Es ist eine Stimmung wie im Fußballstadion. Doch die riesige Menge, die an diesem Abend auf den Straßen von Buenos Aires feiert, bejubelt weder ein Tor, einen gehaltenen Elfmeter, noch eine Meisterschaft. Die überwiegend jungen Leute feiern ein politisches Ereignis. Gerade eben hat das Fernsehen das Ergebnis der Präsidentschaftswahlen bekanntgegeben. Und es ist klar: Argentinien steht vor einem Regierungswechsel. Sieger der Wahlen ist Alberto Fernández. Und so singen sie "Alberto Presidente".
Alberto Fernandéz ist der Hoffnungsträger für viele Argentinier. Das riesige Land – etwa achtmal so groß wie Deutschland - steckt in einer schweren Krise. Wieder einmal. Die Wirtschaft schrumpft, die Inflationsrate gehört mit mehr als 50 Prozent zu den höchsten der Welt, die Arbeitslosigkeit grassiert, und viele der Jubelnden in der Wahlnacht machen dafür den abgewählten Präsidenten verantwortlich, Mauricio Macri:
"Ich bin sehr glücklich. Wir haben vier harte Jahre hinter uns. Harte Jahre für die Mittelschicht, und vor allem für die Armen im Land. Hier feiern Leute, die extra von weit angereist sind, mit Menschen aus Buenos Aires. Macri hat unser Land zerstört, unser Bildungssystem, die öffentlichen Krankenhäuser. Das alles ist Macris Schuld. Und das ist jetzt vorbei. Und die Leute feiern die Demokratie", sagt eine Frau auf der Straße.
Ortswechsel. Knapp zwei Monate nach der Wahl haben sich die Gemüter wieder etwas beruhigt. Doch die Lage ist für die meisten der 44 Millionen Argentinier unverändert schlecht. Auf den ersten, oberflächlichen Blick ist davon wenig zu erkennen. Im Barrio Palermo, einem hippen Viertel von Buenos Aires, sieht alles nach Idylle aus. Junge Paare führen ihre Hunde aus, flanieren von Schaufenster zu Schaufenster. Doch der Eindruck täuscht, sagt Sebastian Sabater. Der ältere Herr steht alleine in seinem Laden auf der Calle Gurruchaga, einer der schicksten Einkaufsmeilen Argentiniens:
"Das Geschäft gibt es jetzt seit etwa 70 Jahren, es ist eine Familientradition. Mein Vater war Parfumeur und Seifenhersteller. Und mit meinen Kindern ist jetzt die dritte Generation im Geschäft mit Seifen. Wir haben unser Stammgeschäft hier in Buenos Aires, wir haben aber auch eine Niederlassung in Barcelona. Meine Tochter macht in Barcelona im Prinzip dasselbe wie wir hier: Sie produziert und verkauft in einem Geschäft in der Altstadt von Barcelona."
In der Vergangenheit habe es in Argentinien immer wieder Krisen gegeben, doch diesmal treffe es nicht nur die Armen, diesmal leide vor allem die Mittelschicht: Die Angestellten, deren Löhne wegen der Inflation entwertet werden. Die Unternehmer, deren Kosten steigen und deren Einnahmen ins Bodenlose fallen:
"Alle haben Probleme. Es ist sehr schwierig, überhaupt eine Arbeit zu finden oder eine Anstellung. Und wer ein Geschäft hat, der kann sich damit kaum über Wasser halten und so viel verdienen, dass er seine Kosten abdecken kann. Unserer Wirtschaft geht es sehr schlecht."
Fleisch sei so teuer wie nie, Milch, alle Grundnahrungsmittel. Er zeigt auf ein paar leere Ladengeschäfte in der Nachbarschaft. Sie alle hätten in den vergangenen Monaten dicht machen müssen - mangels Kundschaft:
"Es trifft uns sehr hart. Denn die Kaufkraft der Leute fällt und fällt. Gleichzeitig steigen unsere Kosten, und auch die Steuern. Das macht uns das Leben sehr schwer. In Spanien ist das völlig anders. Dort läuft es sehr viel besser."
Sehnsüchtig blicken derzeit viele Argentinier über den Atlantik. Viele von Ihnen stammen von Einwanderern ab, haben oft noch Pässe aus Spanien oder Italien. Sabaters Tochter ging vor einigen Jahren nach Spanien, um dort eine Filiale des Familiengeschäftes aufzubauen. Ohne das Geld aus dem neuen Betrieb in Barcelona wäre Sabater inzwischen wohl auch pleite.
