Buenos Aires, vor zehn Tagen. Im strömenden Regen bewegen sich mehrere hunderttausend Menschen durch das Zentrum der argentinischen Hauptstadt. Es ist ein Schweigemarsch, doch vereinzelt ist Applaus zu hören. Er gilt dem am 18. Januar tot aufgefundenen Staatsanwalt Alberto Nisman. Eine Frau unter ihrem aufgespannten Regenschirm:
"Unsere Regierung hat wegen Nismans Tod kein Beileid geäußert. Mit diesem Marsch wollen wir Nismans Familie kondolieren. Es ist eine Ungerechtigkeit, was mit dem Staatsanwalt passiert ist. Wir sind hier, um Nisman Ehre zu erweisen."
Alberto Nisman war während eines Jahrzehnts der Sonderermittler zur Aufklärung des Attentats auf den jüdischen Wohlfahrtsverband AMIA im Juli 1994. 85 Menschen starben bei diesem größten Terroranschlag in der Geschichte Argentiniens. Nisman beschuldigte die damalige Regierung Irans, hinter dem Attentat von Buenos Aires zu stecken, und die libanesische Hisbollah-Miliz, es ausgeführt zu haben. Er forderte die Auslieferung iranischer Funktionäre; Interpol setzte sie auf ihre Fahndungsliste. Und in der Woche vor seinem mysteriösen Tod ließ Nisman die Bombe platzen: Argentiniens peronistische Präsidentin Cristina Kirchner und ihr Außenminister hätten Iran ungeschoren davonkommen lassen wollen.
"Es gab ein Bündnis mit den Terroristen. Es wurde mit dem Staat verhandelt, der Terroristen geschützt hatte. Im Januar 2011 wies Präsidentin Cristina Kirchner ihren Außenminister an, Iran einen Ausweg zu ebnen und nicht mehr darauf zu bestehen, dass Teheran das Attentat auf die AMIA geplant habe."
So der Sonderermittler in einem Fernsehinterview am 14. Januar 2015, nachdem er die Präsidentin und ihren Außenminister angezeigt hatte.
Mord oder Selbstmord?
Nismans Vorwürfe hat ein Bundesrichter inzwischen als nicht ausreichend für die Aufnahme eines Strafverfahrens eingestuft. Es gäbe keine Beweise dafür, dass Kirchner und Co die iranischen Verdächtigen in verbrecherischer Absicht hätten schützen wollen. Fest steht: Vier Tage, nachdem Nisman die Präsidentin angezeigt hatte, wurde er mit einem Kopfschuss in seinem Badezimmer gefunden. Mord oder Selbstmord? Die Justiz konnte es bisher nicht klären. Argentinische Medien beschäftigten sich in den vergangenen Tagen verstärkt mit der Möglichkeit, Nisman könnte sich das Leben genommen haben. Aber viele Argentinier glauben, dass der Staatsanwalt ermordet wurde. Die unterschiedlichsten Thesen kursieren: Regierungs- oder regierungsnahe Kreise, entlassene argentinische Geheimdienst-Agenten oder Irans Geheimdienst könnten hinter Nismans Tod stecken. Der Schweigemarsch war auch ein Protest gegen die Art und Weise, wie Präsidentin Kirchner auf Nismans Tod reagiert hatte: kein öffentliches Bedauern, stattdessen Spekulationen über einen Selbstmord des Sonderermittlers auf Kirchners Facebook-Seite - wenige Tage später dann ein Umschwenken auf die Mord-These. Der Soziologe Marcos Novaro sieht Kirchners Reaktion überaus kritisch:
"Es ist möglich, dass Kirchner und ihre Regierung für Nismans Tod nicht verantwortlich sind. Aber mit ihren Selbstmord-Spekulationen hat die Präsidentin versucht, einen Staatsbeamten, der sie anklagte, in nichts anderes als einen zivilen Toten zu verwandeln. Ich sehe darin ein totales Fehlen von Respekt für seine Rolle als Staatsanwalt."
Gestern in Buenos Aires: Präsidentin Kirchner eröffnet die Sitzungsperiode des Parlaments, sie redet fast vier Stunden lang. Draußen vor dem Kongressgebäude findet eine Großdemonstration ihrer Anhänger statt, drinnen wettert Kirchner, sie habe stets für die Aufklärung des Attentats auf die AMIA gekämpft. Und, gestärkt durch den Richterspruch der letzten Woche, verurteilt sie Alberto Nismans Anschuldigungen scharf.
