New York im September, nach der UNO-Vollversammlung: Es war ihr letzter internationaler Auftritt als argentinische Präsidentin. Cristina Fernández de Kirchner fasst Eckpunkte ihrer Rede für die Presse zusammen.
Kritik an den sogenannten Geierfonds, die Hedgefonds, die mit den Schulden von Pleitestaaten spekulieren. Kritik an der US-Justiz, die ihnen recht gibt. Kritik an der Doppelmoral, wenn es darum geht, dem Finanzsystem endlich Grenzen aufzuzeigen. Dinge, mit denen Argentinien sich auskennt. Dinge, von denen es der Welt erzählen kann.
In Manhattan plötzlich ein Hupkonzert: Ob etwa sie den Verkehr behindere?, fragt die Präsidentin augenzwinkernd. Das ist ihre Rolle. Gegenhalten, nicht einfach fraglos der Spur folgen. Das hat ihre zwei Amtszeiten geprägt, und auch die ihres Vorgängers im Amt, Cristinas Ehemann Néstor Kirchner, der 2010 verstorben ist.
"Mir scheint, nach diesen zwölf Jahren haben wir ein grundsätzlich anderes Land als damals 2003, als Néstor Kirchner erstmals vor der UNO gesprochen hat. Damals schwebte noch das Damoklesschwert der Staatspleite von 2001 über uns, dann haben wir die Neustrukturierung unserer Schulden erreicht. Heute ist unser Land ein anderes und die Welt eine andere."
Argentinier sind gespalten
So sieht die Präsidentin die Ära Kirchner im Rückblick. 12 Jahre. Seit Evita und Juan Domingo Perón hat kein Ehepaar die Politik Argentiniens so geprägt wie sie – und so polarisiert wie sie.
"Cristina hat die Politik gerockt. Junge Menschen interessieren sich wieder für Politik, die Kirchners haben uns gezeigt: Wir können mitgestalten, wir sind Teil eines Staates, der sich kümmert."
Grace:
"Cristina ist nicht ganz richtig im Kopf! Mit dem Land geht es den Bach runter. Sie kauft die Stimmen der Armen mit Sozialprogrammen. Sie lügt uns an und ist korrupt wie nie."
Pili:
"Ich bin kein Fan von dieser Regierung, aber sie haben ein paar wichtige Dinge gemacht – vor allem was die Sozial- und Menschenrechtspolitik angeht. Das Problem ist: Alle, die jetzt zur Wahl stehen, werden die negativen Dinge auch machen, aber die positiven weglassen. Am liebsten würde ich gar nicht wählen gehen.
Muss sie aber: In Argentinien herrscht Wahlpflicht. Und Cristina Fernández de Kirchner darf nach zwei Amtszeiten nicht mehr antreten.
"Guten Abend! Herzlich Willkommen zur ersten Präsidentschafts-Debatte in der Geschichte Argentiniens."
Es ist tatsächlich eine Premiere: Zum ersten Mal stellen sich die Kandidaten in Argentinien einer TV-Debatte. Sechs Rednerpulte stehen im Halbkreis auf der Tribüne.
Aber ein Pult bleibt leer, es kommen nur fünf Kandidaten. Daniel Scioli ist nicht dabei. Er ist der Kandidat des Kirchner-Bündnisses Frente para la Victoria, der in den Vorwahlen die meisten Stimmen bekommen hat. Rund 39 Prozent für denjenigen, der offiziell das Erbe der Kirchners antreten möchte. Dieses Erbe zeichnet sein stärkster Kontrahent Mauricio Macri nun in düsteren Farben:
"Auch wenn die Regierung die Statistiken geschönt hat, so lässt sich die grassierende Armut in diesem Land doch nicht leugnen. Ich werde mich für "Null Armut" einsetzen. Die Lösung für unser Strukturproblem ist, Arbeitsplätze zu schaffen. Denn unsere Wirtschaft stagniert seit vier Jahren. Was ich Scioli gerne gefragt hätte: Wer regiert denn, wenn er gewählt wird? Cristina oder er?"
