Archiv

Aserbaidschan
Ein Öl-Staat zwischen großen Plänen und trister Realität

In Aserbaidschan steht im April die Präsidentschaftswahl an. Das Land lebt vom Öl und war nach dem Verfall des Ölpreises 2014 in Schieflage geraten. Doch die Regierung in Baku hat große Pläne für die Wirtschaft des Landes, auch wenn die Handelszahlen eingebrochen und die Umweltwerte katastrophal sind.

Von Daniel Heinrich |
    Ölbohrtürme im Kaspischen Meer in der Abenddämmerung. Davor geht am Ufer ein Mann entlang
    Ölbohrtürme im Kaspischen Meer vor Baku (Archivfoto) (picture alliance / dpa / Sergei Ilnitsky)
    Man merkt Parvin Ahanci die Begeisterung für ihren Beruf an. Die Geschichtswissenschaftlerin – Fokus "Entwicklung der Erdölwirtschaft in Aserbaidschan" – steht auf dem Ölfeld Bibi-Heybat im Osten des Landes. Hinter ihr blitzt das Kaspische Meer in der Wintersonne. Vor ihr der älteste Bohrturm der Welt – gebaut 1847.
    "Man kann das mit dem Goldrausch in Mexiko vergleichen. Die Leute haben vom "Baku-Öl" gehört, viele wichtige Firmen aus der ganzen Welt sind gekommen, um hier Geld zu machen: Die Rothschilds, die Nobel-Brüder, russische Firmen. Sie alle wollten vom Öl-Boom profitieren. Lassen Sie mich einen Zeitungsbericht von 1873 zitieren. Darin ist zu lesen: Alles dreht sich nur noch um Öl, Öl, Öl. Wo ist die nächste Öl-Quelle zu finden? Wo und wie kann man Geld investieren? Wie viel Geld kann man wo verdienen? Alle redeten nur noch vom Erdöl."
    Anfang des 20. Jahrhunderts wurde in Aserbaidschan die Hälfte des weltweit produzierten Erdöls gewonnen, an diese goldenen Zeiten hofft man nun anzuknüpfen: Obwohl das "Schwarze Gold" inzwischen primär auf Bohrinseln weit draußen im Kaspischen Meer "offshore" gefördert wird, nicken die Erdölpumpen auf der Halbinsel Abseron noch immer auf und ab. Die Bedeutung des Rohstoffs für die Identität des Landes kann auch heute gar nicht hoch genug eingeschätzt werden.
    Weg der Modernisierung
    Von den Erdölpumpen Bibi-Heybats fährt man etwa eine halbe Stunde zu Ilham Shabans Büro in der Hauptstadt Baku. Shaban ist der Direktor von "Caspian Barel", einem Forschungsinstitut, das sich auf Energiethemen rund um das Kaspische Meer spezialisiert hat.
    "Während der Sowjetunion gab es in Aserbaidschan neben Baku und Sumqayit keine industrialisierten, modernen Städte. Seit der Unabhängigkeit 1991, vor allem aber in den vergangenen 15 Jahren, befindet sich das gesamte Land auf einem großartigen Weg der Modernisierung. Und das liegt vor allem an den riesigen Einnahmen aus dem Erdölgeschäft."
    Blick auf aserbaidschanische Ölfelder in Shikhof nahe der Hauptstadt Baku - aufgenommen im Oktober 1998.
