Ein Hustensaft, der auch beruhigend wirkt: Es war eine vielversprechende Entdeckung, die der Chemiker Felix Hoffmann im Labor der Firma Bayer gemacht hatte. Er hatte Morphin acetyliert, vereinfacht gesagt: mit Essigsäure aufgekocht. Das so entstandene Medikament ließ sich sein Arbeitgeber unter dem Namen „Heroin“ schützen.
Dass Hoffmann heute nicht nur als Erfinder einer gefährlichen Droge gilt, sondern für den Leverkusener Pharmakonzern Bayer eine wichtige historische Persönlichkeit ist, liegt daran, dass der Chemiker auf der Suche nach neuen Medikamenten nicht nur Morphin acetylierte. Am 10. August 1897 notierte er in sein Labortagebuch:
„Läßt man 100,0 Salicylsäure mit 150,0 Acetanhydrid 3 Stunden unter Rückfluss, so ist die Salicylsäure quantitativ acetyliert.“
Schreibt keine Erfolgsgeschichte: Heroin - Mutter des Aspirin
Dieses Laborprotokoll in verschnörkelter Handschrift gehört zu den Kostbarkeiten im historischen Archiv des Pharma- und Chemiekonzerns. Denn anders als beim Heroin war das der Beginn einer sagenhaften Erfolgsgeschichte: Acetylsalicylsäure, kurz ASS, ist der Wirkstoff, den Bayer seit 1899 unter der Marke Aspirin vertreibt. Dass die Salicylsäure beziehungsweise das Salicin, das in Weidenrinde vorkommt, Schmerzen lindert, war bereits seit Jahrhunderten bekannt.
„Allerdings hat die Salicylsäure sehr, sehr deutliche Nebenwirkungen“, sagt Axel Helmstädter, Pharmazie-Historiker an der Universität Marburg. „Also sie ist extrem schleimhautreizend, man muss husten und es kratzt überall, wenn man das einnimmt, auf die Dauer kommt es zu Hörstörungen und dergleichen, zu Magenproblemen, also ein suboptimales Arzneimittel.“
Auch Hoffmanns rheumageplagter Vater soll die Salicylsäure nicht vertragen haben – weshalb der Sohn den Stoff veredeln wollte, so Axel Helmstädter: „Also technisch kocht man das mit konzentrierter Essigsäure, und dann wird aus der Salicylsäure die Acetylsalicylsäure, die viel bessere Eigenschaften hat, vor allem viel weniger Nebenwirkungen.“
Hoffmann - ein geistiger Trittbrettfahrer?
Eine Jahrhundert-Entdeckung: Aspirin sollte zum Inbegriff der Kopfschmerztablette werden. Doch war Felix Hoffmann tatsächlich der Urheber? Dazu Axel Helmstädter: „Felix Hoffmann ist sicher derjenige, der bei Bayer die Synthese durchgeführt hat. Die Frage ist jetzt halt, wo ist der geistige Impetus hergekommen.“
Darüber streiten die Historiker. Denn 50 Jahre nach der Markteinführung von Aspirin reklamierte ein anderer Chemiker die Idee für sich.
Welche Rolle spielte Arthur Eichengrün?
„Hoffmann führte meine chemischen Anordnungen aus, ohne zunächst das Ziel der Arbeit zu kennen.“ Das schrieb Arthur Eichengrün 1949 in der Zeitschrift „Die Pharmazie“. Eichengrün war zur selben Zeit wie Hoffmann im Bayer-Labor beschäftigt. Er war ein erfolgreicher Forscher mit zahlreichen Patenten, doch unter der NS-Diktatur half ihm das nicht mehr: Er hatte jüdische Wurzeln und wurde nach Theresienstadt deportiert. In dem Artikel von 1949 schildert er, dass es Aspirin ohne ihn wohl nie gegeben hätte – weil man bei Bayer zunächst die Sicherheit des Mittels anzweifelte. Er habe selbst hohe Dosen geschluckt, um das Gegenteil zu beweisen:
„Ich konnte an mir keine nachteilige Wirkung, insbesondere weder eine Herzbeschleunigung noch eine Verlangsamung des Herzschlages wahrnehmen.“
Der Bayer-Konzern allerdings hält an Felix Hoffmann als Aspirin-Erfinder fest und verweist auf eine Publikation im eigenen Archiv aus dem Jahr 1918: Darin nennt Eichengrün im Zusammenhang mit der ASS-Entwicklung selbst Felix Hoffmann. Dagegen wiederum steht die Forschung des schottischen Historikers Walter Sneader, der vor mehr als 20 Jahren für Schlagzeilen sorgte, als er Eichengrün als den wahrscheinlichen ASS-Entdecker bezeichnete. „Wer da Recht hat? Ich weiß es nicht“, sagt Axel Helmstädter.
Felix Hoffmann starb 1946, Arthur Eichengrün drei Jahre später. Wie die Acetylsalicylsäure wirkt, fanden Forscher erst Jahrzehnte später heraus. Und auch, dass ASS nicht nur Schmerzen, Entzündungen und Fieber lindert, sondern obendrein das Blut verdünnt – weshalb es auch Herzpatienten verordnet wird.