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Argentinischer Filmemacher Fernando Solanas
Leben zwischen Kunst und Politik

Neokolonialismus, Umweltzerstörung, die argentinische Regierung - Fernando Solanas hält sich mit Kritik nicht zurück. Mit seinen Filmen traf der Dokumentarfilmer und heutige Politiker den Nerv jener Generation, die in vielen Ländern gegen Ausbeutung und autoritäre Gesellschaftsstrukturen rebellierte.

Fernando Solanas im Gespräch mit Peter B. Schumann |
    Fernando E. Solanas steht vor Palmen bei den Cannes Filmfestspielen 2015
    Der argentinische Filmemacher und Politiker Fernando Solanas (imago stock & people)
    Neben vielfach ausgezeichneten Dokumentar- und Spielfilmen hat Solanas sich Anfang der 90er-Jahre aktiv in die Politik eingemischt. Er wurde Parlamentsabgeordneter und ist heute Senator einer linken Oppositionspartei. Keinem anderen lateinamerikanischen Regisseur ist es gelungen, sein gesellschaftliches Engagement sowohl in praktische Politik wie in ein herausragendes filmisches Werk umzusetzen. Der Spagat zwischen Kunst und Politik ist Thema eines Gespräches, das Peter B. Schumann mit Solanas am Rande der Berlinale 2018 geführt hat.

    Das Gespräch zum Nachlesen:
    Peter B. Schumann: Fernando Solanas ist einer der bedeutendsten Filmregisseure Lateinamerikas. Mit seinem dreiteiligen, revolutionären Dokumentarfilm-Epos "La Hora de los Hornos" ("Die Stunde der Feuer") begründete er 1968 seinen Ruhm. Er traf damals mit seiner vehementen Kritik am Neokolonialismus in Argentinien und Lateinamerika den Nerv jener Generation, die in vielen Ländern gegen Ausbeutung und Ungerechtigkeit rebellierte. Nach einer Reihe vielfach ausgezeichneter Spielfilme begann er, sich in die politische Debatte Argentiniens einzumischen.
    Als man ihn 1991 durch ein Attentat zum Schweigen zu bringen versuchte, entschied er sich, aktiv in die Politik einzutreten. Er wurde Parlamentsabgeordneter und ist heute Senator der kleinen, linken Oppositionspartei Proyecto Sur. Keinem anderen lateinamerikanischen Regisseur ist es gelungen, sein gesellschaftliches Engagement sowohl in praktische Politik wie in ein herausragendes filmisches Werk umzusetzen. Dieser Spagat zwischen Kunst und Politik ist Thema dieses Gespräches, das ich mit dem argentinischen Filmemacher während der letzten Berlinale geführt habe. Dort lief sein neues Werk "Viaje a los Pueblos Fumigados" ("Reise zu den verseuchten Dörfern"). Es ist der letzte Teil seiner filmischen Auseinandersetzung mit der politischen Entwicklung in Argentinien. Vor einem halben Jahrhundert hat er sie mit "La Hora de los Hornos" ("Die Stunde der Feuer") begonnen.
    Fernando Solanas, wie ist die Idee zu diesem Film, Ihrem bekanntesten Werk, entstanden?
    Fernando Solanas: Ich habe damals Antworten auf viele Fragen zur Realität Argentiniens gesucht, zu seiner Geschichte und meiner eigenen politischen und kulturellen Identität. Außerdem wollte ich mich damit in die Wirklichkeit einmischen, in der Argentinien lebte. Meine Generation war überzeugt, dass sie an der herrschenden Situation nichts ändern konnte, dass eine dauerhafte Demokratie auf demokratischem Weg nicht zu verwirklichen war, denn es hatte drei Militärputsche in den letzten 18 Jahren gegeben. Wir haben geglaubt, dass die militärische Macht nur durch einen Aufstand zu beseitigen war und dass erst danach eine wirkliche Demokratie etabliert werden konnte. So ist "Die Stunde der Feuer" entstanden.