Sabater geht davon aus, dass er diese Unterstützung noch eine Weile brauchen wird. Er glaubt den Ankündigungen der neuen Regierung nicht. Alberto Fernández habe im Wahlkampf allen alles versprochen:
"Ich habe ehrlich gesagt keine großen Erwartungen, dass sich die Lage schnell bessern wird. Denn es liegt an den Strukturen unseres Landes. Ein Freund von mir spricht immer von einem gescheiterten Staat, einem kranken Land. Jeder schaut, dass er und seine Familie irgendwie über die Runden kommen. Aber die Idee eines Gemeinwohls, die spielt nur eine sehr untergeordnete Rolle."
Not des Landes in der Metro greifbar
Mit der U-Bahn geht es von Sebastian Sabaters Seifengeschäft im Viertel Palermo in die Innenstadt. Gleich an der ersten Haltestelle steigt ein junger Mann mit einem tragbaren Elektro-Klavier ein und legt los. Für drei Stationen unterhält er die Fahrgäste, danach bittet er um ein paar Pesos. Dazwischen betteln Straßenkinder um Geld, junge Familien verkaufen den Passagieren Socken, Bonbons oder kleine Zettel mit Gebetssprüchen – die Not des Landes wird auf 15 Minuten Fahrt mit der Metro greifbar.
Für viele Argentinier ist Mauricio Macri der Schuldige. Der Ex-Präsident habe mit seinem Sparkurs das Land ruiniert, Gelder für Krankenhäuser, Schulen, Orchester und Theater zusammengestrichen. Deswegen haben sie Alberto Fernández gewählt, dessen Versprechen viele Argentinier in den Ohren haben:
"Ein solidarisches Argentinien, ein Argentinien mit weniger Ungleichheit, das seine öffentliches Bildungs- und Gesundheitssystem verteidigt. Ein Argentinien, das diejenigen fördert, die etwas produzieren und die arbeiten."
Macris böses Sparprogramm, Fernández als der Mann mit dem großen Herzen für die notleidende Bevölkerung. Bei den Präsidentschaftswahlen zog diese einfache Formel und sorgte für eine klare Mehrheit. Doch die Dinge sind sehr viel komplizierter. Das zeigt sich bei einem Empfang des argentinischen Bankenverbandes. Zum Jahreswechsel hat die Organsiation zu einem Treffen in ihren Büros in die Straße San Martín eingeladen, so etwas wie die Wall Street von Argentinien.
Der Peronismus
Vom 23. Stockwerk aus hat man einen phantastischen Blick über Buenos Aires. Es gibt Häppchen und viel Small Talk. Niemand weiß, wie der neue Präsident seine vollmundigen Versprechen erfüllen will: Rentenerhöhungen, höhere Subventionen, alles Mögliche. Argentinien sei doch schon jetzt völlig überschuldet, sagt Claudio Cesario, der Präsident des Bankenverbandes:
"Unsere Hoffnung ist natürlich – und das hoffen alle Argentinier – dass sich die Lage verbessert. Aber dafür müssen wir auch unsere Probleme angehen. Und unsere größte Herausforderung derzeit ist, dass wir so schnell wie möglich neu über unsere Schulden verhandeln. Man muss dabei zu einer Einigung kommen, von der beide Seiten profitieren: Der Schuldner - also unser Land - und die Gläubiger. Wir sollten dabei keine aggressive Haltung einnehmen. Argentinien darf sich nicht mehr den Luxus leisten, zwei, drei, vier oder fünf Jahre vom Finanzmarkt abgekoppelt zu bleiben. Das wäre Wahnsinn bei den aktuell niedrigen Zinsen. Deutschland zahlt ja inzwischen sogar Negativzinsen. Wir müssen wieder an Markt-Kredite kommen, um Geld für Investitionen zu haben. Zum Beispiel für Investitionen in die Infrastruktur."
Unter der Hand sagen einige der Banker, die neue Regierung werde in alte argentinische Reflexe verfallen: Statt Probleme an der Wurzel anzugehen, werde sie die Notenpresse anwerfen und Milliarden in Sozialprogramme und neue Jobs im öffentlichen Sektor pumpen. Eine Politik, die im Land als Peronismus bekannt ist. In den 50er Jahren setzte erstmals Präsident Juan Perón auf diese Art von Politik, unterstützt von seiner jungen Frau Evita. Sie gilt seither als eine Art Heilige der ärmeren Schichten des Landes.
