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Arktische Überraschung

Biologie. - Während der Fahrt auf einem Eisbrecher im Nordpolargebiet haben Wissenschaftler eine verblüffende Entdeckung gemacht: Sie stießen auf riesige Algenblüten unter dem Meereis, wo es mangels Licht eigentlich keine geben sollte.

Von Volker Mrasek |
    "Niemand, sagt Kevin Arrigo, habe so etwas jemals zuvor gesehen. Hätte man ihn vorher gefragt, ob das sein könne, seine Antwort wäre Nein! gewesen."

    In den Worten des US-Forschers klingt noch heute Verwunderung mit über das, was er im letzten Sommer in der Arktis erlebte. Dort war der Ozeanograf von der Stanford University in Kalifornien auf einem Eisbrecher unterwegs. Die Exkursion führte in das flache, eisbedeckte Schelfmeer vor der Nordküste Alaskas. Dabei stießen Arrigo und einige andere Forscher völlig unerwartet auf riesige Mengen Mikroalgen unter dem Packeis. Davon berichten sie jetzt im Fachmagazin Science:

    "Oft beobachtet man solche Algenblüten am Rand des Eises oder vielleicht noch ein, zwei Kilometer darunter. Wir dagegen sind 130 Kilometer weit ins Meereis vorgestoßen, und die Phytoplankton-Blüte wurde immer stärker, je weiter wir uns vom Eisrand entfernten. An manchen Stellen war das Wasser unter dem Eis bis zum Meeresgrund in 70 Meter Tiefe so dunkelgrün wie Erbsensuppe."

    Bisher glaubte man, dass Algenblüten lediglich im offenen Ozean auftreten. Nun deutet sich an: Auch unter dem arktischen Meereis kann sich pflanzliches Plankton offenbar massenhaft vermehren ...

    "Diese Algenblüte zählt zu den stärksten, die jemals beobachtet worden sind. Wenn wir die Phytoplankton-Menge und das Nahrungsangebot im Arktischen Ozean bestimmen wollten, haben wir immer gewartet, bis das Eis geschmolzen war, und dann im offenen Wasser gemessen. Jetzt zeigt sich, dass viel mehr unter der Eisdecke los ist, als wir jemals erwartet haben."

    Die einzelligen Algen des Meeresplanktons brauchen Licht zum Leben. Genauso wie grüne Landpflanzen betreiben sie Photosynthese. Packeis aber reflektiert einfallende Sonnenstrahlung, das Wasser darunter ist dunkel wie die Nacht. Es sei denn, die Schollen sind nicht besonders dick. Dann lassen sie doch Licht durch.

    So erklären die Forscher die überraschende Algenblüte im Juli 2011. Da war das Packeis vor Alaska zum Teil nur noch 80 Zentimeter dick. Der Geophysiker Donald Perovich, Gastprofessor am Dartmouth College in Hanover in den USA:

    "Bei unseren Messungen im Juni war das Meereis noch dicker und schneebedeckt. Weniger als ein Prozent des Sonnenlichts schaffte es bis in den Ozean darunter – viel zu wenig für die Photosynthese von Algen. Im Juli aber war das Eis viel dünner und übersät mit Schmelzwasser-Tümpeln, sodass ein Drittel der Sonnenstrahlung bis in die oberen Wasserschichten durchdrang."

    So etwas wäre kaum denkbar, wenn sich die Arktis in den letzten Jahrzehnten nicht stark erwärmt hätte ...

    "Das Meereis in der Arktis bedeckt nicht mehr so viel Fläche am Ende des Sommers; es ist dünner geworden und wird auch nicht mehr so alt. Drei bis fünf Jahre – so alt war es früher normalerweise. Das Eis in unserer Messregion dagegen hatte sich erst im letzten Winter gebildet und war am Ende sehr dünn. Dadurch fiel mehr Licht hindurch."

    Kommt es bereits zu Algen-Massenblüten, wenn das Schelfmeer noch Eis trägt, und nicht erst später im Sommer, wenn es verschwunden ist, könnte das manche Tierart in Bedrängnis bringen, die von Phytoplankton lebt. Noch einmal Kevin Arrigo:

    "Es gibt viele Zugvögel, die in die Arktis kommen, wenn sie am produktivsten ist, um ihre Jungen aufzuziehen. Grauwale halten es genauso. Wenn Algenblüten in der Arktis aber immer früher im Jahr auftreten, wird es schwer für diese Arten, zur rechten Zeit am rechten Ort zu sein."

    Noch aber stehen Messungen aus anderen nordpolaren Schelfmeeren aus. Erst wenn sie vorliegen, wird man wissen, ob Algen-Massenblüten unter dem Packeis in der gesamten Arktis auftreten.

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