Äußerungen des 51-jährigen Ministers stört die ehemalige Politikerin Graciela Fernández Meijide weniger der Inhalt als der Ton. "Fast frivol" sei es ihr vorgekommen, wie Lopérfido von der Tragödie der Argentinier sprach, sagt sie. Es ist auch ihre ganz persönliche Tragödie, denn Fernández Meijides Sohn verschwand während der Diktatur als Schüler. Die Mutter arbeitete später in der Kommission, die die Fälle der Verschwundenen dokumentierte - und hatte mit der Zahl 30.000 immer ihre Probleme:
"Von 30.000 zu sprechen, ist für mich eine Banalisierung. Damit wird man den Verschwundenen nicht gerecht und verwandelt sie in ein Nichts. Die Opfer haben ein Recht darauf, dass man sie genau zählt, jedes von ihnen einzeln."
Sorge um laschen Umgang der neuen Regierung mit Vergangenheit
Doch der Aufruhr, den der Kulturminister von Buenos Aires mit seinen öffentlich vorgetragenen Zweifeln an der Zahl 30.000 auslöste, zeigt, wie heikel das Thema für die argentinische Gesellschaft nach wie vor ist. Hinter der Entrüstung steckt auch die Sorge, die neue Mitte-Rechts-Regierung, zu deren Vertretern Darío Lopérfido gehört, könnte einen Schlusspunkt unter die juristische Aufarbeitung der Verbrechen setzen.
Die Regierung bestreitet jedoch, dass sie das vorhat. Und ihr Menschenrechtssekretär distanzierte sich von Lopérfidos Worten. Der Minister selbst erklärte auf seiner Facebook-Seite, er habe nicht beabsichtigt, die furchtbaren Verbrechen der Diktatur zu relativieren. Seinen Rücktritt fordert ein Teil der Kulturwelt von Buenos Aires trotzdem.