Elegante Bauten aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert säumen die Istiklal-Straße im Herzen von Istanbul; die knallrote Straßenbahn verkehrt schon seit mehr als hundert Jahren hier. Ein Straßenmusiker spielt vor dem Altbau, in dem Rober Koptaş arbeitet.
"Wir sind hier in Beyoğlu, dem kosmopolitischsten Stadtviertel von Istanbul. Dieser Stadtteil war schon seit byzantinischer Zeit weltoffen, und er ist schon immer das kulturelle Zentrum der Stadt. Viele Volksgruppen lebten hier: Griechen, Juden, Levantiner, Türken, Kurden und natürlich auch Armenier."
"Wir sind hier in Beyoğlu, dem kosmopolitischsten Stadtviertel von Istanbul. Dieser Stadtteil war schon seit byzantinischer Zeit weltoffen, und er ist schon immer das kulturelle Zentrum der Stadt. Viele Volksgruppen lebten hier: Griechen, Juden, Levantiner, Türken, Kurden und natürlich auch Armenier."
Dieser Beitrag gehört zur fünfteiligen Reportagereihe "Integration in der Türkei - Leben mit der Zuwanderung".
Koptaş ist selbst Armenier, er leitet den einzigen armenischen Buchverlag der Türkei. Aras heißt der Verlag, er ist in einem Kellergeschoss untergebracht und hat in seinem 26-jährigen Bestehen rund 250 Bücher veröffentlicht. Koptaş holt den neuesten Titel aus dem Regal:
"Das ist ‘Das Lied des Brotes‘ von Daniel Varujan, dem größten armenischen Dichter seiner Zeit. Varujan ist 1915 umgebracht worden. Das Manuskript wurde damals beschlagnahmt, aber später durch Bestechung gerettet. Wir legen hier erstmals eine türkische Übersetzung vor."
"Das ist ‘Das Lied des Brotes‘ von Daniel Varujan, dem größten armenischen Dichter seiner Zeit. Varujan ist 1915 umgebracht worden. Das Manuskript wurde damals beschlagnahmt, aber später durch Bestechung gerettet. Wir legen hier erstmals eine türkische Übersetzung vor."
"Bestimmte Überlebensstrategien entwickelt"
Mehr als zwei Millionen Armenier lebten vor 1915 in Istanbul und Anatolien, auf dem Gebiet der heutigen Türkei – nach dem Völkermord waren es 80.000. Heute gibt es noch rund 50.000 Armenier in der Türkei – fast alle in Istanbul, wo sich die Nachfahren der überlebenden Armenier aus ganz Anatolien gesammelt haben. Rober Koptaş ist einer der wenigen, die offen darüber sprechen, was es bedeutet, heute als Armenier in der Türkei zu leben:
"Das ist nicht leicht, das will ich gleich vorausschicken. Wir sind uns dessen im Alltag nicht immer bewusst, weil wir diese Lebensweise verinnerlicht haben, aber mit etwas Abstand ist zu erkennen, dass wir bestimmte Überlebensstrategien entwickelt haben."
Die deutlichste Strategie seien die Namen von Armeniern in der Türkei, erläutert Koptaş:
"Armenier hier haben in der Regel einen wahren Namen, den armenischen Namen, mit dem sie von Familie und Freunden angesprochen werden, und daneben einen amtlichen, türkischen Namen. Ich zum Beispiel heiße Rober, das ist Armenisch. Aber auf meinem Personalausweis steht Murat als Vorname, ein türkischer Name."
"Das ist nicht leicht, das will ich gleich vorausschicken. Wir sind uns dessen im Alltag nicht immer bewusst, weil wir diese Lebensweise verinnerlicht haben, aber mit etwas Abstand ist zu erkennen, dass wir bestimmte Überlebensstrategien entwickelt haben."
Die deutlichste Strategie seien die Namen von Armeniern in der Türkei, erläutert Koptaş:
"Armenier hier haben in der Regel einen wahren Namen, den armenischen Namen, mit dem sie von Familie und Freunden angesprochen werden, und daneben einen amtlichen, türkischen Namen. Ich zum Beispiel heiße Rober, das ist Armenisch. Aber auf meinem Personalausweis steht Murat als Vorname, ein türkischer Name."
Türkische Namen, um als Armenier unerkannt zu bleiben
Den türkischen Namen haben seine Eltern bei seiner Geburt eintragen lassen, wie das viele armenische Eltern tun, damit ihre Kinder als Armenier unerkannt bleiben können - beim Wehrdienst etwa, aber auch in alltäglicheren Situationen. Koptaş macht selbst manchmal davon Gebrauch:
"Ich verstecke mich nicht hinter meinem türkischen Namen, aber wenn ich in der Kaffeebar nach dem Namen gefragt werde, dann lasse ich meistens Murat auf den Becher schreiben – weil es einfacher ist und weil ich nicht von jedem sofort als Armenier erkannt werden will."
