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Assads Sieg in Syrien
"Das Schlimmste, was passieren konnte"

Der Syrien-Konflikt gilt als größte menschengemachte Katastrophe seit dem Zweiten Weltkrieg. Jetzt scheint sich der Krieg seinem Ende zu nähern - Machthaber Bashar al-Assad und seine Verbündeten Russland und Iran haben militärisch gesiegt und gestalten die Nachkriegsordnung. Was bedeutet das für die Syrer?

Von Kristin Helberg |
    Ein Mädchen läuft im Tareeq Al-bab-Viertel Aleppos durch Trümmer vor Haus, das am Abend zuvor von einem Raketenangriff zerstört wurde. 23. Februar 2013 Foto: Jan A. Nicolas dpa
    Zerstörtes Gebäude im Tareeq Al-bab-Viertel Aleppos. Der syrische Bürgerkrieg scheint entschieden, die Nachkriegsordnung gestalten Assad, Russland, die Türkei und der Iran. (dpa / Jan A. Nicolas)
    Abdallah al-Khatib ist zu Besuch bei seinen Mitstreitern in Berlin: dem Team von Adopt A Revolution. Der deutsch-syrische Verein unterstützte sechs Jahre lang das zivilgesellschaftliche Zentrum Watad, das al-Khatib im Süden von Damaskus leitete: Berufsbildung für Frauen, Unterricht für Kinder, politische Workshops und Gemüseanbau gegen den Hunger. Dass er jetzt in Deutschland ist, gleicht einem Wunder. Denn Abdallah al-Khatib hat so ziemlich alles überlebt, was Syrer in den vergangenen Jahren erleiden mussten: die Fassbomben des Regimes, jahrelange Abriegelung, Anfeindungen islamistischer Milizenführer, die Herrschaft der Terrorgruppe IS, Mordanschläge, die seine Freunde töteten, die Inhaftierung seines Vaters und schließlich die Kapitulation vor dem Regime und seinen Verbündeten. Das war im Juni 2018. Russische Militärs stellten die Bewohner von Süd-Damaskus vor die Wahl: Entweder bleiben und sich dem Regime anschließen oder in den von Rebellen kontrollierten Norden gehen, wo sie das Elend überfüllter Flüchtlingslager und die Ungewissheit erwarteten:
    "Die meisten hatten keine Wahl. Sie blieben, weil die Lage im Norden so katastrophal ist. Die Russen versprachen Sicherheit und dass es keine Verhaftungen geben würde. Junge Männer sollten ihre Papiere mit den syrischen Behörden regeln können und sechs Monate nicht zum Militär müssen. Die Leute dachten, wenn sie freiwillig zum Geheimdienst gehen, sind sie zwei Stunden später wieder zuhause. Aber die Realität sah ganz anders aus."
    "Den Russen geht es um ihre eigenen Interessen"
    Das Regime habe sich an die russischen Vorgaben nicht gebunden gefühlt, berichtet Abdallah al-Khatib. Etwa 150 Männer seien in den Abteilungen der Geheimdienste verschwunden, wer sich daraufhin freiwillig bei der Armee meldete, wurde direkt an die Front geschickt.
    Russische Sukhoi Su-24 auf dem Luftwaffensützpunkt Khmeimim in Syrien
2839869 05/04/2016 Russian Sukhoi Su-24 planes at the Khmeimim airbase in Syria. Maksim Blinov/Sputnik |
    Russische Sukhoi Su-24 auf einem Luftwaffenstützpunkt in Syrien (picture alliance / dpa)
    Die humanitäre Lage sei schlecht, sagt der Aktivist. Viele Straßenzüge seien unbewohnbar, die mehrstöckigen Gebäude zerstört und komplett geplündert. Selbst Stromkabel, Armaturen und Wasserleitungen hätten die Milizionäre des Regimes herausgerissen und mitgenommen. Die russische Militärpolizei habe nichts dagegen unternommen, betont al-Khatib:
    "Den Russen geht es um ihre eigenen Interessen, sie wollen, dass sich die Lage vor Ort beruhigt und der Staat wieder die Kontrolle hat. Einzelheiten sind ihnen egal. Das Regime dagegen braucht die Unterwerfung jedes Einzelnen, egal ob er demonstriert oder gekämpft hat. An den Kontrollstellen werden immer wieder Zivilisten festgenommen. Wenn man das den russischen Soldaten meldet, antworten sie, laut Regime sei die Person ein IS-Anhänger gewesen. Wenn Russland behauptet, in den zurückeroberten Gebieten für Sicherheit zu sorgen, ist das eine Lüge. In Wirklichkeit hat das Regime die volle Kontrolle."
