Wohnverhältnisse und eine schlechte medizinische Infrastruktur in sogenannten Problemvierteln – sozial Benachteiligte sind in der Corona-Pandemie deutlich stärker gefährdet als der Rest der Gesellschaft. Das wird auch in Deutschland immer deutlicher und lässt sich inzwischen auch mit Daten belegen: So ist das Infektionsgeschehen in sozialen Brennpunkten sehr hoch, die Impfquote dagegen sehr niedrig.
Auf den Intensivstationen lägen überdurchschnittlich viele Menschen aus ärmeren Bevölkerungsschichten, Menschen mit Migrationshintergrund und sozial Benachteiligte, berichtet der Verband der Intensivmediziner. Er fordert daher Länder und Kommunen dazu auf, verstärkt in sozialen Brennpunkten gegen das Coronavirus zu impfen, um die Krankenhäuser zu entlasten.
Der Geschäftsführer des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes Ulrich Schneider schloss sich im Gespräch mit dem Deutschlandfunk den Forderung der Intensivmediziner an: Zum einen müsse einer sozialen Spaltung bei der Impfung entgegen gewirkt werden, zum anderen dienten Impfungen in Wohngebieten mit hohem Infektionsrisiko dem Schutz der gesamten Bevölkerung. Schneider plädierte auch dafür, die Impfungen vor Ort, in den entsprechenden Vierteln durchzuführen.
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Stefan Heinlein: Herr Schneider, deckt sich die Einschätzung der Intensivmediziner mir Ihren Beobachtungen? Ist die Gefahr, an Covid zu erkranken, letztendlich auch eine Frage des Geldbeutels?
Ulrich Schneider: Ja, absolut, leider. Das müssen wir feststellen. Es sind die Menschen – das haben wir gerade gehört -, die in beengteren Wohnverhältnissen leben. Es sind die Menschen, die, wenn sie einen Job haben, bei dem sie ohnehin nicht viel verdienen, dann aber auch mit öffentlichen Verkehrsmitteln fahren müssen, sich reinquetschen in Straßenbahnen oder S-Bahnen. Es sind eben nicht die, die im Homeoffice sind oder, wenn sie zum Büro fahren, mit dem Auto und dann in einer Tiefgarage landen.
Mit anderen Worten: Arme Menschen sind dem deutlich mehr ausgesetzt. Und ganz am Ende der Skala natürlich obdachlose Menschen, ganz unten auf der Skala, oder etwa Asylbewerber, die in Sammelunterkünften leben, wo man sich wirklich überhaupt nicht mehr schützen kann. Wir haben in der Tat mit dieser Pandemie eine ganz neue und schlimme Form der Ausgrenzung.
"Das Thema Armut ist weitestgehend ausgeblendet worden"
Heinlein: Herr Schneider, als RKI-Chef Lothar Wieler dieses Thema vor Wochen in kleiner Runde ansprach, da erntete er tatsächlich einen echten Shitstorm. Er wurde ganz scharf kritisiert von vielen Seiten. Es gäbe dazu keine validen Daten. Warum war diese soziale Frage bislang weitgehend Tabu in den Corona-Debatten?
Schneider: Ich denke, man wollte unbedingt an der Impfpriorisierung festhalten. Das war ja auch erst mal löblich zu sagen, wir müssen zuerst mal diejenigen impfen und schützen, die besonders gefährdet sind. Man hat sich da ausschließlich an medizinischen Kategorien orientiert und hatte offensichtlich überhaupt keinen Blick für soziale Kategorien, die natürlich auch dort reinspielen. Natürlich geht es darum, dass alte Menschen, gesundheitlich vorbelastete Menschen ein sehr hohes Risiko haben, einen außerordentlich schlimmen Krankheitsverlauf zu bekommen, und da ist man reingegangen.
