"Weshalb ist es schiefgegangen?"- Das ist die Frage, die Ari Shavit sich und seinen Lesern nach 469 Seiten stellt. Die nächsten hundert Seiten widmet er seinem Versuch einer Antwort. Sie fällt nicht befriedigend aus, aber gerade ihre Defizite machen deutlich, wie tief Israel in der Krise steckt. Aber dazu später.
Also: Warum ist es schief gegangen? Und was überhaupt? Ari Shavit meint mit diesem "es" alles, was Israel ausgemacht hat, was zu seiner Gründung führte, was seinen Aufstieg begründete, seine Blüte. Er meint den Zionismus. Der Aufstieg ist längst einem Niedergang gewichen, die Blüte einem politischen Herbst. Ari Shavit beschreibt also den Triumph seines Landes - und dessen Tragödie.
Shavit gehört zu den renommiertesten Kolumnisten Israels, er schreibt für die linksliberale Tageszeitung "Haaretz". Die politische Heimat des 1957 geborenen Journalisten war die Friedensbewegung der 1980er- und 90er-Jahre, deren Scheitern er ohne Sentimentalität feststellt. Er ist also - politisch - heimatlos und schreibt deshalb die Geschichte seines Heimatlandes. Allerdings keine politische Ereignisgeschichte, wie sie schon so oft geschrieben worden ist. Shavit verfasst den Bericht einer Reise durch die Zeit und durch das Land. Er besucht Orte, an denen sich die Geschichte des Landes entschieden hat. Und er trifft Menschen, die das Land geprägt haben oder die von der Geschichte des Landes geprägt wurden: Generäle und Geheimdienstler, Holocaustüberlebende und Atomforscher, Politiker und Schriftsteller, Wirtschaftsmagnaten und Galionsfiguren des sozialen Protests, Ultraorthodoxe und radikale Siedler. So setzt er wie im Kaleidoskop sein Bild der Geschichte Israels zusammen.
Am Anfang steht sein Großvater Herbert Bentwich, Mitglied der oberen Mittelschicht Großbritanniens, ein Zionist der ersten Stunde, der dem jüdischen Nationalismus anhängt, weil er das Judentum vor dem Untergang bewahren will. Vor dem Untergang durch die im Westen grassierende Assimilation und die im Osten grassierenden Pogrome. Also macht er sich auf nach Palästina, wo er arme Dörfer und öde Landschaften sieht, aber eines nicht: Seine Bewohner, die Araber:
"Dass mein Großvater nicht sieht, dahinter verbirgt sich die Notwendigkeit, die Augen vor bestimmten Dingen zu verschließen. Er sieht nicht, weil er, wenn er es täte, sich abwenden und kehrtmachen müsste. Doch er kann nicht zurück. Damit er also weitermachen kann, zieht er es vor, nicht zu sehen."
Herbert Bentwich also ist blind, und der Zionismus ist es auch. Das klingt recht lapidar bei Shavit, obwohl so doch der Grundstein gelegt wird nicht nur für die Gründung des Staates Israel, die nationale Heimstätte der Juden, sondern auch für die Vertreibung und Entrechtung hunderttausender Palästinenser in der Nakba, der Katastrophe des Jahres 1948. Die bahnt sich schon zehn Jahre zuvor an, als auch der palästinensische Nationalismus erwacht und es immer wieder zu Ausbrüchen der Gewalt auf beiden Seiten kommt:
"All das, was unterdrückt und geleugnet wurde, seitdem Herbert Bentwich im Jahr 1897 in Jaffa an Land gegangen war, stieg jetzt mit Macht an die Oberfläche und verschaffte sich Geltung. Innerhalb eines Jahres setzte sich eine erbarmungslos realistische Sicht der Dinge durch: wir oder sie, Leben oder Tod."
Israel lebt, und wird zur Heimat der Überlebenden des Holocaust. Dann kommen die sephardischen Juden aus den arabischen Saaten Nordafrikas und des Mittleren Osten. Dass es dem jungen Staat gelingt, sie alle aufzunehmen, ihnen Arbeit, eine Wohnung und Bildungschancen zu geben, das beschreibt Shavit als Wunder. Ein Wunder, dass durch den technokratischen uniformen Zionismus der Arbeitspartei ermöglicht wurde. Und durch die anhaltende Blindheit:
"Dieses Wunder basiert auf Leugnung. Der Staat, in den ich hineingeboren werde, hat Palästina ausgelöscht. Palästinensische Dörfer sind von Bulldozern dem Erdboden gleichgemacht worden. Mithilfe von Gesetzen hat man Palästinensern die Staatsbürgerschaft aberkannt und ihr Heimatland für nicht existent erklärt. Als ich geboren werde, leben meine Eltern ein Leben, als ob jenes andere Volk nie existiert hätte, als ob es nie vertrieben worden wäre. Als ob jenes andere Volk jetzt nicht in den Flüchtlingslagern von Jericho, Deheisha und Jabalia hauste."
