Argentinien im Wahlfieber: Beim Zahnarzt, an der Bushaltestelle oder beim Mate-Tee-Trinken im Park – überall wird diskutiert in diesen Tagen. Lebhaft und emotionsgeladen. Am Sonntag entscheidet das Land per Stichwahl über seinen neuen Präsidenten – Guillermo, 52 und Ingenieur weiß, wen er nicht wählt:
"Macri steht für die Rechte, er war früher Unternehmer und wird Klientelpolitik machen wie damals in den 90er-Jahren, die in der Wirtschaftskrise mündeten.
Damals wurde die nationale Industrie zugrunde gerichtet, wir haben Arbeitsplätze verloren, das staatliche Bildungssystem wurde zerstört, und diese Politik repräsentieren die Interessensgruppen, die sich hinter dem Kandidaten Macri verstecken."
Politik-Wechsel erwünscht
Laut Umfragen liegt Oppositionskandidat Mauricio Macri derzeit jedoch vor dem offiziellen Regierungskandidaten Daniel Scioli. Viele Argentinier wünschen sich einen Politik-Wechsel nach zwölf Jahren Kirchner-Regierung - wie Lucia, die eine Modeboutique in Buenos Aires betreibt:
"Ich habe die Hoffnung, dass es einen Wechsel gibt und Macri Präsident wird. Ich hoffe, dass er die Wirtschaft wieder auf Wachstum bringt, in dem er das Land öffnet. Das frei exportiert und importiert werden kann und wir nicht weiter Geißel einer Regierung von Korrupten sind wie bisher."
Mauricio Macri hat sein Regierungsbündnis "Cambiemos" genannt, "lasst uns wechseln". Daniel Scioli dagegen versucht einerseits, die Errungenschaften von zwölf Jahren Kirchner-Regierung zu verteidigen – und sich gleichzeitig nicht deren explosive Altlasten aufzubürden: eine schwächelnde Wirtschaft, eine hohe Inflation, jede Menge Skandale um mutmaßliche Korruption und Klüngel. Ein Spagat.
Ein Novum in Argentinien
Endspurt dieses hitzigen Wahlkampfes: eine TV-Debatte der beiden Kandidaten – ein Novum in Argentinien. Macri, relaxed ohne Krawatte, wirft seinem Kontrahenten immer wieder vor, eine Angstkampagne zu betreiben:
"Wer hier Angst hat, das seid doch ihr. Ihr habt eure Macht missbraucht und jetzt wollt ihr eure Privilegien nicht verlieren. Ihr werft uns vor, wir wollten eine Sparpolitik betreiben, das haben wir nie behauptet. Wir spüren eine Freude über die Möglichkeit, dieses Land wieder zum Wachstum zu bringen. Aber rede doch mal von deinen Vorschlägen."
Daniel Scioli gibt den Vorwurf postwendend zurück.
Daniel Scioli gibt den Vorwurf postwendend zurück.
"Du unterschätzt die Wähler, die merken doch die Widersprüche in deiner Kampagne. Du hast dich gegen die sozialen Errungenschaften der letzten Jahre gestellt, und jetzt bist du plötzlich ihr größter Verfechter, nur weil du Stimmen brauchst. Sag doch, wer die Zeche dafür zahlen muss, wenn du hier die Währung abwertest, die Märkte öffnest und die Subventionen abbaust."
Viele offene Fragen
Bei den wirklich interessanten Fragen der Debatte bleiben beide Kandidaten die Antwort schuldig beziehungsweise bestimmte Themen werden gar nicht zur Sprache gebracht: Bildung zum Beispiel, der Umgang mit Inflation oder jenen sogenannten Geier-Hedgefonds, die Altschulden zurückfordern.
Kritische Fragen, an denen man sich leichter die Finger verbrennt. Das will keiner so knapp vor dem Urnengang. Was die Wirtschaft angeht – da geht Ökonom Dante Sica ohnehin davon aus, dass sich beide gar nicht so diametral entgegenstehen, wie sie behaupten:
"In wirtschaftlicher Hinsicht haben beide recht ähnliche Rezepte, denn es braucht Korrekturen in der Geldpolitik, es braucht eine Anti-Inflationspolitik und Argentiniens Wirtschaft braucht frisches Geld, um wieder zu wachsen.
Der Unterschied liegt eher in der Geschwindigkeit. Macri hat eine Schocktherapie angekündigt, Scioli steht eher für graduelle Anpassungen."
Wer auch immer die Stichwahl gewinnt, er wird ein Präsident des Konsenses sein müssen. Im Parlament wird keiner von beiden auf die bequeme Mehrheit setzen können, mit der Cristina Kirchner jahrelang regierte – und auch intern, innerhalb der eigenen Koalitionen, könnten Konflikte auftreten: Beide Kandidaten haben Wahlbündnisse hinter sich, in denen sich Politiker diverser ideologischer Ausrichtungen tummeln.
Mit Spannung wird die Wahl in Argentinien auch von den Nachbarn beobachtet – allen voran dem Mercosur, der südamerikanischen Staatengemeinschaft, erklärt Politologe Nicolas Damin:
In dieser Kampagne stehen sich außenpolitisch zwei unterschiedliche Modelle gegenüber. Zwar haben in meinen Augen beide Interesse daran, die Beziehungen zur Europäischen Union zu verbessern. Aber Macri wird strategische Partner darüber hinaus eher in den USA und in der Pazifik-Allianz suchen – also Chile, Kolumbien, Peru. Scioli liegt eher in einer Linie mit dem Mercosur und wird versuchen, gemeinsam mit Brasilien die Allianz mit China zu vertiefen.
Die meisten Umfragen geben Macri derzeit einen Vorsprung. Aber die Meinungsforscher lagen schon beim ersten Wahlgang falsch und relativ viele Wähler sind noch unentschlossen.