Der niederländische Erfolgsautor Arnon Grünberg begegnet seinen Figuren mit einer ausgesprochenen Gnadenlosigkeit und schockiert seine Leser gern mit ungezogenen Büchern. Unvergessen ist etwa die "tour de torture", die er dem Vater in seinem Buch "Tirza" angedeihen ließ. In seinem neuesten Roman mit dem gesund daherkommenden Titel "Der Mann, der nie krank war" erwischt es einen eher durchschnittlichen Architekten. Samarendra Ambani, Sohn eines Inders und einer Schweizerin, ist auf gutem Wege aus seinem Leben etwas zu machen. Mit einem Kompagnon führt er ein Architektenbüro in Zürich und bekommt unverhofft den Auftrag, in der irakischen Hauptstadt Bagdad eine Oper zu bauen. Alles toll und harmlos, wie auch der Beginn dieses Romans:
"Für seine Reise hat Samarendra Ambani mit seiner Freundin einen neuen Koffer gekauft. Einen grauen Rollkoffer. Weil Samarendras Freundin Angst hatte, er könnte seinen Koffer auf dem Gepäckband nicht wiedererkennen, hat sie ein hellgrünes Haarband um den Griff gebunden. Auf das Haarband hätte er lieber verzichtet, Samarendra, der von den meisten Sam genannt wird, möchte wie ein professioneller Reisender wirken, wie ein Mensch, der schon überall gewesen ist und sich auch überall zu Hause fühlt. So ein Haarband ist eher was für den betagten, ängstlichen Touristen, der sein Heimweh nur unzureichend kaschiert. Aber er wollte seine Freundin nicht enttäuschen. 'Dann musst du jedes Mal, wenn du den Koffer siehst, an mich denken', hatte sie gesagt."
Derart harmlos beginnt dieser Roman und doch umgibt schon die ersten Sätze und den Reiseantritt ein unheilvolles Dröhnen. In Zürich lebt Sam ein Leben in einigermaßen geordneten Verhältnissen, Jahre verbinden ihn mit seiner Freundin Nina. Seine Mutter wohnt mit seiner Schwester Aida zusammen, die unter einer schweren Muskelkrankheit leidet, sein Vater ist vor Jahren bei einer Kletteraktion in den Bergen ums Leben gekommen.
Von Ferne erinnert die Konstellation an Tennessee Williams Dreieck aus "Die Glasmenagerie", die Nähe zur Schwester mit eingeschlossen. Doch bei Grünberg dient die familiäre Situation nur als Hintergrundbild für eine Geschichte, die das Fürchten lehrt. Im Irak ist für Sam nämlich dann nichts wie geplant, der Auftraggeber Mahmoud ist verschwunden, soll gar tot sein, keiner weiß irgendetwas über eine Oper oder gar von ihm als beauftragten Architekten. Ein Alptraum: rätselhaft, unheimlich und ausweglos. Sam erweist sich dabei als Nachfahre von Kafkas Protagonisten K., der nicht weiß, was und wie ihm geschieht. Dabei inszeniert Grünberg diesen Moment, in dem die Normalität in den Wahnsinn kippt mit kalter Präzision. Die Unausrechenbarkeit der Handlung trägt dabei viel zur ungeheuren Spannung dieses Romans bei:
"Natürlich blufft er, sie können einem Schweizer Staatsbürger nicht einfach umbringen. Dass die Iraker sich das gegenseitig antun, ist die Welt inzwischen gewohnt, das ist eigentlich auch eine innere Angelegenheit. Gewalt gehört zu diesem Land, zu dieser Kultur. Doch ein Schweizer Staatsbürger kann nicht einfach getötet werden, das wird der Westen nicht hinnehmen, die Schweizer Regierung nicht zulassen."
Die Überlegungen des Protagonisten decken sich mit den Überlegungen der Leser, die ebenso davon ausgehen, dass die Hauptfigur nicht schon im ersten Drittel des Buches ihr Leben lässt, auch wenn die aktuelle Lage im Irak es nicht ausschließt. Zutrauen würde man es auch dem 1971 geborenen Schriftsteller Arnon Grünberg, der mit seinem neuen Roman den Verlag gewechselt hat, vom Schweizer Diogenes Verlag zum deutschen Verlag Kiepenheuer & Witsch. Er selbst begründet das mit seinem engen Verhältnis zum 2011 gestorbenen Diogenes-Gründer Daniel Keel. Aber das nur am Rande. Seinem Protagonisten Sam scheinen die Fanta trinkenden Iraker um ihn herum ebenso wenig geheuer wie den Lesern. Dabei befinden sich die Hauptfigur und die Leser stets auf dem selben Wissensstand, die Ereignisse überfallen beide gleichzeitig, und die Angst und Unsicherheit wie das Unbehagen Sams werden zu ihrem eigenen. Sam kehrt aus dem Irak wieder nach Hause zurück, so viel darf man an dieser Stelle verraten, weil man damit gar nichts über den Fortgang der Geschichte, die den Protagonisten auch noch nach Dubai führen wird, erzählt.
Wo das alles enden mag, fragt man sich bis zuletzt. Dabei gefällt sich Arnon Grünberg wieder einmal in der Schaffung unversöhnlicher Welten, in denen die Menschen und die Gegenwart ihre Abgründe offenbaren. Ohne Umwege kommt Grünberg zur Sache, hält sich nicht mit langen Beschreibungen auf, sondern prescht und peitscht den Plot voran, wobei er gekonnt mit den Chiffren des Politthrillers spielt und diese immer wieder mit absurdem Humor konterkariert. Dabei verliert er keine Zeit und treibt alles in die dunkle Ecke, die den Endpunkt des Romans darstellt.
Der Schluss wirkt dann in seiner Zwangsläufigkeit fast schon schal, wobei das Buch und die darin enthaltende zynische Analyse unserer Gegenwart nachhaltig beeinflusst: Wer nach dem Lesen von Frank Schätzings "Der Schwarm" eine Weile kein Bedürfnis mehr hatte, seine Ferien am Meer zu verbringen, bleibt nach der Lektüre von Grünbergs Roman am liebsten daheim.
Arnon Grünberg: "Der Mann, der nie krank war", Roman, aus dem Niederländischen von Rainer Kersten, Kiepenheuer & Witsch, 236 Seiten, 18,99 Euro.