    Blick auf aserbaidschanische Ölfelder in Shikhof nahe der Hauptstadt Baku - aufgenommen im Oktober 1998. (picture alliance / dpa / epa / Nemenov)
    In der Tat: Das Land, das erst 1991 von der Sowjetunion unabhängig wurde, erlebte in den Jahren des Erdölbooms ein regelrechtes Wirtschaftswunder. Zwischen 2000 und 2010 wuchs die Wirtschaft jährlich im Durchschnitt um über 15 Prozent. Der Anteil der Armen in der Bevölkerung fiel laut einer Studie von Transparency International von knapp 50 Prozent im Jahr 2001 auf weniger als 16 Prozent im Jahr 2008. Doch im Jahr 2014 halbierte sich der Ölpreis weltweit innerhalb kürzester Zeit. Aserbaidschan, dessen Wirtschaft sich damals fast ausschließlich auf die Förderung von Erdöl konzentrierte, wurde hart getroffen: Staatliche Einnahmen brachen ein, die Landeswährung Manat wurde in der Folge zwei Mal entwertet. Auf der Suche nach Lösungen aus dieser Krise geht der Blick seitdem auch nach Deutschland.
    Rund 400 Kilometer westlich von den Erdölfeldern des Kaspischen Meeres läuten zwölfmal die Kirchturmglocken einer renovierten Lutherkirche. Es ist Mittagszeit in der Kleinstadt Göygöl im Landesinneren.
    Deutschland hoch im Kurs
    Göygöl hieß früher mal "Helenendorf" und wurde vor 200 Jahren von schwäbischen Siedlern gegründet. Vor ein paar Jahren hat man damit begonnen, die historischen Bauten wieder aufzuhübschen, die Erinnerung an die deutsche Vergangenheit aufleben zu lassen. "Almanya", also Deutschland, steht in der öffentlichen Meinung in Aserbaidschan hoch im Kurs.
    Das Land hofft auf Hilfe aus Deutschland. Farhad Mammadov ist der Direktor von SAM, einem einflussreichen, von der Regierung mitfinanzierten Forschungsinstitut. Erst im vergangenen November war er wieder in Berlin:
    "Deutschland ist für Aserbaidschan ein sehr wichtiges Land, insbesondere vor dem Hintergrund der aserbaidschanischen Beziehungen zur Europäischen Union. Die EU ist der wichtigste Handelspartner von Aserbaidschan und Deutschland nun einmal das mächtigste Land der Europäischen Union. Hinzu kommt, dass Deutschland ein hochentwickeltes Land mit herausragender Technologie ist. Auch vor diesem Hintergrund sind die Beziehungen zu Deutschland so wichtig für uns."
    Das hohe Ansehen deutscher Technik spiegelt sich in den Handelsbeziehungen wider: Vor allem Maschinen, Autos und Elektrotechnik werden aus Deutschland nach Aserbaidschan geliefert. Im Gegenzug exportiert Aserbaidschan Erdöl nach Deutschland.
    Jürgen Sawatzki ist einer derjenigen, der mit seinem Wissen und deutscher Technologie die aserbaidschanische Wirtschaft voranbringen will. Der 64-Jährige Ingenieur aus Lippstadt in Nordrhein-Westfalen war 19 Monate als Supervisor für den deutschen Mittelständler ECON Industries in Aserbaidschan.
    "Aserbaidschan ist ein ölförderndes Land. Die Bohrlöcher, die in die Erde gebohrt werden, müssen gekühlt und geschmiert werden, damit der Öl-Bohrer, der da unten reingeht, nicht zu schnell verschleißt. Da werden dann hochwertige Kühl-Öle mit reingegeben, die natürlich mit allem möglichen Dreck verunreinigt sind, wenn sie wieder an die Oberfläche kommen. Unsere Anlagen reinigen diese Schlämme, die sogenannten Drill-Cuts, und trennen Wasser von Feststoff und von diesen Bohr-Ölen. Diese Bohr-Öle haben danach die Eigenschaft wie neuwertige Öle. Das ist eine richtig gute Technik. Davon haben wir zwei Anlagen hier gebaut".
