Kisten mit Brot, Milch, Ketchup, Joghurt und Tütensuppen – alles kurz vor dem Ablaufdatum. Ein Dutzend Hartz-IV-Empfänger und Senioren, die sich durch die Eingangstür drängeln. Berlin-Prenzlauer Berg, in der evangelischen Advent-Zachäus-Gemeinde - einer Ausgabestelle der Berliner Tafel. Eine kleine Frau mit lila Wollmütze lässt sich eine Plastiktüte füllen mit den Lebensmitteln, die Supermärkte aussortiert haben.
"Aus lauter Lust und Freude, meinen Sie, kommen wir hierher? Mit 86 Jahren – mein Leben lang gearbeitet als Kassiererin. Und denn kriege ich 546 Euro Rente, kann mir nur eine Einraumwohnung mieten. Da können Sie sich vorstellen, warum ich wohl hier drauf angewiesen bin, hierher zu gehen! Zum Kotzen, kann ich nur sagen!"
Anneliese, sie möchte ihren Nachnamen nicht nennen, ist den Tränen nahe. Sie berichtet von hohen Stromkosten, teuren Medikamenten und unbezahlbaren Verkehrstickets. Die Ostberlinerin fühlt sich allein gelassen, auch von der Politik.
Nicht gut auf Politiker zu sprechen
"Ja, klar, die sorgen alle für sich. Ob das Merkel ist, ob das Hinz und Kunz ist, alle sorgen für ihr Täschchen – und Ihr anderen seht mal zu! Dafür habe ich geschindert, bis zur Rente. Aber es ist eigentlich ein Schietleben!"
Ebenso schimpft Ingeborg Bollensdorff. Die 79-Jährige ist mit einem Einkaufstrolley hergelaufen - macht sich aber keine große Hoffnung auf ein Schnäppchen.
"Bananen ist nicht immer, dann gibt’s nur ein, zwei Bananen und dann sind die meistens schon kaputt. Und denn schmecken sie meistens nicht mehr, wenn sie dann schon aufgeplatzt sind. Und schon am verfaulen sind, dann will sie ja auch keiner mehr haben."
Die ehemalige Schneiderin ist ebenfalls nicht gut auf Politiker zu sprechen, besonders auf Kanzlerin Angela Merkel und ihren Flüchtlingskurs.
"Die hat die alle reingeholt in Deutschland! Aber … die kommen ja gar nicht alle unter! Wir haben doch mit uns zu tun genug! Wir können doch nicht alle aufnehmen in Berlin und wir stehen denn auf der Straße! Uns wollen sie aus der Wohnung am liebsten raushaben, wa?"
"Armut ist immer ein anklagender Begriff"
Bollensdorff hat im September, bei der Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus, die AfD gewählt – und sogar, im Bekanntenkreis, Werbung für die Rechtspopulisten gemacht.
"Weil die wirklich wat für uns wollen. Die wollen, dass die Armen das besser geht. Die wollen ja auch wat für Deutschland."
"Armut in Deutschland: Zahl der Wohnungslosen stark gestiegen."
Schlagzeilen in der Tagespresse.
"2,05 Millionen Haushalte sind überschuldet."
"Jeder dritte Arbeitslose zu arm für viele Alltagsgüter."
"Armut kostet den Menschen elf Jahre Lebenszeit."
Armut: Wie geht die Politik, wie geht die Gesellschaft, mit den Bedürftigen um? Haben die "Sozial-Verlierer" keine Lobby?
"Armut ist immer ein anklagender Begriff, niemals nur ein analytischer. Und Armut ist immer ein Imperativ. Armut heißt immer: Jemand muss abgeben."
Ein ideologischer Kampfschauplatz
"Armut ist nur ein Teilbereich von Ungleichheit. Und das ist die eigentliche Frage: Was sind wir bereit, von oben nach unten umzuverteilen? Es ist ein hochpolitischer, ein ideologischer Kampfschauplatz."
"Ich bin sicher, dass das Thema Gerechtigkeit 2017 eine große Rolle spielen wird, weil uns alle die Frage umtreibt: Wie können wir alle den Rechtspopulismus zurückdrängen? Da spielen Menschenfeindlichkeit und rassistische Gründe eine zentrale Rolle, aber eben auch die Sorge um Abstieg. Und das hat zum Beispiel Donald Trump in den USA ausgenutzt, das sollte uns allen zu denken geben."
