Archiv

Assyrische Interessenvertretung gegründet
Verbund eines vertriebenen Volkes

Schon seit einem Jahrhundert ist die christliche Minderheit der Assyrer auf dem Rückzug aus ihrem historischen Siedlungsgebiet in der Türkei, Syrien, Iran und Irak. Viele leben in Europa - an eine Rückkehr in ihre Heimat glauben die wenigsten. Um ihre Interessen besser zu vertreten, haben sie eine Föderation der Assyrer in Europa gegründet.

Von Susanne Güsten |
    Ein zerstörtes Haus in Mossul nach einem Bombenanschlag.
    Die irakische Armee hat einen Großangriff auf die IS-Hochburg Mossul gestartet. Für die meisten Assyrer kommt der Gegenangriff zu spät, sie sind bereits vertrieben worden. (dpa / Mohammed Al-Mosuli)
    29 Jahre alt ist Mardean Isaac, und bis vor zwei Jahren lebte er unbeschwert, studierte in Cambridge und Oxford und schrieb an einem Roman. Für die Heimat seiner assyrischen Eltern in Iran und Irak interessierte sich der junge Brite nur am Rande – bis der Islamische Staat im Sommer 2014 in Mossul einmarschierte und die Assyrer um ihr Leben liefen. Seither hat Mardean Isaac keine Zeile mehr an seinem Roman geschrieben.
    "Ich kann mit Worten nicht ausdrücken, wie tief die Eroberung von Mossul mich getroffen hat. Dieses Ereignis hat mein Gehirn umgepolt, es hat mein Denken verändert. Ich war überwältigt und konnte nicht mehr aufhören, darüber nachzudenken."
    Eine unpolitische Jugend wird politisch
    Wie Mardean Isaac ging es tausenden jungen Assyrern in ganz Europa – einer ganzen Generation von jungen Christen, deren Eltern in den letzten Jahrzehnten aus der Türkei und zuletzt aus dem Irak und Syrien in den Westen geflohen waren. Der Sturm auf Mossul trieb die bis dahin weitgehend unpolitische assyrische Jugend über Nacht auf die Straßen ihrer europäischen Städte, um gegen die Vertreibung ihrer Landsleute aus der Heimat zu protestieren. Mardean Isaac hat sich seither vollständig der Sache seines Volkes verschrieben und engagiert sich für einen Zusammenschluss der Assyrer im Exil:
    "Wir müssen unsere Selbsthilfe ausbauen – da haben wir bisher völlig versagt im Vergleich zu anderen Nationen in vergleichbarer Lage, etwa den Kurden, Armeniern oder Juden. Die PKK ist ein Beispiel für eine erfolgreiche transnationale Organisation; auch die Armenier und die Juden haben sich selbst organisiert und geholfen. Wir müssen uns an ihnen orientieren und ihnen nacheifern."
    Die assyrischen Verbände der einzelnen europäischen Staaten haben sich jetzt zur "Föderation der Assyrer in Europa" zusammengeschlossen. Sie verfolgen damit zwei Ziele: Den Assyrern zu helfen, die im Nahen Osten verblieben sind, und in der Diaspora dafür zu sorgen, dass die assyrische Kultur und aramäische Sprache erhalten bleiben. Mardean Isaac ist das zu wenig:
    "Es gibt keine Sprache ohne Land, keine Kultur ohne Land – beide erwachsen aus dem Boden und können ohne den Boden nicht überleben. Wir müssen daher den verbliebenen Assyrern im Nahen Osten helfen, dort bleiben zu können, und wir müssen auch die assyrische Kultur in der Diaspora erhalten, aber das ist nicht alles. Wir müssen auch der Tatsache Rechnung tragen, dass wir eine globale Nation geworden sind. Wir brauchen eine nicht-territoriale Souveränität - diese Idee ist notwendig für unser Überleben."
    "Die Werte der Europäer sind besser für uns"
    Mardean Isaac ist unter den assyrischen Intellektuellen, die von der Tagung damit beauftragt wurden, über Wege zur Konstituierung einer Assyrischen Nation in der Diaspora nachzudenken. Ein weiterer Vordenker, der dem Rat angehören soll, ist Efrem Yildiz, assyrischer Professor für semitische Sprachen an der Universität Salamanca in Spanien. Im Südosten der Türkei geboren, lebt Yildiz seit seinem dreizehnten Lebensjahr in Europa, hat in Deutschland, Italien und Frankreich studiert, bevor er nach Spanien kam. In gewissem Sinne ist die Identität der Assyrer auch eine europäische Idee, sagt Yildiz:
    "Wir verdanken die Herausbildung unserer nationalen Identität dem Westen. Ich selbst habe meine Wurzeln auch erst in der westlichen Welt entdeckt. Daheim wusste ich nur, dass ich der Kirche angehöre, dass ich Christ bin. Im Nahen Osten definiert man sich nicht über Nation oder Volk, man definiert sich über die religiösen Unterschiede. Du bist Muslim, ich bin Christ – das ist es, was mich von den anderen unterscheidet, von den Arabern, den Kurden, den Türken. Erst als ich in den Westen kam, habe ich entdeckt, wer ich bin. Europa hat mir diese Identität ermöglicht."
    Kein Zufall sei es deshalb, dass die Assyrer in Europa zu neuem Selbstbewusstsein finden, und nicht in Amerika oder Australien, wo es auch eine bedeutende assyrische Diaspora gibt, meint Yildiz – und Mardean Isaac stimmt ihm da zu:
    "Wir Assyrer in Europa werden in Länder hineingeboren, die sich ihrer eigenen Fehlbarkeit und ihrer qualvollen Geschichte bewusst sind und dadurch mehr Verständnis für unser Leid aufbringen – anders als etwa Amerika, das alles Vergangene auslöscht, oder Australien, das sich als leere Leinwand sieht. Die Werte der Europäer sind da besser für uns."