Mauricio Macri. Kantige Züge, eisblaue Augen. Er tritt für das Bündnis Cambiemos an, für den Wandel, und hat bei den Vorwahlen rund 26 Prozent erhalten. Seine eigene Partei PRO ist erst zehn Jahre jung und gilt als liberal- konservativ. Er selbst ist Sohn eines millionenschweren Unternehmers, wurde bekannt als Präsident von Boca Juniors, dem größten Fußballklub des Landes. Und seit acht Jahren ist Macri Bürgermeister der Hauptstadt Buenos Aires. Nachfrage von Margarita Stollbitzer, Kandidatin der bürgerlichen Partei Progresistas, die bei den Vorwahlen weniger als vier Prozent erhielt:
"Die Bundesregierung Kirchner vergibt öffentliche Aufträge an befreundete Unternehmer. Ihre Stadtregierung von Buenos Aires macht genau das Gleiche. In der eidesstattlichen Vermögenserklärung von Präsidentin Kirchner tauchen Zahlungen genau dieser Unternehmen auf, bei ihnen ist das genauso. Wie passt das zu ihrem Entwicklungsmodell?
Korruption und Klientelismus - ewige und leidige Themen in Argentinien. Und sie haften der gesamten politischen Klasse an. Noch gilt der Bürgermeister von Buenos Aires als der Oppositionskandidat, der Scioli schlagen könnte, doch ihm ist einer auf den Fersen. Sergio Massa, ein Kirchner-Dissident. Bis 2009 war er Kabinettsminister von Cristina Fernández de Kirchner, dann kam es zum Konflikt. Massa gründete die Frente Renovador, die Erneuerungsfront und gibt er sich als Aufräumer und moralisches Gewissen.
"Argentinien ist weder das Desaster, von dem die einen sprechen, noch das Fest, von dem die anderen sprechen. Es ist ein Land mit einem großen Reichtum, das immer und immer wieder scheitert, weil es nie eine Politik gab mit einer Vision auf lange Sicht. Und dazu gehört auch, dass wir einen Paradigmenwechsel beim Umgang mit Korruption brauchen."
Eine Politik ohne Vision auf Lange Sicht
Daniel Scioli spielt derweil Fußball mit dem bolivianischen Präsidenten Evo Morales, direkt vor seiner Haustür in Villa La Ñata. Auch das ist Wahlkampf. Villa La Ñata liegt im Flussdelta nördlich der Hauptstadt, in der Provinz Buenos Aires. Diese Provinz, in der ein Drittel aller 40 Millionen Argentinier lebt, regiert Scioli bereits seit acht Jahren als Gouverneur. Warum er sich nicht der Debatte stellt, will die Presse gern wissen.
"Weil es schon sehr schwierig ist, eine ernsthafte Debatte mit Oppositionspolitikern zu führen, die einen Tag dies und den anderen Tag das sagen. Die Menschen in diesem Land kennen mich seit vielen Jahren, sie haben gesehen, welche Politik ich verfolge."
Die Vorbilder des 58-Jährigen stehen auf einer Tribüne des Stadions: Ché Guevara, Nelson Mandela, Néstor Kirchner, Barack Obama, Bill Clinton mit Saxofon und das Ehepaar Juan Domingo und Evita Perón. Alle aus Wachs. Sciolis illustres Figurenkabinett. Der Politikwissenschaftler Philipp Kitzberger sagt:
"Daniel Scioli ist eine rätselhafte Figur. Er war Rennbootfahrer, da hatte er einen spektakulären Unfall und verlor einen Arm. Er hat aber weitergemacht, trotz Schicksalsschlag. So etwas kommt in Argentinien immer gut an. In den 90er Jahren holte ihn Carlos Menem zu Image-Zwecken in die Politik. Scioli war nie ein Caudillo, eine schillernde Führungsperson, sondern eher ein Medienphänomen. Er hat sich nie in den Vordergrund gedrängt, hatte aber ein feines Gespür dafür, zur richtigen Zeit die richtigen Allianzen zu schmieden, ohne sich ideologisch festzulegen. Und das ist ja auch ein Wesensmerkmal des Peronismus: ideologisch flexibel zu sein."
Peronismus. Das kann ein Carlos Menem sein, der in den 90er Jahren als Musterknabe des Neoliberalismus galt. Das können aber auch die Kirchners sein, die nach dem Wirtschaftscrash 2001 wieder auf einen starken Staat setzten, die Fluggesellschaft, die Rentenfonds und den Ölkonzern YPF verstaatlichten. Scioli war bei Menem dabei und bei Néstor. Nur mit Cristina konnte er nie so recht. Jetzt aber soll er ihr Erbe retten.
"Das Land braucht kein Schockprogramm, das von einem Tag auf den anderen alles anders machen will. Wir werden einige graduelle Anpassungen vornehmen, ohne die Konsumkraft des kleinen Mannes in Mitleidenschaft zu ziehen."