Berlin-Mitte, beim Paritätischen Wohlfahrtsverband. Links vom Empfangstresen geht’s zu einem Büro mit einem langen braunen Konferenztisch. Hier bittet Hauptgeschäftsführer Ulrich Schneider zum Gespräch. Der 58-Jährige hat sich ein bislang geheimes Konvolut der Bundesregierung besorgt: den Entwurf des Armutsberichtes, der im Frühjahr verabschiedet werden soll und rund 600 Seiten dick ist.
Zahl der Armen hätte eigentlich zurückgehen müssen
"Na, der Armutsbericht der Bundesregierung erschlägt einen erst mal. Man kriegt Hunderte von Seiten. Und man hat den Eindruck, da hat man wirklich mal alles aufgeschrieben, was einem so zur Armut einfallen kann. Dadurch hat der Bericht überhaupt keine Aussage mehr. So wie dort mit Armut umgegangen wird, kann man auch versuchen, einen Pudding an die Wand zu nageln, man kriegt's nicht auf den Punkt gebracht."
Nach Analyse des Wohlfahrtsverbandes enthält der erste Entwurf des Armutsberichtes veraltete Zahlen, sodass nicht deutlich wird, dass die Armutsrisikoquote in den vergangenen drei Jahren von 14 auf 15,7 Prozent gestiegen sei. Ein neuer Entwurf des Armutsberichtes, der gestern bekannt wurde, berücksichtigt nun die gestiegene Armutsquote. Das Dokument kommt zu einem ernüchternden Schluss: Nämlich dass die Zahl der Armen eigentlich hätte zurückgehen müssen - wegen der guten wirtschaftlichen Lage. Doch die "Abgehängten" haben davon nicht profitiert, Zitat:
"Vertiefende Analysen zeigen, dass sich die beobachteten positiven Entwicklungen bei Beschäftigung und Einkommen am unteren Ende der Verteilung nicht in einer rückläufigen Armutsrisikoquote niederschlagen."
Arme Menschen gehen weniger zur Wahl
Für den Paritätischen ist dies ein Eingeständnis politischen Versagens. Der Wohlfahrtsverband lässt auch am neuen Rentenkonzept von Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles kein gutes Haar: Zwar werde mit der vorgeschlagenen Solidar- beziehungsweise Lebensleistungsrente Altersarmut bekämpft, aber nur bei Menschen, die neu in Rente gehen – und nicht bei derzeitigen Rentnern. 2013, als Nahles noch SPD-Generalsekretärin war, sei sie konsequenter gewesen und habe die damalige schwarz-gelbe Bundesregierung für ihre Armutspolitik kritisiert.
"Ich sage mal so: Das Amt bestimmt das Bewusstsein. Frau Nahles hat auch in ihrer Eigenschaft als Generalsekretärin damals unheimlich geschimpft, wie kleinlich und knickerig und manipulativ die Hartz-IV-Sätze berechnet werden – und hat jetzt trotzdem die gleiche Berechnungsweise übernommen. Von daher wundert mich da relativ wenig."
Das Bundesarbeitsministerium erklärt dazu nur allgemein, die Ministerin habe "zu jeder Zeit größten Wert darauf gelegt, dass die Regelbedarfe nach einem transparenten und nachvollziehbaren Verfahren ermittelt werden". Abgewiegelt wird auch im aktuellen Entwurf des Armutsberichts. Vor allem, wenn es um die politische Mitbestimmung der Abgehängten geht. Zwar wird im Bericht thematisiert, dass arme Menschen weniger zur Wahl gehen als gut situierte und somit, Zitat, "weniger über die Angelegenheiten des Gemeinwesens mitbestimmen". Jedoch enthielt der vorherige Entwurf des Armutsberichtes auch noch einen Warnruf an die politischen Parteien:
Die Tafeln versorgen eineinhalb Millionen Menschen
"Es ist … denkbar, dass sich Parteien, die selbstverständlich möglichst viele Wählerstimmen gewinnen möchten, aufgrund der geringeren politischen Partizipation der Personen mit geringerem Einkommen weniger an deren Interessen ausrichten", lautete die heikle Passage, die aus dem ursprünglichen Berichtsentwurf entfernt wurde. Und weiter:
"Dies kann andererseits zu einer Art 'Teufelskreis' oder Abwärtsspirale führen: Personen mit geringerem Einkommen verzichten auf politische Partizipation, weil sie die Erfahrungen machen, dass sich die Politik in ihren Entscheidungen weniger an ihnen orientiert."