Damals allerdings schwamm das Land im Geld, Argentinien zählte nach dem zweiten Weltkrieg zu den reichsten Staaten der Erde. Inzwischen aber sei das Vermögen verpulvert, die Industrie herabgewirtschaftet, sagt Cesario. Eine neue Geldschwemme werde die Lage auf Dauer nur verschlimmern. Dabei hätte man eigentlich sehr viele Ressourcen, um das Land wieder auf die Beine zu bringen:
"Das Wort reich hört sich vielleicht sonderbar an, aber unser Land hat so viel Potential, so viele Rohstoffe: Angefangen von Öl und Gas über Lithium, unglaublich schöne und vielfältige Landschaften, die den Tourismus beflügeln könnten. Und natürlich sind wir eine Agrar-Großmacht. Wir könnten eigentlich der Supermarkt für die ganze Welt sein."
Vom Reichen Land zum Armenhaus
Doch wie konnte aus dem reichen Argentinien innerhalb weniger Jahrzehnte ein Armenhaus werden? Der Bankenpräsident hat eine Theorie. Der Peronismus und andere Formen des Populismus haben demnach innerhalb von nur zwei Generationen dafür gesorgt, dass sich die Mentalität vieler Argentinier verändert habe. Die Bereitschaft, sich einzubringen, sei geschwunden. Dagegen seien die Ansprüche gewachsen:
"In ganz Amerika - und das war so seit den Zeiten von Kolumbus – kamen über die Jahrhunderte Auswanderer aus Europa an, die darauf hoffen konnten, ihre wirtschaftliche und soziale Lage zu verbessern, wenn sie nur hart genug arbeiten. Das war noch bis in die Generation meiner Großeltern und Eltern so. Heute sehen wir in mehr und mehr Ländern hier in der Region die Tendenz zum Populismus. Den Leuten wird immer mehr versprochen, für immer weniger eigene Leistung. In Europa ist das nicht so ausgeprägt. Ein Beispiel: Ein deutscher Arbeiter, der zum Beispiel bei Volkswagen am Band steht, der fährt seinen Passat, den er sich vielleicht vor 10, 15 oder 20 Jahren gekauft hat, und er hat kein Ego-Problem damit. Hier dagegen, in Argentinien, würde ein VW-Arbeiter darauf bestehen, ein neues Auto zu fahren, auch wenn er sich eigentlich nicht leisten kann. Das ist unser großes Mentalitäts-Problem."
In Deutschland zum Beispiel gebe es sehr viel mehr Pragmatismus in der Politik. Ein Regierungswechsel bedeute in der Regel weder Chaos noch eine komplette Kehrtwende in der Politik, die das Land verunsichere und auf Dauer verarmen lasse. Verlässliche Grundpfeiler statt vollmundiger Versprechen, so etwas bräuchte auch Argentinien, glaubt Cesario: "Argentinien fehlt eine solche Politik der Mitte, und das schwächt unsere Produktivität."
Doch wie soll es weitergehen? Wie sieht die Zukunft Argentiniens aus? Und wie soll das Land von seinem Schuldenberg herunterkommen? Die Hoffnungen vieler Argentinier ruhen auf einer eher unwirtlichen Region namens Vaca Muerte, zu deutsch: Tote Kuh. Zwölf Autostunden südwestlich der Hauptstadt Buenos Aires hat man hier vor einigen Jahren riesige Öl- und Gasvorkommen entdeckt. Unter dem Boden eines Gebietes von der Größe Belgiens liegen Rohstoff-Reserven, die zu den größten der Erde gehören. Ein Staatskonzern soll sie nun erschließen.
Allerdings gibt es auch Widerstände. Denn die Region ist zwar nur dünn besiedelt, aber eben auch nicht menschenleer. Dort leben vor allem Mapuche, die Reste der einstigen indigenen Bevölkerung Argentiniens. Sie beklagen, dass ihre Lebensgrundlage zerstört werde, ihre Felder und Weiden durch die Rohstoff-Förderung unbrauchbar werden, sagt Mapuche-Aktivistin Lorena Bravo:
"Dieses Staatsunternahmen kam und hat angefangen, das Land umzupflügen. Ohne Rücksicht auf die Folgen. Und ohne Rücksicht auf die Menschen, die hier leben. Es gibt hier uns, die Mapuche. Aber von Anfang an hat man unsere Existenz ignoriert."