Dabei hat die Kirchner-Regierung ein ganz schönes Minenfeld hinterlassen, sagt Ökonom Dante Sica.
"Die Regierung hat ihre politische Legitimität mit auf eine starke Konsumkraft der Argentinier aufgebaut. Das führte in ein Haushaltsdefizit, denn die Regierung musste im Ausland teuer Energie kaufen, hat sie aber im Inland subventioniert, also viel billiger verkauft. Finanziert hat die Regierung dieses Defizit, indem sie die Geldpresse angeworfen hat. Und das hat die Inflation angeheizt."
Die Inflation liegt mittlerweile bei 30 Prozent. Auch die Devisenreserven der Zentralbank aufgebraucht. Doch US-Dollar lassen sich in Argentinien nicht drucken.
Dass in Argentinien US-Dollar fehlen, merkt jeder Tourist. Spätestens auf der Haupteinkaufsstraße Florida im Zentrum von Buenos Aires. Da stehen sie, die sogenannten Arbolitos, die Bäumchen, das ist der Codename für Straßenhändler, die illegal Dollar wechseln. Derzeit rund 60 Prozent über der offiziellen Umtauschrate. Die Regierung von Präsidentin Cristina Fernandez de Kirchner hat 2011 den Devisenhandel beschränkt. Im argentinischen jargon heißt diese Maßnahme cepo, Parkkralle. Eben weil die Regierung die Dollar selbst braucht für Energieimporte, Subventionen und die Zahlung jeder Schulden, die 2001 in die Pleite geführt haben. Eigentlich eine Hausfrauen-Logik: Was nicht da ist, kann auch nicht ausgegeben werden.
Hier entstehen Eisbehälter und Verpackungen, Dämmmaterial und Einweg-Geschirr – alles aus Styropor. Román Maltz führt stolz durch seine Fabrik im Süden von Buenos Aires, eine von fünf im ganzen Land. In den Jahren der Kirchners ist das mittelständische Familienunternehmen gewachsen, es beschäftigt heute rund 600 Mitarbeiter.
"Also, das waren sehr gute Jahre. Zum einen sind wir durch die Abwertung des Peso nach der Krise wieder wettbewerbsfähig geworden. Und: Die Regierung hat die nationale Industrie geschützt, spezielle Kreditlinien vergeben und so konnten wir uns wieder aufrichten. In den letzten vier Jahren ist das aber gekippt. Das Problem ist, dass es keine Dollar gibt. Dabei brauchen wir Investitionen, vor allem in die Infrastruktur."
Weil es keine Dollar gibt, hat die Regierung auch die Importe beschränkt. Román Maltz muss für jede Maschine, jedes Ersatzteil, das er aus dem Ausland braucht, eine Spezialgenehmigung anfordern. Aber wenn er die Geschichte Revue passieren lässt, findet er das alles immer noch besser als von der Konkurrenz aus dem Ausland überrollt zu werden.
Lobos, 100 Kilometer südwestlich von Buenos Aires. Endlose, fruchtbare Weiden und Felder bis zum Horizont. Hier wächst und grast Argentiniens Reichtum. Mittendrin liegt die Farm von Chano Areta: 320 Hektar, ein kleiner Familienbetrieb. Heute regnet und stürmt es, und Chano flucht:
"Unser Geschäft ist nicht mehr rentabel. 35 Prozent Exportsteuern müssen wir auf Soja zahlen, egal, ob wir eine gute oder schlechte Ernte hatten. Die Regierung mischt sich in alles ein, aber die Umsetzung ist völlig pedantisch. Jetzt haben wir teure Lebensmittel im Land und dazu noch wichtige Exportmärkte verloren."
Argentinien ist nun nicht mehr zweitgrößter Fleischexporteur der Welt sondern auf Platz 11 abgerutscht. Noch hinter Guatemala. Chano schüttelt den Kopf und setzte einen Mate-Tee auf
Daniel Scioli hat ins illustre Teatro Opéra in der Hauptstadt Buenos Aires eingeladen, um sein Wirtschaftsprogramm vorzustellen. Mit dabei: über die Hälfte der Provinzgouverneure und Vertreter aus Wissenschaft und Wirtschaft – auch aus der Landwirtschaft. Setzten die Kirchners und vor allem Cristina auf eine Politik der Konflikte, so versucht sich Scioli als Kandidat des Dialoges zu emanzipieren – ohne die Kirchner-Anhänger zu verprellen. Ein Spagat.
