Um ein bisschen aus der journalistischen Praxis zu plaudern - folgendes:
Gestern haben wir uns in den Relax-Sessel gefläzt und per Notebook die 41 offiziellen Musikclips zum 64. Eurovision Song Contest reingezogen. Ist übrigens echt easy! Die ARD betüddelt den ESC im Netz nämlich so gründlich wie liebevolle Eltern ihr Einzelkind und bietet die passende Playlist an. Tja, und nach 41 mal 3 Minuten ESC-Mucke ist man richtig überwältigt.
Aber bitte, liebe Schandmäuler: Jetzt nicht überwältigt im Sinne von 'Gewalttat', sondern im Sinne von 'seelisch emporgetragen'. Und das liegt an dem genialen Schema, dem viele Songs folgen.
Es geht ruhig los, aber schon so, dass man wie mit 40 Grad dem entgegenfiebert, was gleich passieren wird. Und dann folgt sie, die volle Dröhnung Gefühl, Gefühl, Gefühl... Untermalt von kathedralen Hall-Effekten, illuminiert von Light-Shows, die blinken wie auf LSD, mit Schlagzeug-Wumms, als würden Flugzeuge an Bergwänden zerschellen.
Erhebende Überwältigungs-Lieder
Unter uns ESC-Fans kaum nötig zu sagen: Die Mutter aller Überwältigungs-Lieder dieser Sorte ist natürlich "Euphoria", der Song, mit dem die Schwedin Loreen 2012 den ESC in Baku gewonnen hat. Wichtigste Text-Zeile: "We are going up, up, up, up, up, up."
Nachdem wir dank der 41 ESC-Songs auf der ARD-Seite unsererseits up-gegangen waren, haben wir zum Runterkommen lineares Fernsehen eingeschaltet. Und prompt entdeckte unser Auge bei Phoenix das herrliche Wort "Eurovisiondebate". Es stand auf einem Banner im Hintergrund, während vorn seriöse Leute engagiert am Reden waren – und zwar auf Englisch, simultan übersetzt.
Wow! dachten wir....
Am Tag zwischen den Eurovision Contest-Halbfinals in Tel Aviv wird sich also auch der spröde Sender Phoenix seiner Verantwortung fürs Populäre bewusst und sendet endlich mal 'ne amtliche "Eurovisiondebate". Allein, unsere Freude währte nur 0,01 Sekunden – oder wie lange so ein Gedanke braucht, um den vorigen für strunzdumm zu erklären.
Getäuscht von der "Eurovisiondebate"
In der "Eurovisiondebate" – was für ein Fake! –, ging's gar nicht um den Eurovision Song Contest. Es ging um... die Europawahlen; und das, obwohl sie erst Ende nächster Woche sind, das ESC-Finale dagegen schon jetzt gleich am kommenden Samstag. Falls Sie unsere Bitterkeit über die Politik-Sucht von Phoenix nicht teilen, schalten Sie ruhig ab. Denn dann interessiert es Sie auch nicht, wie sehr man sich als Deutscher aufs ESC-Finale freuen darf.
Es ist ja so: Unsere Kandidatinnen, die "S!sters" Carlotta und Laurita, erreichen es mit ihrem Song "Sister" auf jeden Fall! Was daran liegt, dass wir hiesigen Beitragzahler für den ESC genügend Kohle locker machen, um den beiden, wie allen Vorgängern seit 1997, jene Halbfinal-Mühsal zu ersparen... Die ärmeren Schluckern unter den mitsingenden Ländern nun wirklich besser steht.
Noch wichtiger: Mark Pittelkau, dem investigativen Reporter von Bild.de, hat Laurita von einer jüngeren Probe berichtet, "die uns sehr, sehr, sehr, sehr gut fühlen lassen hat." Woraus unstrittig folgt, dass Deutschland mit sehr, sehr, sehr, sehr großer Wahrscheinlichkeit nicht wieder total abkackt – oder?
Voten Sie unbedingt mit beim ESC!
Andererseits: Nur weil Carlotta und Laurita genauso junge Frauen sind wie einst "Ein-bisschen-Frieden"-Nicole und später "Satellite"-Lena, die einzigen deutschen ESC-Gewinner, ist das noch keine garantierte Gewinn-Garantie.
Umso beruhigender zu wissen, dass einer Laurita vor böser Presse nicht bange wäre. "Der größte Kritiker ist immer einer selbst von sich selbst", hat sie Bild.de verraten und damit auch sprachlich Lust auf ihre Song-Writer-Karriere gemacht. -
Also, Sie merken es, liebe Hörer: Wir sind im ESC-Fieber! Und darum möchten wir Ihnen sagen: Ist schon okay, wenn Sie bei der Europawahl Ihr Kreuzchen machen. Doch nie fühlt sich dieses Europa kuscheliger an als am Abend des Eurovision Song Contest. Voten Sie also unbedingt mit beim ESC! Wählen Sie das bessere Europa!