"Wählste die Merkel nach wie vor, oder? Ist mir wurscht! Ich kenne den einen nicht und den anderen nicht. Und der eine ist so ein Bandit wie der andere." – "Die Leute sollen weniger zu Armutskonferenzen gehen, sondern die Armut bekämpfen! Denn man kann sagen: Ja, ja, ja, wir machen, aber es fehlen trotzdem die Mittel!" – "So wie es jetzt aussieht, wird es immer schlimmer. Wir haben bald gar nichts mehr, wir haben auch keine Rechte!"
Die Berliner Tafel versorgt derzeit über 120.000 Bedürftige in der Hauptstadt, bundesweit sind es nach Angaben der Träger eineinhalb Millionen, die auf Lebensmittelspenden angewiesen sind. Nach einer Studie der Bertelsmann-Stiftung gibt es in solch sozialschwachen Milieus besonders viele Nichtwähler. Stefan Sell, Armutsforscher an der Hochschule Koblenz, präzisiert: In Stadtteilen mit bildungsfernen Schichten gehen mitunter nur 20 bis 25 Prozent zu einer Wahl. In gutbürgerlichen Stadtteilen hingegen 70 bis 80 Prozent.
Interessenvertretungen kümmern sich nur um ausgewählte Bedürftige
"Leider haben diese Erkenntnisse der Wahlforschung auch viele Politiker erreicht. Sodass viele Politiker dieses Thema ein stückweit auch meiden wie der Teufel das Weihwasser, weil sie wissen, sie würden sich zwar nützlicherweise engagieren für Sozialschwache, aber das zahlt sich am Ende, unterm Strich, nicht in Form eines höheren Wahlergebnisses aus."
Der Professor klagt, für Arme setze sich kaum jemand ein. Selbst klassische Interessenvertretungen, wie die Kirchen, kümmerten sich nur um ausgewählte Bedürftige – etwa um Behinderte oder um Pflegefälle. Für Langzeitarbeitslose etwa interessiere sich hingegen niemand.
"Warum stehen die ganz unten? Weil man dort immer die Figur des 'er ist oder sie ist am Ende doch irgendwie selber schuld an ihrer Situation' im Kopf hat – durch ihr Verhalten, durch ihre Persönlichkeit. Und das bildet sich dann eben in dieser unterschiedlichen Wertigkeit von Hilfebedürftigkeit ab."
Der Sozialwissenschaftler analysiert, dass es in großen Teilen der Gesellschaft eine "Hackordnung" gibt, dass Verunsicherung und Ängste häufig nach unten geleitet werden.
"Wenn jetzt mir gesagt wird: Ständig schwebt das Damoklesschwert des sozialen Abstiegs über Dir, und jetzt kommen auch noch neue Gruppen, die an die Futtertröge des knappen Sozialstaates drängen – ob es nun Flüchtlinge sind oder, das wird in den nächsten Monaten eine große Diskussion: die vielen EU-Ausländer, die in unser Land kommen aus Bulgarien oder Rumänien, dann richtet sich das alles, – ob geplant oder nicht – dass man die Angst-Energie nach unten projiziert."
Forscher streiten über Niveau von Armut
Auch bei der Berliner Tafel beobachtet man diesen Mechanismus. Die Gründerin und Vorsitzende Sabine Werth berichtet, dass immer wieder "alteingesessene" Kunden über Kriegsflüchtlinge schimpften, weil das rare Spenden-Essen nun mit ihnen geteilt werden muss. Viele Hartz-IVler blieben sogar deswegen von der Tafel weg.
"Wenn ich das Gefühl habe, in dieser Gesellschaft bei allem immer zu kurz zu kommen, dann habe ich natürlich, wenn ich dann bei einer Tafel oder Ausgabestelle weniger kriege, das Gefühl, das passiert mir schon wieder. Und das ist etwas, das kotzt mich an. Und dann bleibe ich halt gegebenenfalls zu Hause."
Trägt Armut zur Ablehnung von Ausländern, zu Rassismus und zum Aufstieg der AfD bei? Eine strittige Frage unter den Forschern. Thomas Petersen vom Institut für Demoskopie Allensbach verneint sie.
"Das, was die AfD in den letzten eineinhalb Jahren stark gemacht hat, sind nicht soziale Fragen, sondern es ist die Einwanderungsfrage. Das hat nichts mit Einkommensungleichheit zu tun."