    Al-Khatib selbst floh in den Norden. Doch auch dort war der bekannte Aktivist nicht sicher. Für 1.500 Euro ging es im September 2018 mit Schleppern weiter in die Türkei, drei Monate später erhielt er aufgrund seiner politischen Arbeit Asyl in Deutschland.
    Die Zustände in den von Assad zurückeroberten Regionen sind auch Yara Badr vertraut. Zusammen mit ihrem Mann, dem Rechtsanwalt Mazen Darwich, leitet sie das Syrische Zentrum für Medien und Meinungsfreiheit. Eine von mehreren Nichtregierungsorganisationen, die die Verbrechen in Syrien dokumentieren:
    "Das Hauptproblem ist, dass wir dieser Regierung nicht vertrauen können. Wir können ihr kein Wort glauben. Leute aus Daraya wurden festgenommen und wir wissen nichts von ihnen. Die internationale Gemeinschaft hat beschlossen, das zu ignorieren. Sie will nur eine Lösung für die Geflüchteten und für die Extremisten."
    Syrien als Beute
    Dabei hängt die Rückkehr der Geflüchteten unmittelbar mit den Zuständen im Land zusammen. Und die sind nicht ermutigend. Präsident Bashar al-Assad hat den Krieg militärisch gewonnen und fühlt sich mächtiger denn je. Dabei ist er abhängig von jenen, die ihn an der Macht halten: Russland, Iran, syrischen Milizenführern und Regime-nahen Geschäftsleuten. Diese betrachten Syrien als Beute, die sie jetzt unter sich aufteilen können.
    Ein Syrer mit Folterspuren auf dem Rücken.
    Ein Syrer mit Folterspuren auf dem Rücken. (AFP / James Lawler Duggan )
    Mit Überwachung, Willkür und Folter hält das Regime jeglichen Widerstand in Schach. Ein mafiaähnliches Patronagenetzwerk aus persönlichen Abhängigkeiten und wirtschaftlichen Anreizen sichert Unterstützung. Wer in diesem System überleben will, muss sich unterwerfen. Wer profitieren will, muss Loyalität zeigen. Christoph Reuter, Nahost-Korrespondent des Nachrichtenmagazins "Der Spiegel", kennt die Herrschaftsmethoden der Assads seit zwanzig Jahren:
    "Für Syriens Zukunft als Land, als Volk, ist dieser militärische Sieg von Russlands und Irans Gnaden eigentlich das Schlimmste, was passieren konnte. Niemand wird zur Rechenschaft gezogen. Es kann auch keine Versöhnung geben, weil das Regime weiß, wir leben nur, wir existieren nur weiter, weil die Angst so viel größer ist als jede Unzufriedenheit. Damit wird es keine Aufarbeitung geben, was es geben wird ist Friedhofsruhe für eine begrenzte Zeit."
    "150.000 bis 250.000 Leute sind seit 2011 verhaftet worden"
    Für das Regime sei die Angst vor Verhaftung ein effektives Mittel des Machterhalts, meint Yara Badr vom Zentrum für Medien- und Meinungsfreiheit. Denn in Syriens Haftzentren sterben weiterhin Gefangene an ihren Folterverletzungen, einem unbehandelten Husten, an Erschöpfung und den elenden Haftbedingungen:
    "Wir haben in Syrien ein Sprichwort. Dieses ganze System – Geheimdienste, Haftzentren, Verschwindenlassen – ist dazu da, dass du dich nach dem Tod sehnst, ohne ihn zu bekommen. Ungefähr 150.000 bis 250.000 Leute sind seit 2011 verhaftet worden. Alles Menschen, die Familie haben, Frauen, Brüder, Kinder, Mütter. Das bedeutet, dass mindestens eine Million Syrer auf irgendein gutes Zeichen warten", so Yara Badr.
    Die junge Frau weiß, wie sich das anfühlt. Drei Jahre, fünf Monate und 25 Tage hat sie auf ihren Mann gewartet, immer in Sorge ihn womöglich nie wieder zu sehen. Mazen Darwish wurde mehrfach international ausgezeichnet, er galt als Syriens prominentester politischer Gefangener. Im August 2015 kam er frei, das Ehepaar erhielt Asyl in Deutschland.