    Kriselnde Handelsbeziehungen
    Jürgen Sawatzki, ein Mann mit wachen Augen, Lachfältchen und festem Händedruck, strahlt. Zwei Anlagen hat seine Firma in Aserbaidschan gebaut. Die Realität der Handelsbeziehung jedoch ist eine andere: Zwar ist Aserbaidschan immer noch der wichtigste Handelspartner Deutschlands im Südkaukasus, allerdings sind alleine im Jahr 2016 die deutschen Importe ins Land um 26 Prozent eingebrochen. Tobias Baumann, Leiter der deutschen Außenhandelskammer in Aserbaidschan:
    "Der Stand ist aktuell etwas gedämpft, weil wir in Aserbaidschan aus einer Krise kommen, die auch die Deutsch-Aserbaidschanischen Wirtschaftsbeziehungen in Mitleidenschaft gezogen hat. Man kann das so darstellen, dass die deutschen Exporte eingebrochen sind - von knapp 900 Millionen pro Jahr auf knapp 300 Millionen Euro, also das ist schon bemerkenswert Und dann auch in dieser absoluten Zahl kein beeindruckendes Volumen mehr für uns."
    Erdölpumpe auf der Halbinsel Abseron: Nur wenige Kilometer von der Innenstadt Bakus entfernt
    Erdölpumpe auf der Halbinsel Abseron: Nur wenige Kilometer von der Innenstadt Bakus entfernt (Deutschlandradio / Daniel Heinrich)
    Die Gründe für die kriselnden Handelsbeziehungen liegen auch im wirtschaftspolitischen Umfeld, dem sich die Unternehmen stellen müssen. In Aserbaidschan zu investieren – das ist nicht ohne Risiko.
    Ein modernes Bürogebäude im Zentrum von Baku. Treffen mit Kestutis Jankauskas, dem EU-Botschafter in Aserbaidschan. Zusammen mit der deutschen Außenhandelskammer hat die EU-Botschaft den "EU-Business-Climate Report" herausgebracht: Einige Firmen sparen darin nicht mit Kritik am Wirtschaftsstandort Aserbaidschan: Strukturprobleme im Finanzsektor, ein intransparentes Steuersystem, unsichere Rechtslage. Jankauskas ist ein geschulter Diplomat, dennoch holt er vor seiner Antwort erst einmal tief Luft.
    "Sie haben Recht. Die ungesicherte Rechtslage ist mit Abstand das größte Problem für Unternehmen hier. Es gibt inzwischen rund 300 Firmen mit Sitz in der EU, die in Aserbaidschan arbeiten. Wir machen Umfragen um herauszufinden, was sie über das Geschäftsklima denken. Was als herausragend – in negativem Sinne – angesehen wird, sind juristische Probleme und eine Art Willkürjustiz. Für die großen Firmen ist das vielleicht nicht ganz so wichtig, aber für die kleinen und mittelständischen Unternehmen ist es von immenser Bedeutung, dass sie ihre Interessen hier verteidigen können, falls etwas passiert."
    Misstrauen gegenüber ausländischen Institutionen
    Diese – Zitat – Willkürjustiz ist auch der Grund dafür, dass eine einzige deutsche politische Stiftung noch ein Büro in Aserbaidschan betreibt. Die Gesetzeslage ist vom tiefen Misstrauen gegenüber ausländischen Institutionen geprägt und ähnelt der in Russland, China oder Ägypten. Farhad Mammadov, Direktor des halbstaatlichen Forschungsinstituts SAM, führt die rigide Haltung des Staates gegenüber ausländischen Organisationen auf Furcht vor äußeren Einflüssen zurück:
    "Das wichtigste Prinzip aserbaidschanischer Außenpolitik ist die Zurückgewinnung der territorialen Integrität des Landes. Das zweite Prinzip: Nicht zu einem Spielball von Großmächten zu werden. Wir sehen am Beispiel von Syrien, der Ukraine und anderen, dass schwache, kleine Staaten zum Spielball von Großmächten werden. Wenn sich solche Staaten ausländischen Einflüssen zu sehr öffnen, wird die die territoriale Integrität eines Staates geschwächt. Dies wirkt sich dann wiederum zum Beispiel negativ auf die Wirtschaftsleistung eines Landes aus. Im Endeffekt kann dies vielleicht sogar zu einem Kollaps des gesamten Staatsapparates führen."
