Es ist Nacht, als auf dem Mittelmeer ein Boot des spanischen Drogenbosses El Feo von seinem Mitarbeiter Farid überfallen wird. Die Ladung an Bord: Zwei Tonnen Marihuana. Farid wird bei dem Überfall angeschossen und taucht unter. Doch die Tat hat Folgen für seine Familie: In Marbella versucht El Feo bei Farids ahnungsloser Frau Anna dessen Schulden einzutreiben. In einer Pariser Banlieu warten die Dealer Shams und Morphée auf Nachschub:
"Ich wette, dein Onkel steckt dahinter. - Farid kennt El Feo. Der hat den besten Stoff. Deshalb habe ich ihn dir vorgestellt. - Und wo bleibt der Shit, du Arsch? Er möchte, dass du ihm hilfst, den Stoff zu finden. Und das machst du auch, ist doch klar. - Aber ich wüsste nicht wie. - Schnauze! Du fährst nach Marbella, klärst das mit El Feo, und bringst mir meinen Stoff."
Figuren im Mittelpunkt
Auf den ersten Blick ist "Cannabis" eine Serie über den europäischen Drogenhandel. Erzählt aus der Perspektive von Randfiguren: Die verwöhnte Hausfrau Anna. Der Kleinkriminelle Shams. Ihre Geschichten stehen im Mittelpunkt der Serie. Bereits die erste der sechs Folgen zeigt: "Cannabis" ist mehr als eine mediterrane Version von Nordic Noir:
"Der Drogenhandel ist nur der Hintergrund für die Serie. Worum es eigentlich sind die Figuren, die versuchen ihren Job zu machen. Sei es als Dealer oder Prostituierte. Als Mutter oder Großmutter. Was die Figuren verbindet, ist das sie versuchen, sich durchzuschlagen. Wobei jede von ihnen sehr ambivalent ist."
Untypische Charaktere
Zum Beispiel der Gangsterboss El Feo, der Hässliche. Ein Bösewicht wie aus einem Shakespeare-Drama: Seine Feinde foltert er mit einer Gartenschere. Freunde lädt er zum Gespräch über Ingrid Bergmann. Oder der gewaltbereite Straßengangster Morphée, der andere als Schwuchtel bezeichnet, aber heimlich einen Mann liebt. Als eine der wenigen Fernsehproduktionen überhaupt kommt "Cannabis" ganz ohne die typische männliche, weiße, heterosexuelle Hauptfigur aus:
"Das macht die Serie so modern: Jahrzehntelang waren Filme und Serien dominiert von diesen paternalistischen Figuren. In diesem Fall hatten die Autoren das noch nicht mal bewusst geplant. Aber gerade das macht die Serie meiner Meinung nach so stark, denn wir kommen ohne ein bestimmtes Label aus."
Inszeniert hat die Serie die französische Arthaus-Regisseurin Lucie Borleteau an Originalschauplätzen in Spanien, Frankreich und Marokko, wodurch die Sprache auch bei einzelnen Figuren immer wieder wechselt. Auch das macht die Serie neben ihrer temporeichen Inszenierung und einem originellen Cast so gegenwärtig:
"Die Serie ist ein Spiegel unseres veränderten Europas: Es sind die gleichen Gesichter, die man in unseren Großstädten sieht. Der gleiche Stimmen-Mix. Die gleichen Geschichten."
Gegenentwurf zu amerikanischen Produktionen
Mit seiner Figurendichte und dem Blick für gesellschaftliche und politische Zusammenhänge erinnert "Cannabis" an die amerikanische Über-Serie "The Wire". Doch Regisseurin Lucie Borleteau hält wenig von solchen Vergleichen:
"Das amerikanische Fernsehen hat beeindruckende Serien-Vorbilder geliefert, aber wir hatten in Europa schon immer unsere eigene Art Filme zu machen. Warum soll das nicht auch für Serien gelten? Es wird Zeit, dass wir anfangen, entsprechende Projekte entwickeln. Die Möglichkeiten dafür waren nie besser."
Transeuropäische Produktionen als Gegenentwurf zu den amerikanischen Drama-Serien. Lucie Borleteau liefert mit "Cannabis" ein beeindruckendes Beispiel dafür: Eine Serie die als Drogenthriller ihr Genre genau trifft, und die als europäisches Gesellschaftsporträt ähnlich neue Maßstäbe setzt wie einst "The Wire".