Was auf dem dünn besiedelten flachen Land passiert, das interessiert die Regierenden im fernen Buenos Aires kaum, klagen Aktivisten. Und so bleibt Lorena Bravo nur das Schwanken zwischen Resignation und Hoffnung:
"Eines Tages werden sie aufhören müssen. Irgendwann gibt es hier kein Öl und kein Gas mehr. Zurück bleiben werden wir mit unserem verseuchten Land. Und irgendwie müssen wir dann damit leben, denn uns bleibt nichts übrige, als die Felder zu bebauen und Tiere aufzuziehen."
Der Staat ist ein Macho
Zurück nach Buenos Aires. Auf einem Platz in der Innenstadt haben sich mehrere hundert überwiegend junge Frauen versammelt. Im Chor skandieren sie, der Staat sei ein Macho, ein Unterdrücker. Auch sie fühlen sich von der Regierung und von der Gesellschaft im Stich gelassen. Sie wollen darauf aufmerksam machen, dass Frauen in Argentinien immer noch viel zu häufig wegen ihres Geschlechts im Beruf diskriminiert werden, wie sie sagen. Die Wirtschaftskrise habe diese Ungerechtigkeit aber in den Hintergrund gedrängt. In der ersten Reihe der Demonstration steht Veronica Martinez:
"Wir fordern Gleichheit und Frauenrechte ein. Ein Ende der Gewalt gegen Frauen. Wir wollen anerkannt und nicht mehr benachteiligt werden. Eine gerechtere Gesellschaft: Das ist, was wir wollen."
Argentiniens Gegenwart ist düster, die Aussichten sind trüb. Für viele Argentinier ist deshalb der Blick zurück ein Trost, in eine Zeit, in der das Land weltweit bewundert wurde, in der Auswanderer zu Millionen aus Europa ins Land kamen. Aus dieser Nostalgie hat Edgardo Sanzo ein Geschäftsmodell gemacht. Zusammen mit ein paar Partnern betreibt er 28 Sport. Eine Firma, die nostalgische Sportschuhe herstellt:
"Im Prinzip ging es uns darum, den Geist und das Design und die Machart von Schuhen aus den 30er, 40er, 50er Jahren wiederzubeleben. Die Zahl 28 in unserem Namen steht zum Beispiel für das Jahr 1928. Vor 20 Jahren haben wir angefangen, solche Schuhe wieder herzustellen. Unser Vorbild waren Originalschuhe aus jener Zeit: Fußball, Hockey, Leichtathletik, Bergsteigen, Rugby und Boxen. Also die verschiedensten Sportarten."
Auch Edgardo Sanzo bekommt natürlich die Wirtschaftskrise im Alltag zu spüren. Er und seine Freunde müssen überlegen, wofür sie ihr Geld ausgeben, müssen genau haushalten, Abstriche machen, und auf das beste hoffen. Doch zumindest ein Gutes habe die schwierige Situation, sagt Edgardo: Man wisse, wer seine Freunde seien, und man lerne, nicht so schnell aufzugeben:
"Natürlich ist es traurig. Aber auf der anderen Seite sind wir daran gewöhnt, wie in einem Strudel zu leben. Es zwingt uns – wenn man es positiv sehen will – zu Geduld und Improvisationskraft. Mein Cousin, der in Deutschland lebt, sagt mir, dort haben viele Leute schon Probleme mit kleinen Veränderungen. Hier in Argentinien müssen wir ständig mit dramatischen Veränderungen umgehen, und wir haben das auch gelernt. Man macht einfach immer weiter. Das ist vielleicht für Ausländer nicht leicht zu verstehen. Zum Beispiel die Inflation. Wie soll man das jemandem erklären, der das nicht kennt. Wir leben ständig damit, seien es 25, seien es 50 Prozent. Das war schon mein ganzes Leben so. Ich kann mich gar nicht an eine Zeit ohne Inflation erinnern."
Wie es mit Argentinien weitergeht, ist offen. Für die kommenden Monate hat die neue Regierung zahlreiche Preise per Verordnung eingefroren, etwa für Strom oder Wasser. Das soll die Inflation bremsen. Doch wie es danach weitergeht, das kann niemand sagen. Auch der neue Präsident Alberto Fernández nicht, der einräumen musste, dass noch schwere Zeiten auf das Land zukommen: "Los tiempos que vienen no son fáciles."