    Der deutsche Ingenieur Jürgen Sawatzki weiß um dieses Misstrauen. Eigentlich sollte das Interview mit ihm ergänzt werden durch eine Besichtigung der von ihm betreuten Industrie-Anlage, die Zusage für einen Besuch schien reine Formsache. Kurz vor dem Temin sagte der Staatskonzern SOCAR die Besichtigung ab. Sawatzki ist sauer.
    "Wenn sie solange hier auf der Anlage sind, das ist das ja ihr Baby. Und haben solange auch gut mit den Leuten zusammengearbeitet hat, dann finde ich das schon nachdenkenswert, wenn man dann die Genehmigung nicht bekommt, um auf die Anlage zu gehen, um die sich anzuschauen."
    Hikmat Hajiyev, Sprecher des aserbaidschanischen Außenministeriums
    Hikmat Hajiyev, Sprecher des aserbaidschanischen Außenministeriums (Deutschlandradio / Daniel Heinrich)
    Die Absage des Staatskonzern SOCAR zeigt wie verkrampft offizielle Stellen mit Presseanfragen umgehen: Termine bei staatlichen Institutionen kommen, wenn überhaupt, erst durch Druck durch das Außenministeriums oder der Botschaft in Berlin zustande. Ohne persönliche Kontakte läuft gar nichts. Reporter ohne Grenzen listet Aserbaidschan auf dem Index der Pressefreiheit auf Rang 162 von 180 Staaten – ganze sieben Plätze hinter der Türkei.
    Grassierende Korruption? Mangelnde Pressefreiheit? Hikmat Hajiyev, Sprecher des aserbaidschanischen Außenministeriums, kann über kritische Berichterstattung aus dem Ausland nur den Kopf schütteln:
    Bedürfnis nach Demokratie
    "Aserbaidschan ist ein junges, demokratisches Land und wir machen jeden Tag handfeste Fortschritte in Richtung einer demokratischen Gesellschaft. Im Allgemeinen ist die Entwicklung hin zur Demokratie eine bewusste Entscheidung des aserbaidschanischen Volkes und der aserbaidschanischen Regierung. Wir machen das nicht, weil wir von internationalen Organisationen als demokratisch angesehen werden möchten. Es ist ein landesweites Grundbedürfnis der aserbaidschanischen Gesellschaft."
    Aserbaidschan, als ein Land, das sich öffnet, ein Land auf einer Welle des Erfolgs, getragen vom gemeinsamen Glauben der Regierung und des Volkes an Demokratie. Hajiyev ist Sprecher des Außenamtes, er muss sich so äußern.
    In Wirklichkeit hält Präsident Ilham Aliyev seit 2003 die Zügel fest in der Hand. Das Amt hatte er von seinem Vater, Heydar Aliyev, übernommen. Einem Mann, der schon zu Zeiten der Sowjetunion als wichtigster Politiker des Landes galt. Im Jahr 2016 wurde im Zuge der Veröffentlichungen der Panama Papers bekannt, dass Familie Aliyev Beteiligungen in praktisch jedem Bereich der Wirtschaft des Landes hält.
