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Arno Orzessek
Der packendste "Spiegel"-Text seit Relotius

Der Bericht der "Spiegel"-Aufklärungskommission zum Fall Relotius beschäftigt unseren Glossisten Arno Orzessek. Für ihn ist der Bericht das packendste Spiegel-Stück seit den Reportagen von Claas Relotius. Und das Beste daran: es kommt ganz ohne blankes Ausdenken aus.

24.05.2019, Hamburg: Der Abschlussbericht zur Fälschungsaffäre Relotius liegt während der Präsentation auf einem Tisch im Verlagsgebäude. Gut fünf Monate nach Bekanntwerden des Fälschungsfalls um den Reporter Claas Relotius hat der «Spiegel» einen Abschlussbericht zu der Affäre vorgelegt. Der «Spiegel»-Verlag in Hamburg hatte die Fälschungen im Dezember 2018 öffentlich gemacht. Dem «Spiegel» zufolge waren seit 2011 rund 60 Texte im Heft und bei «Spiegel Online» erschienen, die der Journalist geschrieben hat oder an denen er beteiligt war. Darin hatte Relotius zum Teil Protagonisten und Szenen erfunden.. Foto: Marcus Brandt/dpa | Verwendung weltweit
Der Abschlussbericht zum Fall Relotius lässt tief blicken (picture alliance / Marcus Brandt)
Ein Bravo, liebe Kollegen vom "Spiegel" - dafür, dass ihr die Aufklärungskommission in Sachen Claas Relotius rücksichtslos auf euch selbst losgelassen habt. Für so etwas braucht man Eier, jetzt mal umgangsprachlich formuliert. Denn es war ja klar, dass das richtig wehtun würde. Also, euch vom "Spiegel" wehtun.
Aus Leser-Perspektive dagegen ist der Abschlussbericht das packendste "Spiegel"-Stück seit - na ja, seit den Reportagen eines gewissen Relotius.
Faszinierend detailreiche Aufklärung
Um blöde Missverständnisse zu vermeiden: Der faszinierend detailreiche Bericht wurde natürlich ohne Relotius-Methoden verfasst. Das muss man den drei Aufklärern einfach glauben. Denn die Dokumentations-Abteilung des "Spiegel", laut dem Fachmagazin "Columbia Journalism Review" der größte Fakten-Checker der Welt, wirkt post Relotius nur bedingt abwehrbereit, was Fehlerteufel angeht.
Und es ist übrigens auch nicht der Stil, in dem sich Bericht und Relotius-Reportagen ähneln. Sicher, als Ullrich Fichtner im Dezember als designierter Chef-Redakteur die Vergehen des Flunker-Junkies erstmals publik gemacht hat, da schrieb er nachahmungstätermäßig in dessen eigenem Stil.
Eine freudianische Seltsamkeit, die dem Bericht fremd ist. Der ist nämlich stilistisch ein echter Anti-Relotius, ein Stück Prosa wie ein Nagelbrett mit rostigen 30cm-Nägeln. Da ist nichts zu hören vom sahneartigen Sound der gefallenen Schmeichelfeder.
Es geht rau zu beim "Spiegel"
Nein, der Bericht gleicht Relotius' Reportagen, weil er kundtut, was man anders gar nicht wissen könnte. Nur halt ohne blankes Ausdenken.
Wir erfahren etwa: In puncto Umgang geht’s schon mal rau zu im Spiegel-Gebäude Ericusspitze, der architektonischen Stief-Schwester der schönen Elphi im Hamburger Hafenwasser. Redakteure vom Ressort "Gesellschaft" führen sich dort als besonders arrogante Pinsel auf. Weshalb der stets liebenswürdige blonde Superstar Claas R., der sich sogar fürs Abfassen lulliger Meldungen hergab, umso unverdächtiger erschien.
Dafür sein freier Kollege Juan Moreno, dieser dunkelbärtige Typ von südlichem Einschlag, der Relotius auf die Spur kam, viele Wochen lang umso verdächtiger. Bärte machen halt Leute - gell, Spiegel? Was nicht heißt, es ging dort stets ineffektiv zu.
Autorität ersetzt Fakten-Check
Manche Autoren zum Beispiel überließen Detail-Recherchen schön zeitsparend der Dokumentation, manche Dokumentaristen schönten Artikel so, dass sie "gerade nicht falsch" waren.
Relotius jedoch, umleuchtet von der Gloriole seiner vielen Preise, erklärte die Fakten-Prüfung qua Autorität gern für gänzlich überflüssig - was im Nachgang korrekt erscheint: Nach Fakten hätte man lange gesucht, gedruckt wurden Eulenspiegeleien.
Also, sie merken schon: Diese Räuberpistole müssen Sie unbedingt selbst lesen. Sie steht übrigens kostenfrei im Netz. Und wenn Sie schon mal drin sind: Gucken Sie sich auch das Video von dem Gespräch an, das Daniel Puntas Bernet, Chefredakteur von "Spiegel"-Reportagen, 2015 mit Relotius geführt hat; Thema: "Geheimnis des Erzählens"...das allerdings nicht gelüftet wird. Denn richtig flüssig reiht Relotius nur zwei Worte aneinander: erstens "ähm", zweitens "äh".
"Der Karl Mai des 21. Jahrhunderts"
Erhellend dafür die Kommentare, die sich unterm Video sammeln, seit Relotius aufgeflogen ist: "Der Karl May des 21. Jahrhunderts", jubelt der User Krok O'dil, während DrJoGerner, offenbar nicht zu Späßen aufgelegt, ins Netz schimpft: "Dieser schmutzige Lurch."
Zu klären bliebe die Frage von db67HH: "Wann meldet endlich die Titanic, daß sie Claas Relotius dem "Spiegel" untergejubelt hat?" Tja, das hat die Titanic vielleicht gar nicht. Und so hängt der arme Relotius ziemlich in der Luft.
Aber keine Sorge, Claas! Konrad Kujau, der damals die Hitler-Tagebücher gefälscht und an den "Stern" vertickt hat, der saß zwischendurch sogar im Knast. Doch berühmt ist berühmt! Später trat Kujau als Fälschungs-Experte auf. Und wissen Sie wo, lieber Claas? Bei "Spiegel"-TV. Also, Kopf hoch! In den Medien, da geht immer noch was.