Petersen geht davon aus, dass die Armut in Deutschland in den letzten zehn Jahren weitgehend konstant geblieben ist. Verändert habe sich lediglich die Wahrnehmung der sozialen Lage, berichtet der Meinungsforscher.
"Die gefühlten Verhältnisse haben sich geändert"
"Es gibt beispielsweise die Frage: Sind die wirtschaftlichen Verhältnisse in Deutschland, ich meine, was die Menschen besitzen und was sie verdienen, im Großen und Ganzen gerecht oder nicht gerecht? Da sagten die ganzen 60er-, 70er-, 80er- und 90er-Jahre ungefähr gleich viele, sie seien gerecht oder nicht gerecht: um die 40, 45 Prozent jeweils. Ab Ende der 90er-Jahre springt das regelrecht auseinander. Und inzwischen sagt eine deutliche Mehrheit von 57 Prozent, die Verhältnisse seien nicht gerecht. Und nur noch 20 Prozent sagen, sie seien gerecht. Das heißt, es hat sich nach all dem, was wir sehen, die tatsächliche Verteilung gar nicht groß verändert, aber die gefühlten Verhältnisse haben sich geändert."
Der Demoskop kritisiert, dass Armut in Deutschland dramatisiert werde. Linke Parteien versuchten von dem Thema zu profitieren; auch Wohlfahrtsverbände und Medien übertrieben bei der Armutsdebatte, so Petersen.
"Wir wissen, dass ein Großteil der Journalisten auch eher links stehen und dementsprechend fällt dann die Berichterstattung aus."
Beim Paritätischen Wohlfahrtsverband schüttelt Hauptgeschäftsführer Ulrich Schneider den Kopf über diese Argumentation.
"Armut kann man nicht skandalisieren, Armut ist der Skandal. Und wer sagt, Armut wird skandalisiert, wenn es doch nur um Fakten geht, der redet im Grunde genommen schön!"
Wohlfahrtsverband Skandalisierung vorgeworfen
Der Paritätische ist – nach Caritas und Diakonie - der drittgrößte Wohlfahrtsverband in Deutschland. Der Dachverein mit seinen insgesamt 500.000 Beschäftigten warnt immer wieder vor Kinderarmut und Altersarmut, auch vor verdeckter Armut – bei Hunderttausenden Senioren, die sich aus Scham nicht trauen, Sozialhilfe zu beantragen. Und immer bekommt Schneider dabei den "Skandalisierungs"-Vorwurf zu hören – sogar vom Konkurrenzverband Caritas. Vorgehalten wird ihm auch seine Mitgliedschaft in der Linkspartei. Der Geschäftsführer spricht von einem ideologisierten Streit; letztlich ginge es um Verteilungskämpfe – deswegen auch die – unberechtigten - Attacken gegen seine Person.
"Wer also glaubt, dass eine Partei mal hier anruft und sagt: Mach mal Folgendes! (lacht) So funktioniert zumindest unser Verband nicht!"
Schneider prognostiziert, dass die Armutsdebatte immer wichtiger wird für die Politik. Denn seit dem Einzug der AfD in zehn Landtage sei klar, dass viele Nichtwähler plötzlich doch aktiv geworden sind – als Protestwähler. So widerspricht er dem Allensbach-Forscher:
"Ich bin der Überzeugung, dass die ganze Flüchtlingsproblematik in Deutschland ganz anders diskutiert worden wäre, und dass auch solche Erscheinungen wie AfD nicht aufgetaucht wäre, wenn Deutschland sozial stabiler aufgestellt wäre. Wenn nicht so viele Menschen das Gefühl hätten: Es kümmert sich keiner mehr um mich. Wenn man den Menschen Sicherheit gibt und sagt: Wir kümmern uns endlich um bezahlbare Wohnungen für alle! Wir kümmern uns endlich um die Integration von allen Langzeitarbeitslosen – nicht nur von Flüchtlingen, sondern auch von den eine Million Langzeitarbeitslosen, die wir auch ohne Flüchtlinge in Deutschland haben. Wenn man denen erklärt: Wir kümmern uns um soziale Infrastruktur vor Ort: gute Schulen, gute Kindergärten für alle! Dann hat man auch sehr schnell die vielen politischen Probleme weg – wir müssen diese Politik nur machen!"