    Energieexperte Ilham Shaban
    Energieexperte Ilham Shaban: Nüchterne Sicht auf die Entwicklung in seinem Land (Deutschlandradio / Daniel Heinrich)
    Es überrascht daher kaum, dass nur ein paar Hundert Meter vom Außenministerium entfernt Energieexperte Ilham Shaban vom Forschungsinstitut Caspian Barel weit weniger pathetisch über die derzeitige Lage seines Landes spricht. Nüchtern verknüpft er die wirtschaftliche Krise mit einem vermeintlichen politischen Tauwetter:
    "Die aserbaidschanische Regierung weiß, dass sie niemals an die Einnahmen aus der Vergangenheit herankommen wird. Noch vor wenigen Jahren haben wir pro Jahr 20 Milliarden Dollar im Öl- und Gassektor verdient. Solche Einnahmen sind für die nächsten zehn Jahre nicht realistisch. Während des Öl-Booms hat sich Aserbaidschan nicht geöffnet, hat sich vom Rest der Welt abgekapselt. Die Krise hat dazu geführt, dass man begriffen hat, dass man sich öffnen muss. Der niedrige Ölpreis hat also auch Vorteile: Er zwingt die Regierung regelrecht, den Markt – und das Land – zu öffnen und Wettbewerb im Land zuzulassen, damit das Land überleben kann."
    Sumqayit zählt zu den zehn dreckigsten Städten der Erde
    Khayal Jafarov ist einer der Männer, die diese Öffnung vorantreiben sollen. Er empfängt in einem improvisierten Container-Büro, ganz in der Nähe von Sumqayit, der drittgrößten Stadt des Landes. Noch wird gebaut, in wenigen Monaten soll hier eine der modernsten Düngemittelfabriken des Landes ihre Arbeit aufnehmen – exportorientiert, mit internationaler Beteiligung und Jafarov als Direktor:
    "Dieses Projekt wird finanziert von einem Konsortium internationaler Banken. Eine der Banken, die an der Finanzierung dieses Standortes beteiligt ist, ist die Deutsche Bank. Das beteiligte Unternehmen ist der koreanische Generalunternehmer Samsung, der Hauptsponsor ist die koreanische Export- Importbank. Diese Bank hat drei führende europäische Banken mitgebracht. Neben der Deutschen Bank sind noch der österreichische Arm der italienischen Uni Credit und Societe Generale aus Frankreich beteiligt."
    Jafarov ist stolz auf die ausländische Beteiligung. Er kann daran nur Positives erkennen:
    "Diese Banken verlangen uns auch hohe Umweltstandards ab, nicht nur während der Bauphase, sondern auch, wenn die Fabrik in Betrieb genommen wird. Wir verpflichten uns daher selbst auf hohe internationale Umweltstandards. Das beinhaltet auch halbjährige Überprüfungen durch unabhängige Umweltexperten. "
    Dass ausgerechnet hier hohe Umweltstandards gelten sollen, hat Symbolkraft: In Sumqayit war zu Zeiten, als Aserbaidschan noch zur Sowjetunion gehörte, 70 Prozent der Chemikalienproduktion ansässig, die Kindersterblichkeit gehörte zu der höchsten in der Sowjetunion. Auch Jahrzehnte später sind die Folgen noch spürbar: 2007 zählt das amerikanische Blacksmith Institut, das sich die Beseitigung gravierender Umweltschäden auf die Fahnen geschrieben hat, Sumqayit zu den zehn dreckigsten Städten der Erde. Die Krebsrate lag laut einer gemeinsamen Studie des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen, der Weltgesundheitsorganisation, dem aserbaidschanischen Gesundheitsministerium und der University of Alberta auch Jahre nach Ende des Kalten Krieges bis zu 51 Prozent über dem aserbaidschanischen Durchschnitt.
    Fehler der Vergangenheit
    Rovshan Abbassov unterrichtet an der Khazar Universität im Norden Bakus. Der Raubbau an der Natur ist für den Geologen nicht nur in Sumquayit und nicht nur in der Vergangenheit erschreckend:
    "Wenn wir uns die Verschmutzung der Böden wegen der Erdölbohrungen ansehen, haben wir immer noch ähnliche Probleme. Wenn Sie auf der Halbinsel Abseron herumfahren, sehen Sie eine Menge veralteter Bohrtürme, sie sehen Verschmutzung überall. Zum einen sehen Sie eine immense Oberflächenverschmutzung. Die Verschmutzung geht jedoch auch tief in die Erde, an einigen Stellen vielleicht vier, fünf Meter. Ich gehe davon aus, dass sich überschüssiges Öl, Schwermetalle und an einigen Stellen sogar kleinere Mengen an radioaktiver Verstrahlung im Boden finden lassen, die sich schrecklich auf die Gesundheit von Menschen auswirken."