    "Peronismus war erste wirkliche Revolution in Argentinien"
    Schumann: Der Film von viereinhalb Stunden Länge besteht aus drei Teilen. Im ersten Teil dokumentieren Sie die Situation des Elends, der Ausbeutung und der Abhängigkeit. Der letzte Teil ist ein Aufruf zu Revolution. Den zweiten Teil haben Sie dem Peronismus gewidmet. Was hat Sie an dieser Ideologie fasziniert?
    Solanas: Nach der Mexikanischen Revolution hat der Peronismus die nächste soziale Revolution in Lateinamerika durchgeführt. Das sollte man hier endlich akzeptieren. Es war die erste wirkliche Revolution von großer sozialer Tragweite in Argentinien. Sie hat den ersten Vertrag über Arbeitsrechte formuliert, überhaupt die Sozialgesetzgebung geschaffen: so zum Beispiel den Achtstundentag und den Samstag als halben Arbeitstag. Sie hat die Industrialisierung vorangetrieben: den Flugzeugbau entwickelt, eine Handelsflotte aufgebaut, die sechstgrößte der Welt. In drei, vier Jahren fand ein außergewöhnlicher Transformationsprozess statt.
    Schumann: Der Film besticht auch heute noch durch die Aussagekraft seiner Bilder. Wie haben Sie das erreicht?
    Solanas: Meine besondere Begabung besteht nicht in der Schärfe meines Gehörs und auch nicht im Schreiben, sondern in meinem Blick, der dem eines bildenden Künstlers ähnelt. An der Filmkunst wirken im besten Fall alle Künste mit. Sie ist eigentlich bildende Kunst in Bewegung. Das habe ich allmählich in der Praxis gelernt. Und diese ästhetische Sorgfalt sieht man bereits im ersten Teil von "Die Stunde der Feuer", in dem die Anklage am schärfsten ist.
    Schumann: Der zweite Teil, die Geschichte des Peronismus von 1945 - 1955, besteht hauptsächlich aus Archivmaterial. Er war 1968 eine besondere Provokation, weil der Peronismus und selbst Fotos von Perón verboten waren. Wo konnte der Film denn überhaupt laufen?
    Solanas: Ihn im Kino zu zeigen, war unmöglich: Wir wären alle verhaftet worden. Wir haben ihn deshalb außerhalb des kommerziellen Systems gezeigt. Ich hatte in der Diktatur schon Erfahrungen mit der Vorführung verbotener Filme gesammelt. Wir haben sie in Privatwohnungen für Nachbarn, Genossen und Aktivisten gezeigt, für 20, vielleicht 30 Leute: Kurzfilme aus Kuba, Filme von Joris Ivens über den Krieg in Vietnam und so weiter. Bei einem langen Film wie "Die Stunde der Feuer" musste man zwei oder drei Pausen für den Rollenwechsel machen. In diesen Minuten begannen die Leute, beeindruckt von den Bildern, über die argentinische Wirklichkeit zu sprechen.
    Undatierte Aufnahme von Juan Perón und seiner Frau Eva
    Fotos von Juan Perón waren früher noch verboten. (dpa / picture alliance)
    Schumann: Mit "La Hora de los Hornos" begann 1968 das militante Kino in Lateinamerika. Hat dieses dokumentarische Epos für Fernando Solanas heute noch eine politische Bedeutung?
    Solanas: "La Hora de los Hornos" stellt ein Stück Geschichte dar, die Chronik des Peronismus beispielsweise. Die Teile, die sich auf die Aktualität jener Zeit beziehen, haben keine Bedeutung mehr: Der bewaffnete Kampf hat heute keinen Sinn. In Argentinien haben wir Demokratie, können debattieren und demonstrieren. Die Regierung ist zwar miserabel, zynisch, korrupt, reaktionär, aber niemand käme auf die Idee, sie mit Gewalt zu stürzen. "La Hora de los Hornos" kann man nur noch in seinem historischen Kontext bewerten.