Alberto Nisman sollte die Aufklärung des Anschlags auf AMIA aufklären
Rückblende: Die Explosion einer Autobombe vor dem Sitz des jüdischen Wohlfahrtsverbandes in Buenos Aires lag bereits ein Jahrzehnt zurück, als Alberto Nisman 2004 zum Sonderermittler ernannt wurde. Er sollte die Aufklärung des Terroranschlags endlich voranbringen. Denn bei den Ermittlungen der Justiz gegen die mutmaßlichen argentinischen Verantwortlichen des Attentats war es zu schweren Unregelmäßigkeiten gekommen. Der Richter hatte einem Verdächtigen Geld angeboten, um dessen Aussage zu manipulieren. 2004 endete ein Prozess mit dem Freispruch aller Angeklagten - aus Mangel an Beweisen.
Die Angehörigen der 85 Anschlagsopfer, deren Namen jedes Jahr am 18. Juli bei einer Gedenkveranstaltung verlesen werden, standen vor dem Nichts. Unter ihnen: Laura Ginsberg - sie verlor bei dem Anschlag ihren Ehemann. Die Angehörigen sind seit Langem gespalten. Ginsberg und ihre Gruppierung APEMIA glauben, dass der argentinische Staat mitschuldig am Attentat auf die AMIA ist, und bisher alles getan hat, um das zu verschleiern:
"Unser Geheimdienst und unsere Sicherheitskräfte waren in den Anschlag verwickelt. Das Ziel des Prozesses, der 2004 mit dem Freispruch der Angeklagten endete, war, die hiesigen Verantwortlichkeiten zu vertuschen. Die argentinischen Komplizen sollten nicht gefunden werden. Ab 2004 wurde der Schwerpunkt auf die internationalen Ermittlungen gelegt, die Nisman übernahm."
Alberto Nisman war überzeugt: Den Anschlag, bei dem Laura Ginsbergs Mann getötet wurde, hatte die Regierung Irans geplant. Der Staatsanwalt 2009 gegenüber dem Deutschlandfunk:
"Es steht fest und ist von einem Bundesrichter und von Interpol bestätigt worden, dass das Attentat von höchster Stelle im Iran angeordnet, geplant und finanziert wurde."
Iran und der Anschlag
Auch an den Beweggründen Irans hatte Alberto Nisman keinen Zweifel. Er sah das Attentat auf die AMIA als blutige Antwort darauf, dass Argentinien die Lieferung von Atomtechnologie an Teheran ausgesetzt hatte. Dies sei auch das Motiv für den Anschlag auf Israels Botschaft in Buenos Aires im Jahr 1992 gewesen. Beide Terrorakte sah Nisman in einer Reihe mit anderen Attentaten Irans im Ausland, darunter die Ermordung iranisch-kurdischer Oppositioneller im Berliner Restaurant Mykonos 1992. Unterstützt wurde der Ermittler vom inzwischen verstorbenen Ex-Präsidenten Néstor Kirchner. Vor der UN-Vollversammlung rief Kirchner Jahr für Jahr Teheran zur Zusammenarbeit mit Argentiniens Justiz auf, zur Auslieferung der mutmaßlichen Drahtzieher des Anschlags. Staatsanwalt Nisman betonte kurz vor seinem Tod:
"Die Regierung von Néstor Kirchner hat politisch am meisten für die Aufklärung des Attentats auf die AMIA getan. Doch seine Witwe Cristina Kirchner, die amtierende Präsidentin, vollzog eine radikale Kehrtwende. Das Memorandum, das ihre Regierung 2013 mit Iran unterzeichnete, sollte angeblich Bewegung in die Aufklärung des Attentats bringen - aber das ist eine große Lüge! Mit dem Memorandum wurde die Straffreiheit Irans besiegelt."
Die Unterzeichnung eines Memorandums mit der Regierung des iranischen Ex-Präsidenten Mahmud Ahmadinedschad hatte Anfang 2013 für großes Aufsehen in Argentiniens Öffentlichkeit gesorgt. Beide Regierungen vereinbarten die Einsetzung einer sogenannten Wahrheitskommission, der Juristen angehören sollten - weder Argentinier noch Iraner. Die Kommission sowie die argentinische und die iranische Justiz sollten in Teheran die acht Verdächtigen vernehmen können.
"Dies ist ein historischer Moment, weil nun die Aufklärung des Attentats vorankommen wird, wie es die Familien der Opfer immer gefordert haben", versicherte damals Außenminister Hector Timerman.