Steuer-Agenda der Grünen kam nicht an
Wenn es bei Armut letztlich um Umverteilung geht - können die Parteien überhaupt punkten bei einer solchen Debatte? Die Grünen haben es versucht bei der letzten Bundestagswahl.
"Es ist alles ganz fürchterlich: Die Grünen wollen den Leuten ans Geld! / Höhere Steuereinnahmen! / Einkommensteuererhöhung!/ Erbschaftssteuerverdoppellung! / Wiedereinführung der Vermögenssteuer / Das ist ein Anschlag auch auf die Investitionsfähigkeit!/Aber die Gesamtrechnung ist am Ende schlecht!"
Die Grünen wollten unter anderem Jahreseinkommen ab 60.000 Euro stärker besteuern. Das schlechte Abschneiden der Umweltpartei beim Urnengang 2013 wird auch ihrer Steuer-Agenda zugeschrieben.
"Ich habe 2013 an den Wahlkampfständen durchaus miterlebt, dass die Menschen mit den Rechenbeispielen unseres Steuerkonzeptes überfordert waren – und das haben wir jetzt geändert mit Blick auf 2017", räumt – selbstkritisch - Simone Peter ein, die Bundesvorsitzende der Grünen.
Reichensteuer geht nicht weit genug
Auch wenn die Wähler das Gerechtigkeitsprogramm nicht honoriert haben, wollen es die Grünen erneut versuchen: Sie planen, nur noch Jahreseinkommen ab 100.000 Euro stärker zu besteuern sowie das Vermögen von "Superreichen". Im kommenden Bundestagswahlkampf wollen sie vor allem kommunizieren, wer von der Umverteilung profitiert – und weniger, wer zur Kasse gebeten wird. Die Grünen halten an ihrem Kurs fest, auch wenn viele sozial Bedürftige nicht zur Wahl gehen.
"Also für mich ist es ein schäbiges Argument, wir konzentrieren uns auf die Politik, wo wir Mehrheiten organisieren. Es geht darum, eine Gesellschaft gerecht auszugestalten. Ich glaube auch sehr daran, dass wir die Politik für diejenigen machen müssen, die sich abgehängt fühlen oder abgehängt sind – ob sie uns wählen oder nicht. Wir haben ähnliche Herausforderungen wie 2013."
"Auch wenn man sagen kann: Eine gewisse Vermögensbesteuerung mag sinnvoll sein und ist sicherlich auch gut für das Gerechtigkeitsgefühl, muss man, glaube ich, den Menschen gegenüber ehrlich sein", erwidert Sozial-Professor Stefan Sell. Dem Armutsforscher geht eine Reichensteuer nicht weit genug.
"Wenn wir wirklich größere Umverteilungen, die dringend anstehen, machen wollen, im Alterssicherungssystem, bei den Einkommensarmen, dann müssen wir größere Steuerquellen erschließen – so viele Millionäre gibt es gar nicht, um diese Umverteilungsaufgaben zu finanzieren."
Berliner Tafel hält Distanz zur Politik
Auch bei der Berliner Tafel glaubt man nicht, dass es bald mehr bezahlbare Wohnungen, mehr Jobs für Langzeitarbeitslose oder eine ausreichende Grundsicherung im Alter geben wird. Dennoch mag Tafel-Gründerin Sabine Werth nicht schwarzmalen.
"Als ich vor 24 Jahren mit der Tafel angefangen habe, da hieß es noch unter der Kohl-Regierung, es gebe keine Armut in Deutschland. Es wäre durch die Sozialhilfe, durch die Arbeitslosenversicherung alles abgedeckt. Inzwischen, durch die Hartz-IV-Regel, ist es mehr in den Fokus geraten. Und von daher ist die Politik inzwischen aufmerksamer, und alleine dieser Armutsbericht zeigt ja: Sie beschäftigen sich damit."
Allerdings hält die Chefin von 1.900 ehrenamtlichen Mitarbeitern Distanz zu den Regierenden. Gerade weil die Politik immer wieder die Ausgabe gespendeter Lebensmittel für die Ärmsten der Armen lobt.
"Wir sind sehr beliebt, das ist klar. Wir nehmen der Politik ja auch einiges ab. Das ist zum Beispiel ein Grund, warum die Berliner Tafel keinerlei öffentliche Gelder nimmt, weil wir keine Abhängigkeiten wollen. Insofern ist es immer wieder wichtig, mit der ein freundliches Verhältnis zu haben, aber ihr gegebenenfalls auch immer die kritischen Worte entgegenzuwerfen."