    Schumann: Wir machen jetzt mal einen großen Sprung an den Anfang der 1990er-Jahre. Sie waren durch die Militärdiktatur ins Exil nach Paris getrieben worden, hatten nach Ihrer Rückkehr in Buenos Aires große, vielfach ausgezeichnete Spielfilme gedreht: "Tangos - el Exilio de Gardel", "Sur" und "El Viaje". Und Sie haben die mediale Aufmerksamkeit durch ihre Filmerfolge genutzt, um den neuen peronistischen Präsidenten Carlos Menem wegen dessen neoliberalistischer Politik heftig zu kritisieren.
    Solanas: Ich habe als erster erklärt, dass Menem Argentinien dem Ausland ausliefere.
    "Das Attentat hat mein Leben verändert"
    Schumann: Sie haben genau gesagt, er sei der Kopf "einer Verbrecherbande, die das öffentliche Erbe verscheuert".
    Solanas: Daraufhin strengte Menem ein Strafverfahren wegen Verleumdung und Beleidigung gegen mich an. Ich habe jedoch vor Gericht meine Kritik belegen können. Kurz darauf schoss mir ein Kommando des Geheimdienstes sechs Kugeln in die Füße, am 23. Mai 1991. Zuvor hatte ich bereits zahlreiche Drohungen per Telefon erhalten. Ich war jedoch bis dahin der Meinung, wenn ich den Staatspräsidenten attackiere, dann bin ich gewissermaßen geschützt, denn wenn mir etwas passiere, dann würde jeder sofort glauben, Menem stecke dahinter. Aber das war ein Irrtum.
    Schumann: War dies das Schlüsselerlebnis, weshalb sich der Regisseur Solanas auch als Politiker betätigte?
    Solanas: Das Attentat hat mein Leben verändert. Man wollte mich dadurch zum Schweigen bringen. Doch bereits auf dem Krankentransport habe ich Menem angeklagt. Und am Abend versammelten sich Hunderte von Argentiniern vor der Klinik, wo ich operiert worden war. Sie forderten mich auf, als Politiker aktiv zu werden.
    Schumann: Sie haben dann 1993 zusammen mit anderen Oppositionellen eine neue Partei gegründet. Was für ein Programm verfolgte sie?
    Solanas: Ein Programm der linken Mitte, das sich von sozialistischen Programmen nicht wesentlich unterschied. Ich wurde Parlamentsabgeordneter und habe mich sehr für eine Verfassungsreform eingesetzt. Dann spaltete sich die Partei: Der größere Teil schloss sich der bürgerlichen Mitte an, ich blieb beim kleineren linken Flügel. Menem gewann erneut die Präsidentschaftswahlen. Und ich fühlte mich immer mehr isoliert, habe jedoch mein Mandat bis zum Ende erfüllt und bin 1997 zum Film zurückgekehrt.
    Schumann: Und haben "La Nube" ("Die Wolke") gedreht: eine etwas surreale Spielfilm-Parabel gegen den Menemismus in düsteren Schwarz-Weiß-Bildern über eine Gruppe von Theaterleuten, die verzweifelten Widerstand leisten gegen den Abbruch ihrer Spielstätte. Sie hatten Pech mit diesem Film, denn er kam in einem Moment heraus, in dem eine neue, schwache, bürgerliche Regierung nach dem Abgang Menems dessen Hinterlassenschaft schlecht managte und Argentinien Ende 2001 beinahe in den Abgrund stürzte.