Die soziale Frage spielte, glaube ich, deshalb so wenig eine Rolle, weil sie insgesamt in Deutschland bei ganz vielen Themen ausgeblendet wird. Wir haben ja auch bis zum heutigen Tag noch kaum irgendeine Hilfe für Hartz-IV-Bezieher, um die gestiegenen Kosten mit aufzufangen. Jetzt im Mai soll eine Einmalzahlung kommen von 150 Euro für alle Masken, die Sie brauchten, Desinfektionsmittel und so weiter, einmal 150 Euro für die gesamte Pandemie. Das Thema Armut ist in Deutschland weitestgehend ausgeblendet worden.
Heinlein: Umsonst, Herr Schneider, sind aber nach wie vor die Impfungen, und hier gibt es ja die Debatten über Änderungen der Impfpriorisierung nach gezielten Impfungen in sozialen Brennpunkten. Ich vermute, das hat Ihre Unterstützung?
Schneider: Absolut unterstützenswert - aus zweierlei Gründen. Einmal schaffen wir damit ein Gerechtigkeitsproblem weg, denn es kann nicht sein, wenn Impfstoffe freigegeben werden, was ja in größerer Zahl vernünftigerweise auch der Fall ist, dass dann ein Wettlauf stattfindet, die mit den guten Beziehungen, die mit den Hausärzten, die, die auch immer gut informiert sind, bekommen dann schnell eine Impfung. Und die, die vielleicht der deutschen Sprache gar nicht Herr sind, die das einfach so nicht mitbekommen, nicht so verdrahtet sind, die fallen hinten herüber. Das kann nicht passieren, das darf nicht passieren. Deswegen ist das ein vernünftiger Vorschlag.
Der zweite ist einfach: Es geht um Schutz für alle. Wenn wir feststellen, dass in bestimmten Wohngebieten, wo besonders viel Armut herrscht, auch ein besonders hohes Infektionsrisiko da ist, dann ist das wirklich für uns alle gut, wenn wir mit mobilen Teams dort hinfahren und die Infektion im Keim ersticken.
"Wir müssen dort hingehen, wo die Menschen sind"
Heinlein: Haben wir aktuell aber noch eine Art, wenn man das so nennen kann, sozialer Impfspaltung? Wer gut vernetzt ist und vielleicht einen Chefarzt persönlich kennt in der Nachbarschaft, der wird leichter geimpft als jemand, der keinen Hausarzt hat und vielleicht, weil er es nicht anders kennt aus dem Ausland, weil er aus anderen Ländern kommt, in die Polyklinik geht, in die Notaufnahme unserer Krankenhäuser?
Schneider: Ich denke mal, man braucht gar nicht so weit zu gehen, dass man einen Chefarzt kennen muss. Man muss aber so fit zum Beispiel sein, so gut vernetzt sein, dass man in einem Impfzentrum sich auf eine Liste setzen lässt, die angerufen wird, wenn Impfstoffe schnell weg müssen, weil sie sonst übrig bleiben und weggeschmissen werden müssen. Das verlangt eine gewisse Kompetenz. Das verlangt, dass man wirklich agil ist, und das sind nun mal nicht alle Menschen. Da gibt es Unterschiede.
Diejenigen als Beispiel noch mal, die nicht mal der deutschen Sprache mächtig sind, die sind dann ganz unten auf der Leiter. Diejenigen, die in Gemeinschaftsunterkünften leben, sei es für Flüchtlinge, seien es Frauenhäuser oder andere, die sind dann ganz abgemeldet. Das wäre die soziale Spaltung bei der Impfung und da müssen wir gegenwirken und da können wir auch gegenwirken. Wir müssen dort hingehen, wo die Menschen sind.
Heinlein: Wie schwierig ist es denn – da können Sie vielleicht aus Ihren Erfahrungen der Wohlfahrtsverbände erzählen -, für sozial Schwache und Migranten an Impftermine zu kommen? Sind manche tatsächlich überfordert mit den Regelungen und auch mit den digitalen Anforderungen, an einen Termin zu kommen?