    Geologe Rovshan Abbasov
    Geologe Rovshan Abbasov: Mangelndes Umweltbewusstsein als gesamtgesellschaftliches Problem (Deutschlandradio / Daniel Heinrich)
    Die aserbaidschanische Regierung gibt vor, aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt zu haben. Moderne Industrieanlagen wie die Düngemittelfabrik in Sumqayit, angepasst an internationale Umweltstandards, sind nicht die einzigen Großprojekte, die die Wirtschaft fit machen sollen für die Zukunft: Die Tourismusbranche des Landes soll gestärkt werden, die Landwirtschaft soll produktiver werden. Im Zuge eines milliardenschweren Förderprojektes im Kaspischen Meer sollen ab 2020 zehn Mrd. Kubikmeter Erdgas pro Jahr in die EU transportiert werden. Die Betonung bei all dem liegt auf "sollen" – Viel passiert ist noch nichts, konstatiert Tobias Baumann, Leiter der Außenhandelskammer:
    "Jenseits des Öl- und Gassektors ist die aserbaidschanische Wirtschaft wenig diversifiziert. Vor allem die Exportwirtschaft ist wenig diversifiziert. Man hat bislang wenig konkurrenzfähige oder weltmarktfähige Produkte aus Aserbaidschan."
    Während sich Baumann um eine nüchterne Bestandsaufnahme der ökonomischen Situation in Aserbaidschan bemüht, kann der Geologe Rovshan Abbasov kaum an sich halten. Das Gespräch mit ihm über eine nachhaltige Entwicklung der Wirtschaft seines Landes weitet sich zu einer regelrechten Gesellschaftskritik aus:
    "Egal ob im Radio, im Fernsehen - alle reden immer nur übers Geld. Niemand spricht über Gesundheit, niemand spricht über ein besseres Bildungssystem. Natürlich hängen all diese Dinge voneinander ab. Geld ist wichtig im Leben, ich verstehe das. Aber wir leben doch nicht alleine des Geldes wegen! Wir müssen sicherstellen, dass die Umwelt auch für die kommenden Generationen sauber bleibt. Wir müssen unsere Schulen verbessern."
    Demokratisierung des politischen Systems scheint nachrangig
    Für Abbasov ist klar: "Finanzieller Erfolg sei das einzige was zählt in Aserbaidschan." Alles andere, auch eine Modernisierung der Gesellschaft, damit einhergehend eine Demokratisierung des politischen Systems, erscheint nachrangig:
    "Sehen Sie sich doch in Baku um. Wie viele teure Autos sehen Sie dort? Wissen Sie, wie viel kontaminierten Erdboden man für den Wert eines solchen teuren Autos reinigen könnte? Aber das passiert schlicht nicht. Es gibt überhaupt kein Problembewusstsein. Diese Einstellung ist ein Problem der gesamten Gesellschaft."
    Seine Kritik zielt mitten hinein ins Herz aserbaidschanischer Wirtschaftspolitik. Die sprudelnden Einnahmen aus dem Erdölgeschäft haben es der Regierung lange Zeit ermöglicht, schwelende Probleme des Landes, wie die unsichere Rechtslage, die mangelnde Pressefreiheit oder den Raubbau an der Natur zu übertünchen und sich dringenden Reformen in diesen Bereichen zu entziehen. Ob die jetzt geplante Modernisierung der Wirtschaft zum Erfolg für das gesamte Land werden kann, wird auch davon abhängen, ob die Regierung bereit ist, auch eine Modernisierung der Gesellschaft zuzulassen.