    Solanas: Da habe ich erneut zu filmen begonnen mit der kleinen Kamera, die ich immer bei mir trage, und habe die vielen Demonstrationen und Versammlungen festgehalten, die überall stattfanden. Die Regierung hatte die Bankkonten gesperrt, die Banken hatten sich der Sparkonten bemächtigt, um die Hyperinflation zu bewältigen. Zuvor hatten sie die Dollarbeträge noch schnell ins Ausland geschafft. In meinem Dokumentarfilm "Memoria del Saqueo" ("Erinnerung an die Plünderung") von 2004 zeige ich zum Beispiel, wie Frauen und Männer in ihrer Verzweiflung an die metallenen Rollläden schlagen, die die Banken überall heruntergelassen haben. Dabei kam ich auf die Idee, ein neues Fresko über die Krise Argentiniens in den '90er-Jahren zu machen. Zunächst dachte ich an einen dreistündigen Film. Aber daraus wurden dann mehrere Filme.
    Schumann: Mit "Erinnerung an die Plünderung" kehren Sie zum ersten Mal wieder zum Dokumentarfilm zurück.
    Solanas: Ich mag es überhaupt nicht, wenn man meine Filme Dokumentarfilme nennt. Das sind sie nicht. Sie bestehen aus einer Fusion der Genres. Sie haben inszenierte Elemente, die Bildeinstellungen sind durchdacht. Oder glauben Sie, dass die Szene in einer Bank, wo ein Angestellter einen Ordner öffnet, improvisiert ist? Das ist alles inszeniert. In "El Legado", meinem wichtigsten Film über das Erbe Peróns, musste ich noch mehr inszenieren, denn der Protagonist, Perón, war tot und ich rede im Film mit ihm. Deshalb erscheinen in dem Gespräch, das ich mit Perón bei einem Spaziergang durch den Garten führe, nur zwei Schatten.
    Schumann: "Viaje a los Pueblos Fumigados" ("Reise zu den verseuchten Dörfern"), Ihr neuestes Werk, ist Ihr achter langer Filmessay - wenn Sie diesen Ausdruck gestatten. Sie haben an dieser Serie insgesamt 14 Jahre gearbeitet. Es ist damit die umfangreichste filmische Langzeitbeobachtung über das Schicksal eines Landes, die ich kenne. Nach "Erinnerung an die Plünderung", dem ersten dieser Reihe, erschien dann zunächst "Die Würde der Namenlosen".
    Solanas: Darin habe ich die Opfer dieser Politik und ihren Widerstand gezeigt. Danach folgte "Argentina latente" ("Verborgenes Argentinien"), eine Hommage an all die Wissenschaftler, Professoren und Lehrer, die in Argentinien immer von der Politik missachtet wurden.
    Die argentinische Präsidentin Cristina Fernandez de Kirchner bei einer Rede am 1.3.2015 vor dem Parlament in Buenos Aires
    "Sie ertrug keine Opposition", sagt Filmemacher Solanas über die argentinische Regierungschefin Christina Kirchner (picture-alliance / dpa / David Fernandez)
    Schumann: Ein gerade heute wieder brandaktuelles Thema angesichts der Politik der Regierung Macri: des Abbaus von wissenschaftlicher Forschung und der miserablen Bezahlung der Lehrkräfte.
    Solanas: Und dann kam der Film über das Bahnwesen. Darin kläre ich über die Korruption in der Eisenbahnverwaltung, im Transportministerium und an der Spitze der Eisenbahnergewerkschaft auf. Sowie beim Hochgeschwindigkeitszug - einem Lieblingsprojekt von Cristina Fernández de Kirchner. Es sollte Buenos Aires mit Rosario und mit Mar del Plata verbinden, obwohl das ganze Land dagegen war. Sie hat aus China zahllose, komplett eingerichtete Züge gekauft, ohne jegliche Ausschreibung. Wir hätten nur zu gern gewusst, ob deutsche Züge nicht besser gewesen wären oder französische oder russische oder vielleicht sogar die chinesischen. Außerdem hatten wir in Argentinien eine gute Eisenbahnindustrie. Die hat man zerstört.
    Schumann: Wie hat die Regierungschefin Cristina auf Ihren Eisenbahnfilm "La Próxima Estación" ("Die nächste Station") reagiert?