Argentiniens Kongress stimmte dem Abkommen zu, doch anders, als Timerman angekündigt hatte, machte die Aufklärung keinerlei Fortschritte, eine Wahrheitskommission wurde niemals einberufen. Und die Kritik am Memorandum mit Iran wuchs in Argentinien. Im vergangenen Mai erklärte es die Justiz schließlich für verfassungswidrig. Miguel Steuermann, Direktor des jüdischen Radiosenders Jai in Buenos Aires, sah die Vereinbarung von Anfang an skeptisch:
"Sie bedeutete ein Eindringen der Exekutive in die Arbeit der Justiz. Wenn die Iraner nichts zu verbergen hätten, hätten sie doch längst mit der argentinischen Justiz kooperieren können. Das haben sie aber nie getan. Stattdessen unterzeichneten sie ein Memorandum mit Argentiniens Regierung, mit dem sie nur ein Ziel verfolgten: Dass das internationale Auslieferungs-Ersuchen von Interpol aufgehoben wird."
Iran wolle mit dem Memorandum Straffreiheit erreichen, warnten Kritiker bereits vor zwei Jahren. Alberto Nisman aber bezichtigte die Regierung von Cristina Kirchner, sie habe Iran aktiv Straffreiheit ermöglichen wollen. Eine geopolitische Neuorientierung und Handelsinteressen seien der Grund gewesen. Am vergangenen Donnerstag allerdings erlitt der Sonderermittler posthum eine herbe Niederlage. Ein Bundesrichter wies seine Anzeige gegen die Präsidentin zurück. Nach Analyse der fast 300-seitigen Begründung Nismans kam der Richter zu dem Schluss, die Bedingungen für die Aufnahme strafrechtlicher Ermittlungen seien nicht gegeben. Unter anderem deshalb, weil Nismans Vorwurf, die Kirchner-Regierung habe die iranischen Verdächtigen von der Interpol-Fahndungsliste nehmen lassen wollen, von Ex-Interpol-Generalsekretär Ronald Noble zurückgewiesen wurde.
Popularitätsverlust für argentinische Präsidentin
Ob Alberto Nisman sich geirrt hat oder nicht - sein rätselhafter Tod und die aus Sicht vieler Argentinier unangemessenen Reaktionen der Präsidentin haben die ohnehin nicht allzu hohe Popularität Kirchners weiter sinken lassen. Einer Umfrage zufolge fiel sie auf knapp 30 Prozent. Der Politologe Rosendo Fraga:
"Kirchners Popularitätsverlust bedeutet aber keinen Verlust ihrer politischen Macht. Ihre Regierung hat nach wie vor die Mehrheit in beiden Parlamentskammern. Der Kongress ist total auf Regierungslinie, alle ihre Gesetzesinitiativen werden von beiden Kammern abgesegnet."
Ein Beispiel: Das Gesetz zur Schaffung eines neuen Geheimdienstes, das Argentiniens Präsidentin wenige Tage nach Alberto Nismans Tod ankündigte, und das die Regierung in kürzester Zeit durch den Kongress peitschte - in der vergangenen Woche stimmte das Abgeordnetenhaus zu. Der alte Geheimdienst stand unter anderem wegen personeller Altlasten aus der Zeit der Militärdiktatur in der Kritik. Die neue Agentur soll laut Regierung transparenter sein, und weniger autonom agieren. Die zersplitterte Opposition war gegen das Gesetz - aber präsentierte kein eigenes Projekt für eine Geheimdienst-Reform. Cristina Kirchner hatte es in ihrer fast achtjährigen Regierungszeit mit keinem starken politischen Gegner zu tun, und die Suche von parteiübergreifendem Konsens war ihre Sache nicht. Politikwissenschaftler Fraga:
"Meiner Meinung nach hat die Präsidentin nur eine Art auf Konflikte, Niederlagen und Bedrohungen zu reagieren: Sie verdoppelt den Einsatz. Niemals weicht sie zurück, sucht den Dialog oder verhandelt. Die Opposition begrenzt die Macht der Regierung nicht - stattdessen hat die Justiz diese Schrankenfunktion übernommen. Der Konflikt zwischen Regierung und Justiz hat sich durch den Fall Nisman verschärft."
Konflikt zwischen Regierung und Teilen der Justiz
Der Konflikt zwischen Regierung und Teilen der Justiz hat Cristina Kirchners Amtszeit ebenso geprägt wie der Dauerclinch mit den regierungskritischen Medien. Kirchner will das Justizsystem nach eigenen Worten demokratisieren, doch ihre Gegner werfen ihr vor, es gehe ihr um mehr politische Kontrolle und weniger Unabhängigkeit der Richter und Staatsanwälte. Argentinische Gerichte ermitteln gegen mehrere Regierungsmitglieder und regierungsnahe Personen wegen Verdachts auf Korruption - auch gegen die Familie Kirchner, die mehrere Hotels besitzt. Zur Großdemonstration zu Ehren Nismans rief eine Gruppe von Staatsanwälten auf - die Präsidentin warf ihnen danach Putschgelüste vor. In einer Fernsehansprache an die Nation gab sich Kirchner kämpferisch:
"Mein Eindruck ist: der Justiz geht es nicht darum, Korruption zu verfolgen, sondern darum, meine Regierung und insbesondere mich selbst anzugreifen und zu verfolgen. Argentinier, ich lasse mich nicht erpressen und einschüchtern, ich habe keine Angst. Auch wenn mich Staatsanwälte anklagen und Richter vorladen - ich bleibe dabei: Das Justizsystem braucht eine umfassende Reform."
