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Arznei-Beratung durch den Computer

Informationstechnologie. – Arzneimittelhersteller warnen: ''Zu Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie bitte Ihren Arzt oder Apotheker.'' Doch auch Ärzte sind oft überfordert mit der Einschätzung von Medikamenten. Jedes Jahr sterben – jüngsten Schätzungen zufolge – 58.000 Menschen allein auf den internistischen Stationen deutscher Krankenhäuser an den Nebenwirkungen von Arzneien. Angesichts zunehmender Vielfalt auf dem Arzneisektor und mitunter mangelhafter Ausbildung der Mediziner wird der Ruf laut nach mehr Unterstützung bei der Verschreibung. Die mögliche Lösung könnte aus dem Internet kommen: Datenbanken könnten den Medizinern bei Auswahl, Dosierung und Warnhinweisen unter die Arme greifen.

25.08.2003
    Von Michael Engel

    Zwei Jahre lang untersuchten norwegische Mediziner sämtliche Todesfälle in einem internistischen Krankenhaus. Ergebnis: Von den 14.000 dort behandelten Patienten verstarben 732 – also etwa fünf Prozent – eine durchaus normale Zahl. Erschreckend ist dieser Befund: in 133 Fällen waren es nicht Krankheiten, die zum Tode führten, sondern die Nebenwirkungen der im Krankenhaus verordneten Medikamente. Auf Deutschland hochgerechnet ergeben sich daraus 58.000 Todesfälle im Jahr. Dazu Professor Jürgen Frölich, Leiter des Instituts für Klinische Pharmakologie der Medizinischen Hochschule Hannover:

    Die norwegische Studie ist deswegen für uns repräsentativ, weil in Norwegen die gleichen Medikamente eingesetzt werden wie im Bundesgebiet – mit den gleichen Indikationen, das heißt, für die gleichen Zwecke und in den gleichen Dosierungen. Darüber hinaus ist es so, dass in den norwegischen Krankenhäusern sehr, sehr viele deutsche Ärzte arbeiten oder Norweger, die aber in Deutschland ausgebildet worden sind. So das die Wissensbasis bei den Ärzten praktisch identisch ist mit der Wissensbasis der deutschen Ärzte.

    Nur in acht von 133 Fällen wurden Medikamente als Todesursache genannt. Bei den anderen 125 Patienten, die ebenfalls durch unerwünschte Arzneimittelwirkungen starben, standen völlig falsche Diagnosen wie zum Beispiel "Herzversagen" auf dem Totenschein. Ärzte werden nicht ausreichend im Fach "klinische Pharmakologie" ausgebildet, kommentiert Professor Fröhlich das katastrophale Ergebnis. Seit Jahren arbeitet der Wissenschaftler an einem computergestützten Expertensystem, um den Ärzten digital unter die Arme zu greifen:

    Eine Datenbank enthält faktisches Wissen. Das ist sozusagen ein riesiges Lexikon. Und ein Expertensystem verarbeitet Daten aus Datenbanken und in unserem Falle sowohl aus der Datenbank als auch aus den Patientendaten. Also Alter, Körpergröße, Körpergewicht, Nierenfunktion, Leberfunktion. Diese Daten fließen auf der einen Seite ein und werden zusammengeführt mit den Daten aus der Arzneimitteldatenbank. Und aus dieser Zusammenführung, die mit Hilfe von relativ komplizierten Algorithmen funktioniert, entsteht dann eine Empfehlung für den individuellen Patienten.

    Kennt der Computer den "Kreatininwert" und damit auch den Grad einer Nierenfunktionsstörung, wird die Dosierungsempfehlung angepasst. Ärzte, die hier keine Angaben machen, werden aufgefordert, Werte zur Nieren- und Leberfunktion zu liefern. "Thera-Opt", so der Name des Systems, macht die Ärzte sensibel für die Gefahren, die von Arzneien ausgehen. In den meisten Fällen, das zeigt die norwegische Studie, führten Überdosierungen zum Tode der Patienten. Noch allerdings ist Thera-Opt nicht ausgereift:

    Die Probleme bestehen darin, dass es sehr viel Zeit und Mühe kostet, die einzelnen Algorithmen zu entwickeln, und es kostet sehr viel Zeit und Mühe, jeden einzelnen Wirkstoff einzugeben. Denn Sie brauchen ein Fülle von Daten über die einzelnen Wirkstoffe. Und diese Daten sind nicht leicht zu kriegen und bedeuten eben pro Wirkstoff etwa zwei Tage Arbeitszeit.

    15 Prozent der Krankenhauseinweisungen sind bei alten Menschen das Ergebnis einer falschen Medikation. Auf jeden Todesfall – ausgelöst durch unerwünschte Arzneimittelwirkungen – kommen 20 Überlebende mit dauerhaften Behinderungen. Die Kosten gehen in die Millionen. Das alles ließe sich verhindern. Indes: haftungsrechtlich bliebe der Arzt auch weiterhin verantwortlich, wenn Thera Opt im Internet abrufbar sein wird:

    Es wird aber dem Arzt sicher sehr positiv angerechnet werden, wenn er ein derartiges System verwendet. Und man kann sagen: Allein aufgrund der Tatsache, dass diese Systeme so effektiv arbeiten, wird er viel seltener in ein haftungsrechtliches Problem hineingelangen.

    Ein paar Jahre werden sich die Ärzte noch gedulden müssen, bis sie einen digitalen Arzneimittelratgeber an die Seite gestellt bekommen.