Andere Armenier legen sich im Geschäftsleben türkische Namen zu, die dann zwar nicht im Personalausweis, aber auf der Visitenkarte stehen. Ihre Nachnamen sind oft ohnehin schon türkisiert, so wie der von Koptaş :
"Meine Familie hieß eigentlich Shirvanyan, aber das ließ die türkische Behörde nicht gelten, als in den 1930er-Jahren die Familiennamen registriert wurden. Der zuständige Beamte weigerte sich, das aufzuschreiben, und verpasste meinem Großvater den türkischen Namen Koptaş. Statt Rober Shirvanyan bin ich heute also Murat Koptaş. Das bringt unsere Lage hier eigentlich auf den Punkt."
"Ich verstecke mich nicht hinter meinem türkischen Namen, aber wenn ich in der Kaffeebar nach dem Namen gefragt werde, dann lasse ich meistens Murat auf den Becher schreiben – weil es einfacher ist und weil ich nicht von jedem sofort als Armenier erkannt werden will."
Andere Armenier legen sich im Geschäftsleben türkische Namen zu, die dann zwar nicht im Personalausweis, aber auf der Visitenkarte stehen. Ihre Nachnamen sind oft ohnehin schon türkisiert, so wie der von Koptaş :
"Meine Familie hieß eigentlich Shirvanyan, aber das ließ die türkische Behörde nicht gelten, als in den 1930er-Jahren die Familiennamen registriert wurden. Der zuständige Beamte weigerte sich, das aufzuschreiben, und verpasste meinem Großvater den türkischen Namen Koptaş. Statt Rober Shirvanyan bin ich heute also Murat Koptaş. Das bringt unsere Lage hier eigentlich auf den Punkt."
"Armenier in der Türkei sind alle etwas schizophren"
Der Zwiespalt der türkischen Armenier reiche aber noch viel tiefer.
"Armenier werden in der Türkei unterdrückt. Aber wenn sie öffentlich gefragt werden, wie es ihnen hier geht, dann sagen neun von zehn Armeniern, dass es keinerlei Diskriminierung gibt, dass sie hier keine Probleme haben, und dass das alles Erfindungen des Auslands sind. Manche glauben das wirklich, sie haben sich das eingeredet, aber auch wenn sie es nicht glauben, sagen sie es nach außen. Darum vertreten viele Armenier in der Türkei auch öffentlich die Auffassung, dass es keinen Völkermord gegeben habe."
Die Armenier in der Türkei seien dadurch seelisch deformiert, stellt Koptaş fest.
"Wir führen alle ein Doppelleben, ob wir es wollen oder nicht. Über kurz oder lang integriert man diese Verdrängung in sein Leben, sie wird zur Lebenslüge. Deshalb sind wir Armenier in der Türkei alle etwas schizophren. Wir brauchen solche Strategien, um mit dem Trauma und der Angst fertig zu werden und weiter hier leben zu können."
"Armenier werden in der Türkei unterdrückt. Aber wenn sie öffentlich gefragt werden, wie es ihnen hier geht, dann sagen neun von zehn Armeniern, dass es keinerlei Diskriminierung gibt, dass sie hier keine Probleme haben, und dass das alles Erfindungen des Auslands sind. Manche glauben das wirklich, sie haben sich das eingeredet, aber auch wenn sie es nicht glauben, sagen sie es nach außen. Darum vertreten viele Armenier in der Türkei auch öffentlich die Auffassung, dass es keinen Völkermord gegeben habe."
Die Armenier in der Türkei seien dadurch seelisch deformiert, stellt Koptaş fest.
"Wir führen alle ein Doppelleben, ob wir es wollen oder nicht. Über kurz oder lang integriert man diese Verdrängung in sein Leben, sie wird zur Lebenslüge. Deshalb sind wir Armenier in der Türkei alle etwas schizophren. Wir brauchen solche Strategien, um mit dem Trauma und der Angst fertig zu werden und weiter hier leben zu können."
Fast alltägliche Angriffe
Denn die Angst ist immer da. Die Massaker vor hundert Jahren, die Pogrome vor 60 Jahren, der Mord an dem armenischen Wortführer Hrant Dink vor zwölf Jahren und die fast alltäglichen Angriffe in Wort und Tat sind den Armenier der Türkei stets präsent. Rober Koptaş‘ Mutter fürchtet um ihn, weil er öffentlich als Armenier auftritt. Auch er selbst ist nicht frei davon:
"Ich kann nicht behaupten, dass ich keine Angst habe – die spüre ich schon. Wenn man etwas riskiert, dann hat man Angst. Aber ich bin entschlossen, trotzdem zu sagen, was ich denke – vor allem über dieses Thema."
"Ich kann nicht behaupten, dass ich keine Angst habe – die spüre ich schon. Wenn man etwas riskiert, dann hat man Angst. Aber ich bin entschlossen, trotzdem zu sagen, was ich denke – vor allem über dieses Thema."
Darum geht es auch bei seiner Arbeit im Aras-Verlag, führt Rober Koptaş aus:
"Wir haben da einen ganz naiven, humanistischen Ansatz. Denn, ich sage es mal christlich: Sie wissen nicht, was sie tun. Wenn sie es wüssten, wenn sie uns Armenier besser kennen würden und mehr über uns wüssten, dann würden sie verstehen, dass wir auch Menschen sind und nichts Böses im Sinn haben. Dazu wollen wir mit unseren Büchern beitragen."