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Aribert Reimanns Oper "Lear" in Paris
Alles kreist um die Banalität des Bösen

"King Lear", Shakespeares blutiger Streit um das Erbe des Königs, hat schon so manchen Komponisten inspiriert. Calixto Bieito hat jetzt Aribert Reimanns "Lear" wieder in Paris auf die Bühne gebracht. Die Darstellung der Gewaltexzesse hält sich dieses Mal in Grenzen, wodurch die Aufführung und das Stück noch einmal gewonnen haben.

Von Frieder Reininghaus |
    Annette Dasch als Cordelia und Bo Skovhus als Lear in Calixto Bieitos Inszenierung von Aribert Reimanns "König Lear" an der Opéra national de Paris, Saison 2015/2016
    Zärtlicher Szene: Annette Dasch als Cordelia, Bo Skovhus als Lear. (Elisa Haberer/Opéra national de Paris)
    Am Ende der Premiere umarmte der inzwischen 80-jährige Komponist den Dirigenten Fabio Luisi nach vollbrachter Großanstrengung auf der Bühne ebenso herzlich wie den Regisseur Calixto Bieito und den so intensiv wie exzessiv präsenten Hauptakteur Bo Skovhus. Der hatte mit gelegentlich bebender Stimme die zum Heucheln nicht fähige Tochter Cordelia verstoßen, schon bald die Arglist der beiden anderen Erbinnen bemerkt und sein Leid als gedemütigter Greis geklagt.
    Die tragische Geschichte eines ohne männlichen Nachkommen gealterten englischen Königs des 12. Jahrhunderts, der versäumt, rechtzeitig und mit der nötigen Umsicht seine Nachfolge zu regeln, weist weit über die Königsebene hinaus. Lears Kurzsichtigkeit führt zu den extrem grausamen und blutigen Auseinandersetzungen in der Familie sowie im engen Umkreis der Macht. All das fordert radikale, expressionistisch getönte Musik nachgrade heraus. Aribert Reimann hat sie geschaffen – und Fabio Luisi jetzt die harten Kanten und schrillen Schärfen der Partitur nicht überakzentuiert. Der Dirigent präpariert gerade auch die Momente der Leichtigkeit und der Narren-Narretei heraus.
    Geteerte grobe Bretter verschließen statt des für gewöhnlich zu Beginn der Vorstellungen im Palais Garnier gezeigten roten Vorhangs die Bühne. Vor sie treten die auf den Antritt des Erbes wartenden Familienmitglieder und die wichtigsten Stützen des Reichs. Lear, der gut gelaunt von der Macht Abschied nehmen, aber von den Seinen geliebt werden will, teilt sinnbildlich einen Brotlaib auf. Er beobachtet nach der im Affekt der Enttäuschung hinausgeschleuderten Verbannung der Jüngsten, Cordelia, wie die Töchter Goneril und Regan vor ihm kriechen, gierig zuschnappen und in Triumphgelächter ausbrechen. Ricarda Merbeth, die nun zunehmend ordinäre Bosheit aus den Augen und der Kehle blitzen lässt, treibt die Darstellung der gradlinig machtgeilen Thronerbin bis an die Grenze der Parodie.
    Bei Erika Sunnegårdh kommt noch sexuelle Obsession hinzu. Die freilich wird nicht so überpointiert wie in manch früherer Inszenierung von Calixto Bieito. Gerade diese Drosselung bei der Darstellung der Gewaltexzesse aber – bei der Blendung Glosters zum Beispiel – lassen die bizarren Tugenden des Tonsatzes hervortreten und mit ihnen die Banalität des Bösen, um die der Text kreist. Die erratischen Video-Einblendungen von Sarah Derendinger zeigen Haut oder Meeresoberfläche. Bieitos inszenatorisches Handwerk ist feinfühliger geworden und macht das genaue Zuschauen doppelt lohnend. Der am Ende zweimal wiederkehrenden Klage der den Vater liebenden Cordelia verleiht Annette Dasch harten Glanz, Anmut und Melancholie, gerade auch Entschiedenheit angesichts der Verlogenheit rings um sie her. Die Anamnese einer feinen Familie hat Calixto Bieito fein herausgearbeitet, ohne dass Lear in die Gerontologie von Dover eingewiesen wird. Worüber man angesichts der wohlfeil gewordenen stereotypen Muster des Regisseurstheaters nicht unglücklich sein muss.