    Hier kämpfen die beiden für Gerechtigkeit. Zusammen mit anderen syrischen Anwälten, Zeugen und Opfern haben sie Anzeige gegen hochrangige Vertreter des Regimes bei der Bundesanwaltschaft in Karlsruhe gestellt:
    "Eine Lösung ohne Gerechtigkeit, ohne eine Aufarbeitung der Verbrechen, ohne Meinungsfreiheit wird zu einer Pseudo-Stabilität führen. Davor haben wir Angst. Deshalb versuchen wir, die internationale Strafverfolgung von Verbrechen voranzutreiben und dieses Fenster zu nutzen, das Deutschland geöffnet hat. Das ist großartig", sagt Yara Badr.
    Internationale Strafverfolgung von Verbrechen
    Nach dem so genannten Weltrechtsprinzip können Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen, die in Syrien begangen wurden, vor deutschen Gerichten geahndet werden. Karlsruhe ermittelt gegen mehrere Führungskräfte in Assads Sicherheitsapparat, die für Misshandlung und Folter von Gefangenen verantwortlich sein sollen. Im Juni 2018 erließ die Bundesanwaltschaft den ersten internationalen Haftbefehl - gegen Jamil Hassan, den Chef des berüchtigten Luftwaffengeheimdienstes.
    Dadurch erfüllt die juristische Verfolgung von Verbrechen auch einen politischen Zweck: Sie erschwert eine Normalisierung der Beziehungen mit dem syrischen Regime. Während erste arabische Staaten ihre Botschaften in Damaskus wiedereröffnen und die Arabische Liga über eine Wiederaufnahme Syriens diskutiert, ist Europa im Umgang mit Damaskus gespalten. Verschiedene osteuropäische Länder und die von rechtsnationalen Parteien dominierten Regierungen in Italien und Österreich plädieren für Annäherung, die anderen bestehen auf Isolation, solange kein politischer Übergang in Sicht ist.
    Europas Dilemma
    Europa steckt in einem Dilemma. Mehr als eine Million Syrer sind seit 2011 in die EU gekommen, Diskussionen über Geflüchtete haben die Gesellschaften gespalten und das politische Klima vergiftet. Deshalb sollen die Syrer so bald wie möglich in ihre Heimat zurückkehren, und dafür müssen sich die Lebensbedingungen vor Ort verbessern. Gleichzeitig will man mit Geldern für den Wiederaufbau nicht das Regime belohnen.
    Viele Gebäude in der Region Ost-Ghouta sind vollkommen zerstört. Ein Kind geht durch eine Straßenflucht aus Trümmern in der Stadt Douma in Ost-Ghouta. 
    Viele Gebäude in Syrien sind vollkommen zerstört: Ein Kind in der Stadt Douma in Ost-Ghouta. (AFP/Hamza Al-Ajweh)
    Dabei gehe es weniger um Moral als um Interessen, sagt der Politikwissenschaftler Joseph Daher von der Universität Lausanne. Seinen Untersuchungen zufolge verhindert der juristische, politische und wirtschaftliche Rahmen des syrischen Wiederaufbaus die Rückkehr von Geflüchteten:
    "Russland sagt "wollt ihr, dass die Geflüchteten zurückkehren? Dann investiert und normalisiert eure Beziehungen zu der Regierung". Aber so sollte es nicht laufen. Denn für diejenigen, die zurück wollen, geht es nicht nur um Investitionen, sondern um Sicherheit."
    Seit 2012 hat Assad mehrere Dekrete erlassen. Demnach können Häuser, Wohnungen und Grundstücke, deren Besitzer nicht innerhalb eines Jahres Nachweise einreichen, versteigert oder beschlagnahmt werden. Wo immer der Abriss begonnen hat, entstehen moderne Luxusviertel wie "Marota City" im Südwesten von Damaskus. Für die ursprünglichen Bewohner sei dort kein Platz mehr, meint Politologe Daher. Sie würden - wenn überhaupt - mit lächerlichen Summen entschädigt, faktisch aber enteignet und dauerhaft vertrieben:
    "Der Wiederaufbau ist eines der wichtigsten Instrumente des Regimes, um die eigene Macht zu festigen – politisch, wirtschaftlich und militärisch. Dazu werden große Wiederaufbauprojekte wie Marota City an Geschäftsleute vergeben, die dem Regime nahestehen. Außerdem kann das Regime mit Hilfe verschiedener Gesetze im Bereich Eigentum und Wohnungsbau die Bewohner von rebellischen Gegenden bestrafen und dadurch Widerspruch in anderen Gebieten kontrollieren."