Fernando Tobares steht vor einer drei Meter hohen Mauer, gekrönt mit Stacheldraht, alle zehn Meter ein Wachturm und Kameras. Dahinter beginnen die Countries. Das sind private, geschlossene Wohnbezirke wie Villa La Ñata, wo Kirchner-Kandidat Daniel Scioli wohnt. Oder Isla del Sol, wo Herausforderer Sergio Massa wohnt. Auf der Seite, wo Fernando lebt, liegt alles im Matsch. Wenn es regnet werde hier alles regelmäßig überschwemmt.
"Die Mauern und Erhöhung der Countries machen es unmöglich, dass das Wasser in unserem Viertel abfließt. Las Tunas ist ja von drei Seiten von Countries eingeschlossen. Bei denen gibt es Entwässerungsanlagen und die pumpen das dann zu uns runter."
Auch eine Art Umverteilung von Reich zu Arm. Las Tunas ist ein Elendsviertel mitten in der wohlhabenden Nordzone des Conurbano, des Vorstadtgürtels von Buenos Aires. Fernando stapft durch Pfützen, an geduckten Häuschen vorbei, zu Fogoneros. Das ist eine Kooperative, die er mit einem Dutzend Compañeros nach der Wirtschaftskrise 2001 aufgebaut haben. Zwar sei es auch jetzt wieder schwierig, aber es gebe es viel mehr staatliche Unterstützung, erklärt der 30-Jährige.
Unter Postern von Evita und Ché Guevara hobeln vier Mitarbeiter der Kooperative Regale und sägen Latten. Nagelneue Maschinen plus Workshops in Buchhaltung haben staatliche Sozialprogramme finanziert. Die Sozialausgaben sind unter der Kirchner-Regierung auf fast 28 Prozent des Bruttoinland-Produktes gestiegen. So kaufe sie die Wählerstimmen der Armen, heißt ein gängiger Vorwurf.
"Klar wählen viele das Modell von Cristina, aber es ist auch eine Ideologie, die sie wählen, eine bei der wenigstens etwas fürs Volk rausspringt, eine peronistische."
Die zwölf Jahre Kirchner-Regierung haben ein Erbe hinterlassen, das das Land prägt und spaltet. Es gibt Errungenschaften, auf die in Argentinien niemand mehr verzichten will. Es gibt aber auch ein wirtschaftliches Chaos, das nach Reformen schreit. Reformen, die die Argentinier in der eigenen Tasche spüren werden. Egal wer Präsident wird, er kann sich auf Konflikte gefasst machen – soziale und politische. Es geht bei dieser Wahl vielleicht gar nicht so sehr darum, wer die besten Ideen hat. Es geht darum, wem es die Menschen die Kapitänsrolle zutrauen, Argentinien nach diesen stürmischen zwölf Jahren Kirchnerismus auf Kurs zu halten, ohne dass ihm der Wind die Segel zerfetzt. Präsidentin Cristina Kirchner winkt derweil noch mit einer Zustimmung von rund 50 Prozent von der Reling.
Macht des Kichnerismus
3.000 Kilometer weiter südlich: Wahlkampf in der Provinz Santa Cruz in Patagonien. Hier hat die Karriere der Kirchners begonnen, und hier soll sie, wenn möglich, auch weitergehen. El Proyecto Nacional y Popular. Das Projekt: National und Volksnah, singt Jugendbewegung der Regierung. Präsidentin Cristina steht auf der Empore der Sporthalle – Marlene-Dietrich-Hose, rote Mähne – sie unterstützt die Kampagne ihrer Schwägerin Alicia Kirchner, die in Santa Cruz Provinzgouverneurin werden will – und die von ihrem Sohn, Máximo Kirchner, der als Abgeordneter kandidiert. Denn auch in den Provinzen wird. In diesem Jahr wird es erstmals knapp, sagt Mariela Arias, die in der Stadt El Calafate für die nationale Zeitung La Nación arbeitet.
"Sie konnten sich so lange an der Macht halten, weil sie einen patriarchalischen Staat geschaffen haben. Aber sie haben es weder in der Provinz noch auf Bundesebene geschafft, einen eigenen, starken Nachfolger aufzubauen. Scioli hat seine eigene Elite aus Vertrauten. Wie viel Macht dem Kirchnerismus als politische Identität bleibt, wird sich zeigen. Aber ich glaube nicht, dass Cristina hier in El Calafate Rosen züchten wird, ich glaube, sie spekuliert auf eine Rückkehr in vier Jahren."