Schneider: Das was die digitalen Anforderungen anbelangt, ist das ein Problem. Klar. Wir wissen, dass da, wo Armut herrscht, auch digitale Armut meist herrscht. Aber es betrifft nicht nur das Digitale. Es sind auch viele sehr alte Menschen einfach überfordert und da muss Hilfe her. Das andere ist: Die Einladungsschreiben zur Testung beispielsweise sind manchmal wirklich in bestem Amtsdeutsch gehalten. Das ist nicht jedermanns Sprache, nicht nur für Menschen mit Migrationshintergrund. Das heißt, hier ist noch mal eine Schwelle. Und dann der Punkt: Man muss sich dort hinbewegen und so weiter und so weiter, und wir wissen, dass hier benachteiligte Gruppen häufig auch immobiler sind.
Deswegen noch mal: Wir müssen von der sogenannten Komm-Struktur, der, der geimpft werden will, muss irgendwo hinkommen, dann zu einer Geh-Struktur, wir gehen zu den Menschen hin. Das ist sicherlich das, was jetzt Priorität Nummer eins haben muss.
"Impfbereitschaft hat ganz viel mit Aufklärung zu tun"
Heinlein: Ist denn die Impfbereitschaft, wenn diese Impfmobile kommen, in sozial benachteiligten Regionen tatsächlich so hoch wie in anderen vierteln?
Schneider: Wir müssen aufklären. Impfbereitschaft hat ganz viel mit Aufklärung zu tun. Es geht ja gerade heute erst auch durch die Medien. Wir stellen eine gewisse Zurückhaltung bei AstraZeneca fest – einfach deshalb, weil die Menschen nicht mehr ganz durchblicken. Mal darf es nicht an ältere verimpft werden, dann nicht an jüngere und nur an ältere. Das verunsichert und dem können wir nur mit guter Aufklärung entgegenwirken, und die geht auch nur vor Ort. Es reicht nicht, in sechs, sieben Sprachen Flugblätter in Briefkästen zu werfen, sondern das muss wirklich mit aufklärerischen Teams vor Ort sein. Dann, denke ich, wird man auch die Impfbereitschaft bekommen, die wir brauchen.
Heinlein: Vor diesem Hintergrund, Herr Schneider, ist es schon Zeit, daran zu denken, Geimpfte und Genesene wieder freizustellen von allen Corona-Beschränkungen? Diese Debatte läuft ja und man könnte es auf den Nenner bringen, Party für die Reichen und Ausgangssperren für die sozial Schwachen.
Schneider: Sagen wir mal für die Geimpften. Es geht da nicht um Reiche. Ich denke, wenn wir an die Rückgabe von Freiheitsrechten denken, von Grundrechten, an erster Linie mal an Menschen in Pflegeeinrichtungen. Wenn wirklich in Pflegeeinrichtungen die Menschen ihre zweite Impfung haben, warum sollen sie dann nicht wieder gemeinsam mittagessen, warum sollen sie dann nicht einen Singkreis machen können, warum sollen sie nicht gemeinsam Freizeit verbringen oder auch mehr Besuch empfangen können von geimpften Menschen. Darum geht es. Da geht es gar nicht so um arm und reich.
Ich denke, bei den Grundrechten ist es so: Sie sind nur einzuschränken, um Gefahrenabwehr zu leisten. Wenn ein Mensch keine Gefahr mehr darstellt, weil er zweimal geimpft ist, dann fällt dies weg, und das müssen wir erst mal so hinnehmen und das müssen wir noch umsetzen. Jetzt stellt sich die Frage, was machen wir für die anderen, und da hilft nur wirklich Testen, Testen, Testen, solange nicht alle geimpft werden können. So wir Freiheitsrechte dann auch wieder zurückgeben, müssen wir auch Testkapazität und Testmöglichkeit aufbauen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.