    Solanas: Sie ertrug keine Opposition und deshalb wurde er im offiziellen Kulturkanal Encuentro nicht gezeigt und auch nicht in den anderen Kanälen. Weder dieser Film noch alle folgenden. Sie ertrug einfach keine Kritik.
    Schumann: Weshalb hat sie eigentlich 2015 die Wahlen verloren?
    Solanas: Cristina verlor gegen einen unbedeutenden Kandidaten der Regierung, Bullrich, ein Herr Niemand. Das heißt: Ihre Niederlage war unglaublich, obwohl der zahlenmäßige Abstand zwischen beiden nur gering war: 35 zu 33 Prozent. Damit begann jedoch der Niedergang des Kirchnerismus. Der peronistische Block, dem er angehört, zerlegte sich in drei Teile.
    Schumann: Seit dem Frühjahr versuchen allerdings die verfeindeten Lager, sich wieder anzunähern, denn nur so haben sie eine Chance gegen Macri.
    Solanas: Das ist der offizielle Peronismus und Kirchnerismus, dem ich nie angehört habe. Ich bin an sich ein sehr umgänglicher Mensch, solange niemand meine Autorität in Sachen Perón infrage stellt. Ich kann jedoch angesichts der vielen politischen Verirrungen auf die Palme gehen und habe sie immer wieder kritisiert, zum Beispiel in meinem letzten Buch "Das Erbe".
    Schumann: Dazu gehört auch Ihr vorletzter Film, Herr Solanas "Das strategische Erbe von Juan Perón". Ist das ein Resümee Ihrer lebenslangen Beschäftigung mit dem Perónismus?
    Solanas: Natürlich. Auch dieser Film besteht aus verschiedenen Dingen. Es ist meine persönliche Erinnerung an die Filmarbeiten mit Perón zwischen 1971 und 1974 in seiner Villa in Madrid. Und es ist ein Zeugnis all dessen, was ich in "La Hora de los Hornos" nicht zeigen konnte. Damit schließe ich meine jahrzehntelange Auseinandersetzung mit dem Peronismus ab. Das Buch vervollständigt den Film. Es enthält außer dem Drehbuch einen langen Essay von mir über all die Fragen, die wir jetzt in diesem Gespräch behandeln, nur viel ausführlicher und konkreter. "El Legado" ist einer meiner besten Filme.
    "Argentinien ist für vier Generationen verschuldet"
    Schumann: Dazu gleich ein Frage: War die Spaltung des Peronismus eine der wichtigsten Ursachen dafür, dass nach Jahrzehnten und noch dazu auf demokratischem Weg mit Mauricio Macri die politische Rechte wieder an die Regierung kam und ein neues Desaster bewirkte?
    Solanas: Das ist wirklich ein Desaster, zumal die Ideen Mauricio Macris bereits in Argentinien erprobt wurden. Es sind die Ideen der Wirtschaftsminister von Menem und der Diktatur. Sie haben damals die Schulden Argentiniens wahnsinnig in die Höhe getrieben. Macri hat die Außenschuld in seiner kurzen Amtszeit bereits wieder auf 120 Milliarden Dollar gesteigert. Argentinien ist für vier Generationen verschuldet. Dabei hat Macri anfangs versprochen, dass in sechs Monaten Investitionen fließen würden. Er machte alle Welt glauben, ein großer Unternehmer an der Spitze und ein liberaler Wirtschaftsplan würden ausreichen, damit die Investoren kämen. Aber sie sind bis heute nicht gekommen. Seit er die Wahlen im letzten Jahr gewonnen hat, glaubt er, seine Reformen einfach so durchziehen und die Errungenschaften des Arbeitsrechts abschaffen zu können.
    Schumann: Doch wieso hat er überhaupt diese Wahlen gewinnen können?
    Solanas: Wegen der Allianz der Macht, die er bilden konnte. Dazu gehören alle großen Wirtschaftsgruppen des Landes, die hier tätigen internationalen Unternehmen sowie die beiden dominanten Medienunternehmen La Nación und Clarín, die Stimmen der Regierung.
