Armen Hovsepian wohnt mit seiner Familie in einem Sowjet-Plattenbau oberhalb der Straße, die zur besetzen Polizeiwache führt. Vom Schlafzimmerbalkon aus schaut man direkt auf die Straßensperre der Polizei.
"Früh am Morgen habe ich Schüsse gehört, aber wir haben nicht gesehen, was dort los war."
Später dann kam die Meldung: Ein Zivilist habe die bewaffneten Besetzer unterstützen wollen, die seit Tagen ohne Strom, Nahrung, Telefon und medizinische Versorgung von der Außenwelt abgeschnitten sind.
"Er hat sein Auto mit Lebensmitteln vollgepackt und hat es irgendwie geschafft, die Polizeisperre zu durchbrechen. Die Polizei hat seinen Wagen zwar beschossen, aber er hat es trotzdem geschafft, in das abgesperrte Gebiet reinzukommen."
Den 36-Jährigen wundert es nicht, dass der Protest so viel Zuspruch findet, obwohl nicht alle die nationalistischen Parolen der Geiselnehmer teilen.
"Die Menschen gehen nicht nur auf die Straße, weil sie mit den Anliegen der bewaffneten Gruppe sympathisieren. Sie protestieren vor allem gegen den Präsidenten. Viele Leute hassen ihn und sein Regime. Sie haben das Gefühl, dass sie jetzt etwas verändern können."
Schon vor gut acht Jahren, nach der Präsidentschaftswahl im Jahr 2008, war es zu Ausschreitungen gekommen - mindestens acht Todesopfer waren zu beklagen. Anhänger der Opposition hatten gegen - wie sie klagten - Wahlfälschungen protestiert, die Regierung verhängte den Ausnahmezustand und ging mit Waffengewalt gegen die Demonstranten vor. Jetzt aber ist die Regierung zum ersten Mal selbst mit bewaffnetem Widerstand konfrontiert.
"Was die Regierung jetzt unternehmen wird, ist schwer vorauszusagen: Man kann die Besetzung nicht beenden, ohne dabei viele Opfer zu riskieren. Nicht nur unter den bewaffneten Besetzern, sondern auch bei der Polizei. Die Besetzer verfügen inzwischen über eine Menge Waffen."
Gegen Abend haben sich hunderte, vielleicht sogar Tausende Menschen auf der Straße vor der Polizeisperre versammelt. Die Sonne steht schräg, trotzdem ist es noch immer sehr heiß, der Geruch nach gebratenem Hühnchen weht durch die Straße, Imbisse und Supermärkte sind voll.
Kritik an Korruption und Machtmissbrauch
Die Menschen sind aufgebracht. Eine Frau schimpft lautstark auf die Regierung, klagt über Korruption und Machtmissbrauch. Andere gehen zu den aufgereihten Polizisten und versuchen, sie zu überreden, sich den Protesten anzuschließen. Etwas verloren steht eine Mutter in der Menge, an der Hand ihren kleinen Sohn. Als sie zu reden beginnt, kommen ihr die Tränen. Vor Wut.
"Ich bewundere die Aufständischen sehr. Ich komme jeden Tag hierher mit einem von meinen Kindern. Ich habe keine Angst, ich will dass die Regierung vor uns Angst hat. Und ich will, dass der Präsident geht."
Wenn sich nichts ändere, will sie das Land verlassen, sagt sie. Eine ältere Frau neben ihr nickt:
"Ich habe ein bisschen Angst, was noch passieren kann. Natürlich ist das hier ein Risiko für uns, aber das ist es wert. Wenn der Befehl von oben kommt, Gewalt anzuwenden, müssen wir hier sein. Und zwar so viele wie möglich."
Die Sonne geht unter, Redner steigen auf eine improvisierte Bühne, mittlerweile ist auf der Straße kein Durchkommen mehr. Bis vor Kurzem noch hatten die Bewaffneten wegen ihrer nationalistischen Rhetorik eher geringen Rückhalt in der Bevölkerung mit. Doch allein deshalb, weil sie sich gegen die Regierung zur Wehr gesetzt haben, sind sie innerhalb weniger Tage für viele Armenier schon zu Helden geworden:
"Ich bin hier, um unsere Helden zu schützen. In unserem Land ist es nämlich normal, dass die Polizei gewaltsam vorgeht und die Menschenrechte mit Füßen tritt. Und das wollen wir verhindern."
Redaktioneller Hinweis: Fälschlicherweise wurde im Teaser und Vorspann ursprünglich geschrieben, dass sich noch Geiseln in der Gewalt der Besetzer der Polizeistation befinden. Dies ist nicht mehr der Fall.