Karin Fischer: Was hält Erinnerung lebendig? Ein Gedenkort aus Beton oder Stein, oder andere Zeugnisse, wie Bücher, Filme, oder wie der Marsch der "Mütter der Verschwundenen", die noch heute zum Jahrestag der Militärdiktatur in Argentinien auf der Plaza de Mayo in Buenos Aires demonstrieren. Die Gedenkstätte in Buenos Aires ist eine weitläufige Fläche am Rio de la Plata aus Rasen und Beton. In Berlin erinnert ein riesiges Stelenfeld an die Opfer des Holocaust. Die beiden Länder finden zusammen in der Biographie von Jeanine Meerapfel, Präsidentin der Akademie der Künste in Berlin, Filmemacherin, Tochter jüdischer Emigranten, eines Deutschen und einer Französin, die vor den Nazis nach Argentinien geflohen waren, wo Jeanine Meerapfel geboren ist. In unserer Reihe "Erinnern und Vergessen" wollten wir mit ihr die Erinnerungskultur in beiden Ländern vergleichen. Deutschland gilt in der Hinsicht ja als Musterknabe, Argentinien hat die Aufarbeitung der Verbrechen der siebenjährigen Militärdiktatur auch viele Jahre lang verzögert. Wie sehen Sie die Gedenkkultur in beiden Ländern?
Jeanine Meerapfel: Sie haben es selber gesagt. Die Gedenkkultur in Deutschland ist beispielhaft. Das habe ich auch in Argentinien gesagt, als wir gemeinsam mit Heiko Maas dort waren – in deutschen Schulen, die dabei sind, ihre eigene Geschichte aufzuarbeiten. Es gibt in Argentinien in Buenos Aires zwei deutsche Schulen und die Schüler sind dabei nachzudenken, wie sind unsere Leute damit umgegangen. Das war sehr interessant, weil tatsächlich eine der Schulen, die Goethe-Schule war eine Nazi-Schule, während die Pestalozzi-Schule, gegründet von Exilierten, von Emigranten, eine aufgeklärte Schule war.
Schweres Erbe aufarbeiten
Fischer: Was meinen Sie mit Nazi-Schule?
Meerapfel: Die war tatsächlich mit Lehrern aus Deutschland bestückt in der Zeit des Nationalsozialismus, und sie war gleichgeschaltet und die Lehrer kamen aus Nazi-Deutschland. Und dieses Erbe, dieses sehr schwere Erbe sind die heutigen Schüler dabei aufzuarbeiten, indem sie Filme machen, indem sie auch Materialien zusammensuchen, die ihnen erzählen, was da geschehen ist. Es war sehr beeindruckend und es war auch sehr beeindruckend, wie Außenminister Maas damit umgegangen ist, weil er den Schülern auch erklärt hat, dass sein Grund, um in die Politik zu gehen, tatsächlich Auschwitz war. Man kann sagen, dass das Nachdenken über die Vergangenheit in Argentinien sehr langsam, wie Sie das vorher gesagt haben, sehr langsam in Gang gekommen ist. Es ist da und die Mütter von Plaza de Mayo sind immer noch da und Sie können sie sehen jeden Donnerstag auf der Plaza. Aber leider ist die jetzige Regierung nicht daran interessiert, dieses Gedächtnis und dieses Denken an das, was passiert ist, aufzubewahren. Sie haben sehr viele Leute entlassen, die in diesen Gedächtnisstätten gearbeitet haben. Das ist sehr problematisch. Die Situation im Moment ist sehr problematisch in Argentinien.
Fischer: Die Gedenkstätte in Buenos Aires – so sagen ihre Macher -, der "Parque de la Memoria", ist von Daniel Libeskinds gezacktem Bau des Jüdischen Museums in Berlin beeinflusst. Das heißt, es gibt lange gezackte Bänder aus Stein mit den Namen von über 6000 Toten. In Deutschland hat es dagegen massive Bedenken gegeben, dieses Stelenfeld würde zum Spielplatz verkommen, die sich aber nicht bewahrheitet haben.
Meerapfel: Richtig. Der "Parque de la Memoria" ist tatsächlich immer noch da und das ist ein wunderbarer Ort zum Gedenken an die sogenannten Verschwundenen. Die argentinische Militärdiktatur hat diese Figur eigentlich erfunden von Verschwundenen, das heißt Menschen, die nicht tot und die nicht lebendig waren, von denen man nicht wusste, wo sie sind – eine schreckliche Art, mit Menschen umzugehen. Die Familien wussten auch nicht, wo ihre Angehörigen sind. Dies alles wird da erinnert. Es gibt aber andere Museen auch. In vielen der Konzentrationslager, die es in Buenos Aires und anderswo in Argentinien gegeben hat, gab es Museen, und darüber spreche ich, dass die im Moment sehr vernachlässigt werden. Das ist sehr schade, weil an diesen Orten kann man genau nachspüren, was da geschehen ist. Trotzdem: Die Justiz hat eine großartige Arbeit gemacht. Viele der Mörder sind hinter Gittern. Und wir hoffen sehr, dass das weitergeht. Im Übrigen finde ich, dass unser Stelenfeld hier in Berlin ein sehr wichtiger Ort geworden ist. Wenn man da steht und fühlt, nicht nur die Schwere des Betons, sondern auch die Schwere der Abwesenheit, versteht man, dass dieser Künstler es wirklich geschafft hat, das Gedenken in einer beinahe physischen Form darzustellen.
Das Band des Erinnerns ist privat und politisch
Fischer: Ich glaube, Jeanine Meerapfel, man ist nicht unbescheiden, wenn man hervorhebt, dass Sie selbst eine Expertin der Erinnerungskultur sind. Sie haben Filme gemacht, die die beiden "Geschichtsdramen" Deutschlands und Argentiniens sogar verweben, wie zum Beispiel in "Der deutsche Freund". Auch "Amigomío" ist eine Art Verdopplung von Exilerfahrung durch Rückblenden in die NS-Zeit.