Damit kein Missverständnis aufkommt: Aus diesen Zeilen spricht kein Bedauern, keine Verzweiflung und kein Entsetzen. Shavit betrachtet dieses Kapitel der Geschichte seines Landes mit der Präzision, aber auch der Emotionslosigkeit eines Insektenforschers, der eine Fliege unter dem Mikroskop untersucht. Es musste so sein. "Sie oder wir" - es gab keinen anderen Weg. Davon ist auch Shavit überzeugt.
Im dritten Jahrzehnt der Existenz Israels schlägt dessen Triumph dann um in eine Tragödie. 1967, der Sechs-Tage-Krieg, der Träume von Großisrael zur realistischen Verlockung heranreifen lässt. 1973 der Jom-Kippur-Krieg, die schockierende Erkenntnis der eigenen Verwundbarkeit, das Ende des Traums von der Unbesiegbarkeit. Und schließlich 1977 das Ende der Dauerherrschaft der Arbeitspartei. Von nun an geht es, so Shavits Beobachtung, bergab. Die nationalreligiösen Siedler zwingen die Regierung, den Siedlungsbau in den besetzten Gebieten zu akzeptieren, die Ultraorthodoxen zwingen sie, das Sozialsystem in grotesker Weise aufzublähen, die israelischen Araber kündigen ihr endgültig die Gefolgschaft auf, der Neoliberalismus sorgt für wirtschaftlichen Aufstieg, aber auch für wachsende Ungleichheit, und die Jugend verweichlicht im drogengeschwängerten Hedonismus.
"Das Business, die Medien und die akademische Welt trübten die Sehkraft der Israelis und schwächten ihren Geist. Ihre unaufhörlichen Attacken auf den Nationalismus, das Militär und den Zionismus höhlten Israel von innen aus. Die Medien förderten ein falsches Bewusstsein, bei dem ungehemmter Konsumismus sich mit einem hypokritischen Rechtschaffenheitsgebaren verband."
Und dann, mit Blick auf die "verweichlichte" Jugend Israels, schreibt Ari Shavit Sätze wie Ernst Jünger:
"Im Nahen Osten ist eine Nation, deren Jugend nicht bereit ist, für sie zu töten oder zu sterben, eine von begrenzter Lebensdauer. Sie wird nicht lange existieren."
Und damit zurück zum Anfang dieser Rezension: Schiefgegangen ist es also, weil Israel vom Pfad der zionistischen Tugend abgekommen ist. Weil das Land die Ernsthaftigkeit, die Opferbereitschaft, die sozialistischen und humanistischen Ideale seiner Gründerväter und Mütter verraten hat. Weil seine Bürger jetzt dem Geld hinterherlaufen, Partys am Strand von Tel Aviv feiern, Siedlungen im Westjordanland bauen, wo sie nichts zu suchen haben, und inkompetente Regierungen wählen - so Shavits Analyse.
Und wie kann der Verfall aufgehalten werden? Vor allem durch eine Wiederbelebung des guten, alten Zionismus der Gründerväter und -mütter. Des Zionismus, zu dessen Geschichte allerdings auch die Vertreibung der Araber gehört. Was wohl deren in Israel lebenden Nachfahren davon halten? Darüber hinaus empfiehlt Shavit die Räumung des Westjordanlands. Und eine militärische Aufrüstung gegen eine arabische Nachbarschaft, die, so sein Urteil, ohnehin nie und nimmer Frieden wollen wird. Fazit: Schulter an Schulter im Kibbuz hinter einer hohen Grenzmauer - das ist die einzige Überlebenschance, die Ari Shavit für sein Israel und seine Israelis sieht. Und damit ist er der Autor eines fabelhaft geschriebenen, aber letztlich deprimierenden Buches. Weil er zeigt, dass er den Weg so vieler politischer Gefährten gegangen ist. Von der versöhnungsbereiten Friedensbewegung in die israelische Wagenburg.
Ari Shavit: "Mein gelobtes Land. Triumph und Tragödie Israels", C. Bertelsmann Verlag, Übersetzung: Michael Müller, 592 Seiten, 24,99 Euro. ISBN: 978-3-570-10226-8