Präsidentin Kirchner rief die Justiz auch dazu auf, den Tod von Alberto Nisman aufzuklären und, Zitat: "die Mörder zu finden und zu verurteilen" - nachdem sie erst über einen Selbstmord spekuliert hatte.
Als die Teilnehmer des Schweigemarsches von Buenos Aires am 18. Februar an Nismans Ermittlungsbehörde vorbeikamen, wurden Rufe nach Gerechtigkeit laut. Die Argentinier wollen wissen, was mit dem Staatsanwalt geschehen ist, aber haben diesbezüglich wenig Hoffnung.
"Wir werden die Wahrheit wohl nie erfahren. In Argentinien ist die Wahrheit in vielen Fällen nie ans Licht gekommen", sagt ein alter Mann pessimistisch. Und eine Demonstrantin äußert ihren Frust über die Regierung.
"Ich bin wegen Nisman hier, aber auch, weil die Präsidentin uns Argentinier nicht glücklich macht. Mich jedenfalls macht sie nicht glücklich."
Könnte sich diese Unzufriedenheit bei der Präsidentschaftswahl im Oktober in einer Abwahl des Kirchnerismus' ausdrücken? Cristina Kirchner selbst kann nicht mehr antreten. Aber ihre Bewegung, eine Strömung des Peronismus', wird versuchen, mit einem anderen Kandidaten an der Macht zu bleiben. Politologe Rosendo Fraga:
"Die öffentliche Meinung in Argentinien teilt sich in drei etwa gleich große Teile. Ein Drittel unterstützt Kirchners Regierung bedingungslos - auch, wenn es dem Land noch so schlecht geht. Ein Drittel ist kategorisch gegen den Kirchnerismus - auch, wenn die Dinge gut laufen. Und ein Drittel fluktuiert. Dieses Drittel entscheidet die Wahlen. Der Fall Nisman entfernt die Regierung wohl von diesem unabhängigen Drittel."
Präsidentschaftswahl im Oktober
Bis zur Präsidentschaftswahl im Oktober sind es noch mehr als sieben Monate - zu früh für Prognosen. Der Soziologe Marcos Novaro hält für positiv, dass es - anders als bei der Wahl vor vier Jahren - voraussichtlich drei starke Präsidentschaftskandidaten geben wird. Neben dem wahrscheinlichen Kandidaten des Kirchnerismus' Daniel Scioli, Gouverneur der Provinz Buenos Aires, werden es wohl der Peronist Sergio Massa und der Mitte-Rechts-Politiker Mauricio Macri sein.
"Dass wir drei starke Kandidaten haben, ist gut für die argentinische Demokratie. Die Oppositionspolitiker Macri und Massa haben Tugenden und Schwächen. Aber für argentinische Verhältnisse sind sie gute Kandidaten und ich würde sagen, sie könnten anständig regieren. Allerdings würden sie vom Kirchnerismus ein schwereres Erbe erhalten, als viele denken. Ich glaube, auf Argentinien kommen schwierige Zeiten zu."
Wer Argentinien ab Jahresende regieren wird, ist für Laura Ginsberg, deren Mann 1994 beim Attentat auf den jüdischen Wohlfahrtsverband AMIA getötet wurde, zweitrangig. Ginsberg und ihre Angehörigen-Vereinigung APEMIA haben mehrere Regierungen kommen und gehen sehen - sie glauben, dass alle dazu beigetragen haben, die wahren Verantwortlichkeiten für den Anschlag zu verschleiern. Ihre Forderung: eine sofortige Öffnung der Geheimdienst-Archive. Dafür hat APEMIA einen Gesetzentwurf erarbeitet.
"Mehr als zwei Jahrzehnte nach dem Attentat herrscht komplette Straflosigkeit; niemand wurde wegen dieses Verbrechens verurteilt. Um die Wahrheit zu erfahren, muss man ganz von vorne anfangen und die geheimen Archive des Staates öffnen und sie einer vom Staat unabhängigen Kommission zur Analyse übergeben. Falls die Drahtzieher des Anschlags tatsächlich im Ausland saßen, werden die Archive darüber Aufschluss geben."