Die ältere Frau, um die 70 Jahre, trägt löchrige Pantoffeln. Sie begleitet ihre Schwiegertochter im Treppenhaus zur Tür. "Hast du Zucker gekauft? Na gut. Ich hatte doch noch zwei Kilo", sagt sie.
Die Wände sind in Grün gehalten, aber die Farbe, mehrfach übergestrichen, blättert längst ab. Das Geländer wackelt; die Stufen sind uneben; an vielen Stellen dringt Feuchtigkeit durch das Mauerwerk. Auf ein kleines Regal hat jemand ein Dutzend Zigarettenschachteln gestellt. Hier wohnt nur, wer muss.
Die Frau trägt ihr Haar gekämmt. Ins Auge fällt ihr Schmuck: Halskette, Ohrringe -, als ob sie damit sich und allen, die es sehen, sagen möchte: Ich habe einmal besser gelebt. Sie sagt: "Unsere Nachbarn sind Alkoholiker. Sie schreien, trinken. In einem Wohnheim zu wohnen, ist unerträglich."
Umgerechnet 180 Euro Rente
Sie stellt sich in eine Ecke des Eingangsbereichs vor die Postkästen und beginnt, ihre Geschichte zu erzählen. Ihr Sohn habe ein Haus besessen - doch das sei abgebrannt. Die Familie mit vier Kindern stand vor dem Nichts. Die Frau berichtet, wie sie als Mutter daraufhin ihre eigene Wohnung verkauft und Kredite aufgenommen hat. Dann brauchten sie selbst eine günstige Bleibe und fanden sie hier.
Hier - das ist ein noch zu Sowjetzeiten gebauter, einfacher Wohnblock mit vier Stockwerken, in dem Familien mit mehreren Personen in einem Zimmer leben. Sie sagt: "Wir wohnen in einem Zimmer wie in einem Obdachlosenasyl. Unser Zimmer ist 17 Quadratmeter groß. Es gibt eine Schrankwand, einen kaputten Schrank, einen Fernseher und Kühlschrank. Das ist alles. Ich habe keine Waschmaschine."
Bis zu acht Familien teilen sich eine Küche und ein Bad. Sie fährt fort: "Meine Rente beträgt 12.000 Rubel, das sind 180 Euro. Ich habe 21 Jahre lang als Buchhalterin gearbeitet. Seit acht Jahren arbeite ich in der Aufnahme eines Krankenhauses. Meine Kinder haben keinen Job; ich ernähre sie. Meine Tochter hat in einem Café als Putzfrau und Tellerwäscherin gearbeitet; aber sie hatte früher einmal gebrochene Wirbel. Als sie gefallen ist, wurde sie entlassen: 'So eine bräuchten sie nicht'."
Sich von Monat zu Monat zu hangeln, ist für viele Russen Alltag: in Pskow und der Region besonders, erklärt Andrej Semjonow, der die Hilfsorganisation "Dobrij Gorod", "Gute Stadt", leitet. Arbeit und gute Bezahlung sind hier rar. Er erklärt: "Viele Ackerflächen werden nicht bearbeitet, keiner macht das. In Landwirtschaft und Industrie funktionieren vielleicht noch zehn Prozent. Investoren kommen - warum auch immer - nicht in unsere Region."
Die staatliche Hilfe, meint Andrej Semjonow, reicht nicht. Deshalb sammelt er Spenden: für Schultaschen, für Kinder, für medizinische Behandlungen. Er sagt: "Es ist schwierig. Aber es ist überall schwierig. Die Wohltätigkeitskultur wurde viele Jahre lang vernichtet. Weil der Wohlstand der Bevölkerung in der letzten Zeit gesunken ist, gibt es auch weniger Spenden."
Ab wann ist ein Russe arm?
Einen Blick über eine Region hinaus ermöglicht das unabhängige Forschungszentrum Lewada in Moskau. Soziologin Marina Krasilnikowa erläutert: Die krasseste Armut, wenn das Geld zum Essen nicht mehr reicht, steigt zwar nicht - sie betrifft knapp fünf Prozent der Menschen -, hingegen steigt seit Jahren die Zahl derjenigen, deren Geld zwar für einfache Lebensmittel reicht, aber die andere Ausgaben nicht bestreiten können.
Marina Krasilnikowa: "Aber andere wichtige familiäre und menschliche Bedürfnisse wie Wohnung, Bildung für sich und die Kinder, medizinische Versorgung - sie alle liegen außerhalb dessen, was sich eine durchschnittliche russische Familie leisten kann." Die Soziologen arbeiten nicht mit einer Einkommensgrenze, unterhalb derer jemand als arm gilt, sondern mit Selbsteinschätzungen der Befragten. Demnach ist Armut in Russland die größte Sorge.
Marina Krasilnikowa: "Sie betrifft sehr oft kinderreiche Familien, in denen Eltern arbeiten. Deren Gehälter sind durchschnittlich ziemlich niedrig. Viele Kinder und eine bescheidene Unterstützung der Mütter seitens des Staates führen oft zu Armut. Es ist heute nicht mehr so, dass Rentner die sozial schwächste Gruppe der Bevölkerung bilden."
Dabei gilt auch: Je kleiner und entlegener der Ort, desto größer das Armutsrisiko in Russland. Trotz allem: Die Wirtschaftsdaten verheißen zurzeit eine leichte Besserung der Lage. Aber es wird dauern, bis steigende Einkommen bei den Armen ankommen.