Samstagmorgen, neun Uhr in der Jakobus-Kathedrale in Jerusalem. In der Luft liegt der schwere Duft von Weihrauch. Es ist düster, von oben brechen nur wenige Lichtstrahlen durch die Fenster. Die Besucher stehen im Gottesdienst. Das ist so Tradition. Nur für Ältere sind ein paar Bänke aufgestellt. Die Seminaristen in gelb-weißen Kutten begleiten mit ihren Gesängen den Gottesdienst.
Die Armenier blicken auf eine lange Kirchengeschichte zurück: Sie waren die Ersten, die laut Überlieferung im Jahr 301 das Christentum zur Staatsreligion machten. Aus Jerusalem sind sie nicht wegzudenken, sagt Yoav Loeff, Dozent für armenische Studien an der Hebräischen Universität:
"Wir wissen von Armeniern, die als Pilger im vierten Jahrhundert ins Heilige Land kamen. Und aus dem fünften Jahrhundert ist bekannt, dass armenische Mönche sich hier niedergelassen haben. Seither wissen wir von der armenischen Präsenz in Israel, durchgehend seit dem fünften Jahrhundert bis heute."
Geschichtsträchtiges Armenisches Viertel
Die Armenier haben bis heute ihr eigenes Viertel in der Altstadt – mit dem Kloster und der Jakobus-Kathedrale im Mittelpunkt. Vor allem während des Genozids an den Armeniern zwischen 1915 und 1918 suchten viele hier Unterschlupf. Heute leben rund 10.000 in Israel. Viele haben eine dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung. Sie sprechen Armenisch, können aber auch Hebräisch, Arabisch und andere Sprachen. Sie haben sich angepasst, aber ihre Identität als Armenier nie aufgegeben, erklärt der armenische Priester Koryoun Baghdasaryan.
"Armenier identifizieren sich weder mit den Israelis noch mit den Palästinensern: Wir sehen uns nicht als Teil des Konflikts. Als religiöse Gemeinschaft, als eine Minderheit, haben wir eine neutrale Position."
Wie eng Religion und Nationalität verbunden sind, zeigt mir Koryoun Baghdasaryan bei einem Rundgang durch das Kloster. Hier leben nicht nur Mönche und Priester, sondern auch rund 1.000 Nachfahren der Armenier. Die waren vor 100 Jahren – nach dem Völkermord an den Armeniern – in die Pilgerunterkünfte gezogen – und sie sind bis heute geblieben.
Alltagsleben hinter Klostermauern
"Das hat den Charakter des Klosters verändert. Wir haben etwa eine Arztpraxis hinter Klostermauern. Als die Flüchtlinge damals ankamen, musste das Patriarchat sich um deren Gesundheit kümmern. Seitdem zahlt es einen Familiendoktor, der jeden Nachmittag eine kurze Sprechstunde anbietet. Heute haben zwar alle Armenier eine Krankenversicherung. Dennoch kommen manche für kleinere Behandlungen hierher – bis heute."
Es gibt auch einen Kindergarten im Kloster, eine Schule und eine Bibliothek. Die Armenier haben Sportvereine gegründet, sie spielen miteinander Basketball oder Tischtennis. Das Kloster gleicht einem kleinen Dorf, doch die Bewohner müssen sich an die strengen Regeln halten. Die Tore schließen um 22 Uhr – und sie werden erst am Morgen wieder geöffnet. Wer zu spät nach Hause kommt, muss die Nacht draußen verbringen.
Hagop Antrisian hat sein Leben hier verbracht. Er geht nur selten in den Gottesdienst. Dennoch ist die orthodoxe armenische Kirche für ihn so etwas wie kulturelle Heimat:
Armenier bleiben unter sich
"Als Armenier bist du auch Mitglied dieser Kirche. Es spielt keine Rolle, ob du gläubig bist oder nicht. Denn die Kirche ist nicht nur eine religiöse, sondern auch eine kulturelle Einrichtung. Seit 1700 Jahren sind Kirche, Kultur und Nation miteinander verbunden. Man kann sie nicht trennen. Die Kirche ist meine Kultur."
Auch Koryoun Baghdasaryan, der Priester, begründet diese historische Verwurzelung so:
"Armenien wurde immer wieder von anderen besetzt, wir hatten keinen armenischen Herrscher. Und so war die ganze Zeit über das Haupt der armenischen Kirche, der Catholicos, sowohl religiöser als auch politischer Führer. Deshalb spielte die armenische Kirche in unserer Geschichte immer eine so entscheidende Rolle."
Die Armenier bleiben unter sich, heiraten meist untereinander. Doch gute Beziehungen haben sie zu allen Bewohnern. Hagop Karkashian ist dafür ein gutes Beispiel. Er führt den Laden mit Töpfereiwaren, den sein Großvater im arabischen Viertel aufgebaut hat. Die Zeichnungen auf den Tassen, Schälchen und Kacheln zeugen von der Offenheit gegenüber allen Religionen:
"Wir haben viele Designs. Manche stammen aus der Türkei, andere sind von hier. Diese Serie hier stammt von einem palästinensischen Künstler, ein Freund unserer Familie. Seine Zeichnungen beziehen sich auf die drei Religionen Judentum, Christentum und Islam. Als Armenier stehen wir dazwischen. Wir sind Christen, aber wir haben gute Beziehungen zu Muslimen und Juden."
Als Armenier bist du wie ein Chamäleon, sagt Hagop dann noch, ob in Israel oder anderswo. Man habe sich angepasst, ohne zu vergessen, wer man ist.
Und so feiern die Armenier auch heute noch ihren traditionellen Gottesdienst in Jerusalem – und das seit 1.700 Jahren.