    Humanitäre Hilfe festigt Assads Macht
    Wie also kann man den Syrern helfen ohne das Regime zu stärken? Die bittere Antwort lautet: Es geht nicht. Denn sämtliche Strukturen – Schulen und Krankenhäuser, Verwaltung und Justiz, Strom- und Wasserversorgung – sind von Assads Machtapparat vereinnahmt. Jeder Euro, den Europa für das Dach einer Schule nach Damaskus überweist, festigt seine Herrschaft. Und damit jene Zustände, die vor acht Jahren zum Aufstand geführt haben.
    In einer Mischung aus Hilflosigkeit und Ignoranz wählen europäische Regierungen einen eleganten Umweg: die Vereinten Nationen. Kein Land überweist den UN so viel Geld für Syrien wie Deutschland. Die Bundesrepublik ist der größte einzelne Geber humanitärer Hilfe. Dabei kümmert sich Berlin nicht wirklich darum, was mit den Milliarden passiert. Und die UN-Organisationen vor Ort setzen in der Regel die Pläne des Regimes um. Das kritisiert Alhakam Shaar, Stipendiat beim "Aleppo Projekt" der Central European University Budapest:
    "Was die Unterorganisationen der UN vor Ort machen, sieht schön aus, aber in Wirklichkeit entlasten sie bedingungslos das Regime, das dadurch mehr Geld für das Militär ausgeben kann. Seit Jahren ernähren die Vereinten Nationen die Menschen nur dort, wo es Damaskus erlaubt. Wenn sie Syrer in Rebellengebieten erreichen wollten, wurden sie vom Regime daran gehindert. Inzwischen werden mit UN-Geldern Wohnungen renoviert und öffentliche Einrichtungen rehabilitiert. Das Regime zerstört, die UN bauen auf – das ist für Damaskus eine traumhafte Situation. Die UN spielen einfach mit. Dabei sollte ihr Engagement mit einer politischen Lösung einhergehen und zuallererst den Syrern helfen, die am meisten leiden. Es sollte nicht das Regime stärken."
    USA ohne Strategie und Plan
    An eine politische Lösung glaubt indes niemand mehr, der Krieg ist militärisch entschieden. Alles, worum es jetzt noch geht, ist Einfluss auf die Nachkriegsordnung. Die wird Russland diktieren und Iran langfristig dominieren. Die USA lavieren ohne Strategie und Plan, die Europäer erweisen sich seit Jahren als handlungsunfähig. Und die Türkei bemüht sich um eine Kontrolle des Nordens entlang der eigenen Grenze.
    Dabei geht es Ankara vor allem um die Vertreibung der kurdischen PYD, der Partei der Demokratischen Union und deren Volksverteidigungseinheiten, die den Nordosten Syriens weitgehend autonom regieren. Aufgrund ihrer Nähe zur PKK gelten sie der Türkei als Terroristen, für den Westen sind sie seit 2014 die wichtigsten Verbündeten im Kampf gegen den IS. Nach dem angekündigten Truppenabzug der USA fürchten Syriens Kurden jetzt eine Offensive der Türkei.
    Da sich alle Welt mit Assads Herrschaft abgefunden habe, bleibe den Kurden nichts anderes übrig als mit dem Regime zu kooperieren, sagt Veysi Dag, Politologe und wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität Berlin:
    "Von Amerikanern, von Großbritannien, von Russen – die Kurden wurden immer verraten, und deswegen ist das auch eine sehr bittere Erfahrung, die die Kurden haben. Und deswegen finde ich wichtig, dass sie sich aus taktischer Sicht Akteure aussuchen, mit denen sie arbeiten können. Und die syrische Armee kommt jetzt in Frage, weil sie zuständig sind. Wenn selbst die Amerikaner, die amerikanische Regierung, deutsche Regierung, die ganzen Regierungen verstanden haben, dass das Regime bleiben wird. Die Kurden müssen mit anderen kooperieren, um sich zu schützen."
    Der Panzer und ein Motorrad stehen auf einer schlammigen braunen Fläche. Auf dem Panzer stehen zwei Soldaten. Im Hintergrund das Panorama der Stadt.
