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Armut in Deutschland
Vom Verlust der inneren Würde

Rund 15,5 Millionen Menschen in Deutschland sind von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht. Das ist fast jeder fünfte. Viele kämpfen nicht nur gegen den Geldmangel - sondern auch darum, ihr Gesicht zu wahren.

Von Anja Nehls |
    Ehrenamtliche Helfer der Frankfurter Tafel geben von Supermaerkten gespendete Lebensmittel aus im Auguste-Oberwinter-Haus in Frankfurt-Roedelheim am 29.01.2018. Beduerftige koennen dort gegen Vorlage eines Nachweises Lebensmittel bekommen. Frankfurter Tafel
    Viele Menschen kommen ohne Lebenmittelspenden nicht aus. (imago/Heike Lyding)
    "Ja, Tomaten, Paprika, keine Grüne - und wenn es geht Suppengrün." Jeden Donnerstag kommt Brigitte Köhler zu einer der 45 Lebensmittelausgabestellen der Berliner Tafel. Für den eher symbolischen Betrag von 1,50 Euro bekommt sie hier Lebensmittel. "Na die ersten eins, zwei Male, da habe ich geweint. Ja, ja. Man muss erst mal diesen inneren Schweinehund überwinden, erst mal diesen ersten Schritt machen, wo viele sich sagen: ich gehe nicht betteln."
    Die 62-Jährige hat fast ihr ganzes Leben lang gearbeitet, dann wurde sie krank, nun lebt sie von Hartz IV. Das reicht vorne und hinten nicht. "Ich muss von meiner Miete 70 Euro zuzahlen von meinem Hartz IV. Ich muss meinen Strom selber bezahlen, mein Telefon muss ich selber bezahlen. Meine Fahrkarte, die muss ich selber bezahlen. Also ich habe so, ich würde mal sagen, so gute 150 Euro, wenn es hoch kommt, für den Monat."
    Mit der Enkelin ins Kino - dann wird die nächste Woche hart
    Brigitte Köhler kann sich einschränken, dass sei nicht das Problem, aber ihre Enkelin soll nicht allzu sehr darunter leiden, dass Omi ihr nichts bieten kann. "Meine Enkelin kommt nächstes Wochenende. Ich habe es extra zum Monatsanfang, damit ich mit ihr wenigstens einmal ins Kino gehen kann. Und ich weiß, dass dieses Geld mir in der Woche darauf fehlt. Aber das ist mir egal, das muss das Kind nicht wissen. Denn viel kann ich leider Gottes für meine Enkel nicht tun."
    Ortswechsel. In der Hellersdorfer Arche, einer ehemalige Plattenbauschule im Berliner Norden, gibt es keine Lebensmittel, aber an jedem Werktag ein kostenloses warmes Mittagessen für bedürftige Kinder und deren Eltern. "Nudeln Bolognese, Paprika, Gurke, Melone. Wir packen immer 100 Teller raus und ich denke mal so 80 dürften das schon gewesen sein."
    Essen vs. Teilhabe
    Die neunjährige Lina und ihre Mutter gehen täglich zum Essen hierher: "Um Geld zu sparen, weil Mittagessen jeden Tag für vier Personen kostet ja auch. Weil man muss ja Kartoffeln kochen und wenn es dann mal Fleisch oder irgendwas sein soll, bist du dann ja auch schon bei zehn, 15, 20 Euro dabei, wenn es für alle reichen soll. Von daher gehen wir hier in der Woche essen. Und dafür gehen wir morgen ins Kino, dafür kann ich das dann mal mit den Kindern als Ausgleich machen."
    Meist verbringen Lina und ihre Freundin Doreen ihre Nachmittage aber in der Hellersdorfer Arche. Dass sich alles immer ums Geld dreht, haben die beiden bereits verstanden: "Ich finde schön, dass wir alles kostenlos haben, die Hüpfburgen - auch alles kostenlos. Weil die meisten kommen ja hierher, weil sie nicht so viel Geld haben für Essen kaufen und so. Und ich finde es schön, dass man sich da Kleider holen kann, also Sachen, wenn man nicht so viel hat."
    "Jetzt kommt wieder der Termin zum Entblößen"
    Zurück zur Ausgabestelle der Berliner Tafel. Die Vorräte dort sind fast erschöpft, die 50-jährige Frau ganz am Schluss hat gerade noch ein paar angeschrumpelte Möhren und Kartoffeln abbekommen. Sie ist krank, lebt von Erwerbsminderungsrente und stockt mit Grundsicherung auf. Jetzt hat sie es eilig. Jedes Jahr müssen beim Sozialamt alle Anträge erneuert werden: "Jetzt kommt wieder der Termin zum Entblößen, so denke ich mir das immer. Dann wird natürlich sehr viel gefragt, wie viel Bargeld man zuhause hat, das find ich schon entwürdigend, ein bisschen, wenn man immer alles angeben muss, ob man Schmuck oder was geschenkt bekommen hat."
    Überleben im Kokon - so tun, als wäre man nicht arm
    Alles wird angerechnet und von der Unterstützung abgezogen. Etwas über 400 Euro überweist das Amt monatlich - abzüglich 120 Euro, die sie zuschießen muss, weil ihre Wohnung ein paar Quadratmeter zu groß und damit dem Sozialamt zu teuer ist. Bleiben knapp 300 Euro zum Leben. Normalerweise. Weil sie die Reparatur der Waschmaschine noch abzahlen muss, sind es zurzeit nur 80 Euro pro Monat.
    Dass sie ohne die Tafel noch nicht mal etwas zu essen hätte, sollen ihre Nachbarn aber nicht wissen. "Sie müssen so tun, als wenn Sie dazugehören. Das ist das Schlimme daran, man geht wie ein Kokon aus dem Haus, dass man noch eine Würde hat, aber die Würde hat man innerlich schon gar nicht mehr. So gehe ich dann von Monat zu Monat und freue mich, dass ich zwar was habe, aber letztendlich ist das ja nicht lebenswert, es ist nur ein Überleben."