    Schumann: Aber die Bevölkerung hat doch unter den einschneidenden Reformen gelitten.
    Solanas: Die Kampagne der Medien gegen die Korruption in der Kirchner-Zeit war so breit gestreut, dass sie viele beeindruckte. Ständig wurde über dieses "schreckliche Erbe" berichtet, das man natürlich nicht in einem Jahr beseitigen könne. Das Geld, das euch heute fehlt - so hieß es - haben sie euch gestern geklaut. Es ist bekannt, dass damals viel Geld gestohlen wurde, aber das war nicht das einzige Problem und auch nicht die Ursache für alle übrigen Mängel.
    Schumann: Noch einmal zurück zu Ihrem Film "Viaje a los Pueblos Fumigados" ("Reise zu den verseuchten Dörfern"). Er handelt von einem Problem, für das Sie sich seit Ihrer Rückkehr in die Politik Mitte des letzten Jahrzehnts besonders engagieren: die Umweltzerstörung.
    Solanas: Dieser Film hat die Regierung außerordentlich geärgert, denn sie fördert entschieden das agroindustrielle Soja-Modell, den Bergbau unter freiem Himmel, die exzessive Rohstoffausbeutung. Und zwar auf der Grundlage eines strategischen Vertrags mit China, den jedoch 2004 Cristina Kirchner geschlossen hat. Ausgehandelt hat den Deal der Vater von Mauricio Macri, die Gruppe Macri, eine der reichsten des Landes. Den Vertrag hat dann Macri als Präsident ausgeweitet und auch noch die Zollschranken weitgehend abgeschafft. Jetzt importieren wir Gläser, Schweinefleisch, Orangen - alles, was bisher in Argentinien produziert worden ist.
    Gebrauchte Kanister liegen am 30.05.2017 neben dem Gelände einer Ölfabrik in der Provinz Entre Rios (Argentinien). Argentinien ist mit 53 Millionen Tonnen (2016/17) drittgrößter Sojaproduzent - und einer der größten Abnehmer des umstrittenen Pflanzenschutzmittels Glyphosat.
    Rund 90 Prozent der Landwirtschaft in Argentinien wird mit chemischen Stoffen, meist Glyphosat, produziert, sagt Filmemacher Solanas. (dpa / Pablo E. Piovano)
    Schumann: Werden heute in Argentinien noch Nahrungsmittel ohne Pflanzengifte hergestellt?
    Solanas: In Argentinien existiert eine zunehmende Bio-Landwirtschaft. Sie macht aber nicht mehr als zehn Prozent aus. Der Rest wird mit chemischen Stoffen produziert, meist mit Glyphosat. Doch darüber wird die Bevölkerung im Unklaren gelassen. Und auch darüber, dass Unkraut und Schädlinge mit der Zeit resistent werden, weshalb man immer mehr Glyphosat und noch schädlichere Pestizide verwenden muss. Hinzu kommt die Abtrift des Sprühnebels, denn es werden für die endlosen Flächen Flugzeuge eingesetzt, deren Giftstoffe beim Zerstäuben von der Luft kilometerweit über das Zielgebiet hinaus getrieben werden. Das heißt: Nicht nur die Landbewohner werden kontaminiert, sondern auch die Stadtbevölkerung und zwar durch das Wasser, denn das Glyphosat ist auch im Regen in minimalen Spuren vorhanden, die sich jedoch mit der Zeit akkumulieren. Und gerade Gemüse und Salat, die wir für äußerst gesund halten, besitzen die meisten Giftstoffe.
    Schumann: Sie selbst, Herr Solanas, haben im Film Ihre eigenen Blutwerte untersuchen lassen nach Ihren vielen Reisen über Land.