    Ein Panzer der syrischen Armee steht in einer Stellung nahe der der nordsyrischen Stadt Manbidsch. (XinHua / dpa )
    Auf Bitten der PYD könnte Assad seine Truppen entlang der Grenze zur Türkei stationieren. Nebenbei vermittelt Russland ein Abkommen zwischen den Kurden und dem Regime. Schritt für Schritt würde Assad die Kontrolle über die Kurdenregion zurückgewinnen, immerhin ein Viertel des syrischen Staatsgebietes. Damit könnte sich auch Präsident Erdogan arrangieren: Besser die Truppen des Regimes an der Grenze, als die Waffenbrüder der PKK, so die Logik in Ankara. Erst recht wenn Moskau verspricht, dass Assad eine kurdische Autonomie nachhaltig verhindern wird.
    Der Rückzug der USA macht den Weg frei für die Pläne des russischen Präsidenten. Das Regime soll die Kontrolle über das gesamte Staatsgebiet zurückgewinnen und international als legitimer Vertreter Syriens anerkannt werden. Dann würden zunächst die Golfstaaten und irgendwann auch der Westen den Wiederaufbau finanzieren, von dem Assads Günstlinge sowie russische Firmen und Irans Revolutionsgarden profitierten, so Putins Hoffnung. Moskau würde sich die lukrativen Phosphatminen und die eher bescheidenen Erdöl- und Erdgasvorkommen des Landes sichern. Dafür darf Assad mit seinen Untertanen machen, was er will.
    Idlib – letzte Bastion der Assad-Gegner
    Das einzige Puzzleteil, das noch fehlt, ist Idlib im Nordwesten des Landes – letzte Bastion der Assad-Gegner. Seit Anfang des Jahres hat das Al Qaida-nahe Bündnis HTS fast die gesamte Provinz eingenommen. Die verschiedenen von der Türkei unterstützten Rebellengruppen hatten diesem Siegeszug nichts entgegenzusetzen. Wurden sie von Ankara verraten? Hat Erdogan Idlib den Dschihadisten überlassen, sodass Damaskus und Moskau die Provinz unter dem Vorwand der Terror-bekämpfung zurückerobern können? Und was hat er dafür bekommen? Grünes Licht für seine eigene Offensive gegen die Kurden im Osten? Oder nur Sicherheiten für die türkischen Protektorate in Afrin und nördlich von Aleppo? Aktivist Abdallah al-Khatib hält einen solchen Deal für möglich:
    "In Syrien werden nur noch Interessen verhandelt. Für die Türkei ist das Gebiet östlich des Euphrats wichtiger als Idlib. Wenn sie Idlib verliert ist das egal, denn die Provinz ist sunnitisch geprägt und stellt keine Bedrohung für die Türkei dar. Ankara könnte die Grenzübergänge auch mit dem Regime kontrollieren. Aber die Kurdengebiete brauchen sie unbedingt."
    Wladimir Putin (l-r), Präsident von Russland, Hassan Rouhani, Präsident des Iran und Recep Tayyip Erdogan, Präsident der Türkei, stehen vor ihrem Gespräch im Rahmen des Syrien-Gipfels in der iranischen Hauptstadt nebeneinander.
    Putin, Ruhani und Erdogan sind seit Jahren in den Syrien-Konflikt involviert. (Iranian Presidency office)
    Fest stehen nur die Verlierer: zwei Millionen Menschen in Idlib, die weder von Dschihadisten noch vom Regime drangsaliert werden wollen, und der zivile Widerstand. Wer in Idlib Frauenzentren, Radiostationen, Schulen oder Kindergärten betreibt, wird irgendwann fliehen müssen. Dann bleibt nur die Hoffnung, dass Länder wie Deutschland, die diese Strukturen jahrelang unterstützt haben, ihren Partnern Asyl gewähren. Wie im Fall von Abdallah al-Khatib. Die syrische Revolution sei gescheitert, sagt der 30-Jährige, auch weil die Gesellschaft noch nicht reif war. Jetzt müsse jeder Einzelne an sich selbst arbeiten:
    "Für mich ging es bei der Revolution nicht einfach um den Sturz des Regimes, sondern darum, das Verständnis der Gesellschaft zu verändern. Und das ist der schwierige und komplizierte Teil, der viel Zeit braucht. Denn die Demokratie fällt nicht vom Himmel. Wir wachen nicht plötzlich als Demokraten auf und gehen wählen. Wenn du wählen gehen willst, musst du bei dir zu Hause anfangen mit der Gleichberechtigung. Du musst deinem Sohn und deiner Tochter Freiheit geben, deine Lebensweise und Erziehung ändern. Es geht darum, wie du dich in deinem Umfeld verhältst."