Meerapfel: Ja. Expertin, das ist ein Wort, das ich nicht so gern auf meinen Schultern tragen möchte. Ich kann sagen, dass das ein Thema ist, das mich beschäftigt hat und weiterhin beschäftigt. Ich habe auch einen Film gemacht, der hieß "Im Land meiner Eltern", und da geht es ganz konkret darum, was ist geblieben, wie gehen wir mit Gedächtnis um und was heißt Erinnern. Das private wie das politische Erinnern ist ein ganz wichtiges Band, das uns zusammenhält.
Fischer: Vielleicht sagen Sie noch mal, wie Sie dieses Band der Erinnerung filmisch umgesetzt haben.
Meerapfel: Unterschiedlich. In "Der deutsche Freund" habe ich das gemacht, indem ich erzähle, wie der Sohn eines Nazis, der in Argentinien Zuflucht gesucht hat, wie der aufwächst und versucht, dann zu verstehen, was sein Vater gemacht hat, und entsetzt ist darüber und dann nach Deutschland geht, um mit in der 68er-Bewegung tätig zu sein, wie er sich verliebt in ein jüdisches Mädchen. Dieses jüdische Mädchen ist tatsächlich in der Lage, ihm zu sagen, das war Dein Vater, das bist nicht Du. Diese Auseinandersetzung, die ich selbst erlebt habe in den 68er-Jahren hier in Deutschland, ist die Basis dieses Films.
Fischer: Welche Rolle, Jeanine Meerapfel, spielen solche Filme im historischen Gedächtnis eines Landes, und welche Rolle würden Sie der Kultur überhaupt zuschreiben, wenn es ums Erinnern geht?
Meerapfel: Die Filme bleiben. Das ist das Gute. Welche Rolle sie spielen? – Sie müssen immer wieder gezeigt werden. Das ist kürzlich geschehen in einer Retrospektive, die sie meinen Filmen im Bundesplatz-Kino gegeben haben. Die Filme bleiben und sie können immer wieder gesehen werden und man kann sich damit auseinandersetzen. Wie weit man jetzt sagen kann, dass dies genug ist, das kann ich nicht beantworten. Wichtig ist, dass in der Kultur und dass die Künstler immer wieder diese Verantwortung tragen, sich tatsächlich mit der Geschichte auseinanderzusetzen. Wenn man nicht erinnert, wird man die Fehler wiederholen. Das ist ein bekannter Satz und das war auch ein Satz, den wir genommen haben mit Wolfgang Benz in der Akademie der Künste, um dieses Thema zu eruieren. Wie Sie wissen, machen wir in der Akademie der Künste ziemlich viel im Moment über Erinnerung. Wir haben ein Gespräch demnächst in der Akademie über Antisemitismus in Deutschland - immer noch, immer wieder -, wo wir uns fragen, wie ist das möglich und wie können wir das bekämpfen. Da spreche ich mit dem Vorstand der Amadeu Antonio Stiftung oder mit Wolfgang Benz oder mit Monika Schwarz-Friesel, die gerade eine Studie gemacht hat über die letzten Jahre in Deutschland, wie kommt Antisemitismus vor. Und noch wichtiger vielleicht ist: Am 9. Und 10. November machen wir Veranstaltungen zur Erinnerung an die November-Pogrome 1938. Da werden wir ein Buch von Michael Ruetz vorstellen, der in tausenden Archiven in Deutschland großartige Fotodokumente gefunden hat über dieses Pogrom. Wolfgang Benz wird dazu einen Vortrag halten. Am nächsten Tag werden wir von Rüdiger Suchsland einen Film zeigen, "Hitlers Hollywood", und darüber nachdenken, wie Propaganda funktioniert hat. Das sind alles Themen, die, wie Sie merken, damit zusammenhängen, wie gehen wir mit der Erinnerung um und wie ist es möglich, diese Erinnerung zu etwas Positivem umzuwandeln.
Erziehung zur Erinnerung
Fischer: Sie haben meine letzte Frage fast schon vorweggenommen. Ich wollte einen kleinen Schwenk zum "Vergessen" machen, das wir in unserer Reihe ja auch immer bedenken. Denn Schülerinnen und Schüler heute, heißt es, wissen nicht mehr, was die DDR war, und auch die Katastrophe des 20. Jahrhunderts, der Holocaust, verblasst, weil die Zeitzeugen sterben. Wie kann Erinnerungskultur fruchtbar gemacht werden in der zukünftigen Gesellschaft, zum Beispiel, wenn wir von 30 Prozent Jugendlichen mit Migrationshintergrund ausgehen?
Meerapfel: In den Schulen. In den Schulen muss unbedingt gearbeitet werden. Ich finde, das ist die Verantwortung der Politiker, jetzt wirklich dafür zu sorgen, dass in den Schulen darüber geredet wird, auch wenn die Zeitzeugen nicht mehr da sind. Es geht darum, Geschichte immer wieder auszuleuchten, Geschichte in jedem Sinne, auch die eigene Geschichte, auch die Geschichte der Fremden, die zu uns kommen. Und ich denke, ohne Erziehung und ohne, dass es in den Schulen darüber geht, was bedeutet Erinnern, und wie schrecklich ist Vergessen, ohne dies wird es nicht gehen. Und ich finde, dass da viel Geld eingesetzt werden sollte in der Erziehung der Jugendlichen, sowohl die neu Dazugekommenen wie die, die hier leben und die zum Beispiel auch nicht mehr sich an die DDR erinnern. All dies muss wirklich gemacht werden ab der Schulzeit.
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