La Rioja, im Nordwesten Argentiniens, am letzten Tag des Jahres. Unter der heißen Mittagssonne begegnen sich auf dem Platz vor dem Regierungsgebäude der Provinzhauptstadt zwei Prozessionszüge. Der eine kommt aus der Kathedrale und trägt eine Figur des heiligen Nikolaus, San Nicolás, Schutzpatron von La Rioja. Der andere Zug ist von der Kirche San Francisco zur Plaza gelaufen und hält eine eigentümliche Jesus-Figur in die Höhe: das Niño Jesús Alcalde. Es stellt einen etwa achtjährigen Jesus mit lockigem Haar dar - gekleidet wie ein spanischer Bürgermeister im 17. Jahrhundert.
Das Treffen der beiden Prozessionen heißt Tinkunaco – das Wort für Begegnung in der indianischen Quechua-Sprache. Es ist eines der wichtigsten religiösen Feste Argentiniens und seine Wurzeln liegen in der Kolonialzeit, wie Cristian Martin Nieto erklärt, der den Tinkunaco erforscht hat.
"Die Darstellung von Jesus als Kind und zugleich als Bürgermeister ist eine symbolische Konstruktion. Im 17. Jahrhundert, als die Jesuiten das Ritual erfanden, war das Ziel die Bekehrung der Indigenen zum katholischen Glauben. In der Jesusfigur Nino Jesús Alcalde verbindet sich das Konzept von Gott mit dem des Kolonialherrschers: Jesus bekam den Titel des Bürgermeisters. Damit sollte erreicht werden, dass die Indigenen Gott respektierten und den spanischen Kolonialbehörden Gehorsam erwiesen."
Der Tinkunaco war in seinem Ursprung auch ein Instrument der Befriedung. Der Jesuiten-Orden führte es ein, als das indianische Volk der Diaguitas sich gegen die gewaltsame Unterjochung und Missionierung durch die Spanier auflehnte. Die Pater schufen eine Inszenierung, in der sich zwei Bruderschaften begegneten: eine repräsentierte - die Eingeborenen; die andere die Spanier, aber beide Gruppen wurden von Indigenen verkörpert.
"Die Jesuiten waren so intelligent, christliche und indigene Rituale zu vereinen, um sich den ursprünglichen Bewohnern des Lands auf eine weniger gewalttätige Weise zu nähern. Durch diesen Synkretismus vermieden sie in La Rioja weitere indianische Aufstände."
Die Bedeutung des Festes änderte sich im Laufe der Jahrhunderte
Von Generation zu Generation überliefert, erklingt der von Trommeln begleitete Gesang des Tinkunaco. Die Bruderschaft der Indigenen, genannt Aillis, singt das Lied auf Quechua. Sie verehrt das Bürgermeister-Jesuskind, während die Bruderschaft der Spanier, genannt Alféreces (Fahnenträger) sich um Sankt Nikolaus schart.
Heute hat der Tinkunaco eine andere Bedeutung als vor 400 Jahren. Der Experte Cristian Martin Nieto, der selbst der Bruderschaft der Aillis angehört:
"Der Tinkunaco will uns nicht mehr beibringen, Christus als Gott zu verehren und die Behörden zu respektieren, sondern er besitzt heute eine Botschaft der Brüderlichkeit und Versöhnung. Er ermuntert die Menschen dazu, sich zu begegnen, sich zu verzeihen und nach dem Evangelium zu leben."
Mord an Bischof während der Militärdiktatur
Bei der Begegnung der beiden Prozessionszüge am Mittag des 31. Dezember übergibt der Bürgermeister von La Rioja symbolisch den Stadtschlüssel an das Jesuskind. Wenn er den Schlüssel drei Tage später zurückerhält, bekommt er außerdem eine Bibel vom Bischof ausgehändigt. Dieser Teil des Tinkunaco wurde erst Anfang der 1970er-Jahre eingeführt - vom damaligen Bischof Enrique Angelelli. Dieser war ein Reformer, hatte am Zweiten Vatikanischen Konzil teilgenommen und bemühte sich, im Bistum La Rioja eine volksnahe, den Armen zugewandte Kirche zu schaffen. Damit jedoch stieß er bei den reaktionären Eliten der rückständigen Provinz auf Widerstand.
"Wenn der Bischof dem Bürgermeister die Bibel übergibt, sagt er: Nach diesem Gesetz, nach dem Evangelium, wollen wir regiert werden. Diese wertvolle Ergänzung durch Bischof Enrique Angelelli muss im historischen Kontext der 70er-Jahre gesehen werden. Argentinien wurde damals von politischer Gewalt erschüttert. Und ein Bischof sagte den Regierenden: Wir wollen keine Gewalt, keine Unterdrückung – wir wollen nach dem Evangelium regiert werden."
Damals verhallten die Worte des Kirchenvertreters ungehört. Am 24. März 1976 putschte sich eine Militärjunta an die Macht, in Argentinien begann eine siebenjährige Diktatur. Im August desselben Jahres verunglückte Bischof Angelelli auf einer Landstraße. Inzwischen hat die Justiz festgestellt, dass es kein Unfall, sondern ein Mord im Auftrag des Militärs war. Doch Angelellis Ergänzungen prägen den Tinkunaco bis heute.
Pastorale Handlungslinien und politische Realität
Wenn am Neujahrsabend erneut eine große Prozession durch La Rioja läuft, die den heiligen Nikolaus und das Bürgermeister-Jesuskind hochleben lässt, dann hält der amtierende katholische Bischof im Anschluss eine Rede, die immer auch eine Mahnung an die Politik ist. Marcelo Colombo, der heutige Bischof von La Rioja:
"In dieser Botschaft kündige ich unsere pastoralen Handlungslinien für das neue Jahr an, aber ich beziehe mich auch auf die politische Realität. Etwa mahne ich gesunde staatliche Institutionen an. Oder ich rufe die Politiker auf, den Menschen zuzuhören und sie nicht durch Wahlgeschenke zu ködern. Aber ich formuliere das nicht als Kritik oder als Vorwurf, sondern ich erinnere an die großen Prinzipien der kirchlichen Soziallehre. "
Arturo Carrizo ist 65 Jahre alt und seit seinem vierzehnten Lebensjahr Mitglied der Bruderschaft der Alféreces, die bei der Tinkunaco-Prozession bunte, zusammengerollte Fahnen tragen – ein Friedenssymbol.
"Der Tinkunaco bedeutet Frieden, er ist ein geistliches Treffen, das alle erleuchtet. Damit zwischen den Menschen ein bisschen mehr Vernunft und Liebe herrscht. Überall gibt es Missverständnisse, Zusammenstöße, Ressentiments – die Welt ist so. Durch den Tinkunaco versuche ich, besser zu leben und ein besserer Mensch zu sein."