    Solanas: Ich hätte dazu gar nicht umherreisen müssen, denn man vergiftet sich bereits beim Essen in der Stadt. Das lässt sich gar nicht vermeiden. Ich vermute, dass dies in Deutschland nicht geschieht, denn bei Ihnen gibt es bessere und staatliche Kontrollen der Lebensmittelproduktion und der Herstellung des Saatguts. In Argentinien gibt es dagegen sehr wenig Kontrolle.
    Schumann: Und warum nicht?
    Solanas: Bei der Entbürokratisierung des Staatsapparats, seiner angeblichen Modernisierung, wurde dieser demontiert und dabei wurden viele Kontrollen abgeschafft. Deshalb gibt es auch keine Kontrolle der Auslandsinvestitionen. In Kanada und Norwegen werden sie alle zwei Monate überprüft. In Argentinien gibt es dergleichen nicht.
    Schumann: Ist eigentlich auch das berühmte argentinische Fleisch, das wir hier so gern essen, kontaminiert?
    Solanas: Nein, denn dafür gibt es einen wirksamen Filter. Kontaminiertes Fleisch wird nicht exportiert. Fleisch, bei dem Hormone oder Anabolika entdeckt werden, kommt auf den einheimischen Markt. Du isst das gute, ich esse das schlechte Fleisch.
    "Die Opposition ist Komplizin"
    Schumann: Das ist ein ungeheurer Widerspruch.
    Solanas: Natürlich. Der Film endet mit einer Sequenz, in der es heißt: "Alle wissen es, aber alle halten den Mund." Der Präsident genauso wie die Unternehmer, die Gesetzgeber genauso wie die Richter, die Gewerkschaften genauso wie die Medien, denn die Soja finanziert den Staat. Ich weiß nicht genau, wieviel Prozent des Budgets, ich schätze zwischen 15 und 18 Prozent. Die Soja wirft große Gewinne für die gesamte Agroindustrie wie für die Staatskasse ab. Deshalb schauen alle weg. Außerdem verfügt dieser Sektor über einen der größten Werbeetats in der Presse, im Fernsehen und im Radio.
    Schumann: Und die Opposition ist derart schwach -
    Solanas: - nein, sie ist Komplizin, zumindest der größte Teil, nicht die Linke oder Minderheitsparteien wie die meine. Die Mehrheitsparteien wie Macris Cambiemos oder die Peronisten, das sind nur am Machterhalt interessierte Apparate. Die Peronistische Partei hat sich seit dem Tod Peróns nur für die Verteidigung ihrer Wirtschaftsinteressen eingesetzt.
    Schumann: Acht Dokumentarfilme haben Sie in den letzten Jahren über die Verhältnisse in Argentinien gedreht. Hat das staatliche Filminstitut Sie dabei unterstützt?
    Solanas: Das Filminstitut gibt einem lediglich einen Kredit von 20 oder vielleicht 30 Prozent, manchmal auch nur zehn Prozent. Wer einen höheren Kredit erhält, bei dem darf man sicher sein, dass er mit Hilfe der Institutsdirektoren sich einiges davon in die eigene Tasche steckt. "Memoria del Saqueo" war die einzige Coproduktion, die ich machen konnte, mit Frankreich und der Schweiz.
    Schumann: Bedeutet dies, dass Ihre Filme international wenig aufgeführt werden?
    Solanas: Viele von ihnen blieben im Ausland unbekannt, denn ich habe sie unter prekären Bedingungen gemacht. Und ich bekam auch keine Unterstützung durch die Regierung Kirchner. In ihren ersten beiden Jahren wurden meine Filme offiziell immerhin noch erwähnt. Doch dann machte Kirchner eine politische Kehrtwende, und wir haben nicht aufgehört, sie zu kritisieren. Und bei dem Eisenbahnfilm war Cristina bereits an der Regierung.
    "Jedes Mal muss ich mich verschulden"
    Schumann: Lässt sich die Wirkung Ihrer Filme, Fernando Solanas, irgendwie in Zahlen fassen?
    Solanas: Das lässt sich nicht so direkt feststellen. Alle Filme wurden von Lehrern und Professoren an Schulen und an Universitäten gezeigt. Kein Film kann jedoch das Land verändern, genauso wenig wie ein Buch. Außerdem kommt es in Argentinien überhaupt sehr selten vor, dass ein Dokumentarfilm im Kino gezeigt wird, am wenigsten polemische, konfliktreiche Filme. Außerdem stehen die Leute bei Filmen wie den meinen nicht gerade Schlange. Sie sind müde, überfordert, es geht ihnen schlecht.
    Schumann: Aber man sieht sie doch ständig auf der Straße demonstrieren.
    Solanas: Sie sind auf der Straße, aber wenn sie am Feierabend ausgehen wollen, dann suchen sie doch kein Kino auf, um etwas Ähnliches zu sehen. Diese Filme laufen in Gewerkschaften, Kulturzentren, zuhause oder in politischen Veranstaltungen und zwar kostenlos. Das ist eine Katastrophe. Keiner dieser Filme mit Ausnahme "Erinnerung an die Plünderung" hat die Kosten eingespielt. Jedes Mal musste ich mich verschulden… Für den letzten Film brauchte ich deshalb drei Jahre, um ihn fertigzustellen.
    Schumann: Eine Frage an den Senator Solanas: Was für eine Perspektive hat Argentinien unter Macri? Die Bevölkerung ist bereit zu streiken, sie demonstriert fast ständig auf den Straßen, erreicht dadurch jedoch nur wenig. Eine wirkliche Opposition existiert nicht.
    Solanas: Das ist eine falsche Einschätzung. Macri gewann die Präsidentschaft mit lediglich 1,5 Prozent Unterschied. Und wenn jetzt Wahlen wären, würde er nicht gewinnen. Die argentinische Arbeiterklasse verfügt über ein großes Potenzial an Kampferfahrung - wie in keinem anderen Land Lateinamerikas. Deshalb ist es hier unmöglich, das Arbeitsrecht völlig zu verändern. Das heißt: Wenn hier jemand die Grundrechte angreift, erhebt sich das Land. Argentinien ist das einzige Land, das die Verantwortlichen für den Staatsterrorismus abgeurteilt hat. Und diese Gerichtsverfahren waren demokratischer und tiefgreifender als die in Nürnberg. Und sie gelten an US-amerikanischen und europäischen Universitäten als beispielhaft. Dieses Erbe kann uns niemand nehmen.
    Schumann: Sie glauben also, dass Mauricio Macri nicht einfach durchregieren kann?
    Solanas: Natürlich nicht. Er kann noch nicht einmal problemlos durch Buenos Aires fahren, denn ständig steht der Verkehr still, weil das Volk wieder gegen eine seiner neuen Maßnahmen protestiert. Am Anfang seiner Präsidentschaft hat er groß verkündet, er werde mit den Straßensperren Schluss machen. Aber die Stadt wird immer wieder besetzt. Die in der informellen Wirtschaft Arbeitenden sind heute besser organisiert.
    Schumann: Die sogenannten "Piqueteros", die in der Regel die Straßensperren organisieren.
    Solanas: Sie besaßen früher keinerlei Rechte und sind während der Regierung Kirchner zu einer sozialen Bewegung geworden, die im Nu die ganze Stadt lahmlegen kann.
    Schumann: Das heißt: Ihre Hoffnung richtet sich auf den Protest des Volkes?
    Solanas: Natürlich, denn von den rechten und konservativen Teilen der Gesellschaft ist nichts zu erwarten. Immer wieder sind Regierungen aufgetaucht und haben Lösungen für die großen sozialen Konflikte versprochen. Aber keine von ihnen hat sich jemals ernsthaft darum gekümmert, sondern hat sie immer nur in die Zukunft verschoben. Deshalb bleibt diesen Teilen der Gesellschaft, die gegen die Ungerechtigkeit aufbegehren, nur der Protest auf der Straße. Das ist die einzige Möglichkeit, sich Gehör zu verschaffen.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.