Der Damm droht zu brechen. Der Damm des Rechts, der Europas Bürger vor politischer Willkür schützt, und der das Zusammenleben von 27 Nationen als Rechtsgemeinschaft erst ermöglicht. Und unten, am Fuß dieses Damms, da steht Friedrich Merz, der CDU-Chef, mit dem Spaten in der Hand. Und gräbt. Um der Flut den Weg zu bahnen. Die Flut soll die AfD wegschwemmen, sagt er. Aber man darf getrost unterstellen, dass er auf der Welle, die durch den Damm zu brechen droht, vor allem ins Kanzleramt reiten will. Mag sein, dass ihm das gelingt. Die Kollateralschäden in Europa wären aber verheerend.
Merz will – und längst spielt nicht mehr nur die Union mit diesem Gedanken – an den deutschen Grenzen pauschal alle Asylbewerber abweisen. Und weil dies auf der Grundlage geltenden EU-Rechts nicht möglich ist, will Merz einen nationalen Notstand geltend machen. Dieser Notstand, so seine Argumentation mit Blick auf einen schmalbrüstigen Artikel im EU-Vertrag, erlaube es Deutschland, EU-Recht im Interesse der inneren Sicherheit zu brechen.
Was am Merz-Vorschlag perfide ist
Die Mehrheit der Rechtskundigen ist sicher, dass Merz' Argumentation vor dem Europäischen Gerichtshof scheitern würde. Weil dieser Ansatz von den Luxemburger Richtern schon mehrfach zurückgewiesen worden ist. Und die EU-Kommission weist schon einmal darauf hin, dass auch dieser vermeintliche Notstandsparagraph 72 des EU-Vertrags die Mitgliedstaaten an die Einhaltung europäischer Gesetze bindet.
Das Perfide an Merz‘ Vorschlag ist aber: Ihm ist das Einerlei, er will Fakten schaffen, bevor irgendein Richter irgendwann über die Rechtsförmigkeit der geplanten Zurückweisungen urteilt. Merz und der Union geht es um das „Signal“, das von den Zurückweisungen ausgeht. Um das weithin sichtbare Zeichen, dass Deutschlands Grenzen dicht sind, es sich also nicht mehr lohnt, sich als Migrant hierher auf den Weg zu machen. Ein Signal, dass nicht nur Asylbewerber, sondern auch Wutbürger stoppen soll, die ja – nach den Worten von FDP-Chef Lindner – die Schnauze voll haben.
Herbert Kickl, Chef der rechtsextremen FPÖ in Österreich, hat Merz für seinen Vorstoß umgehend gelobt. Und auch er hat deutlich gemacht, dass ihm geltendes Recht völlig gleichgültig ist. Wir machen das einfach, hat er gesagt. Ganz ähnlich Geert Wilders, der Islamhasser und starke Mann hinter der niederländischen Regierung. Er peilt an, völlig unabhängig von geltendem Recht, aus der europäischen Asylpolitik auszusteigen. Und selbst Frankreichs neuer Premier Michel Barnier hat ja schon versprochen – Recht hin oder her – die Grenzen des Landes für alle Migranten zu schließen.
Europäisches Recht nur achten, wenn es nützlich ist?
Die Neigung von Rechtsextremen, Recht und Gesetz zu verachten, die kann nicht überraschen. Aber dass Politiker der Mitte wie Barnier und Merz offensichtlich mittlerweile ein taktisches Verhältnis zum Gemeinschaftsrecht pflegen, das bereitet Sorgen. Im politischen Erfolgsfall haben wir es dann mit nationalen Regierungen zu tun, die das europäisches Recht nur noch achten, wenn es ihnen nützlich ist. Und sich darüber hinwegsetzen, wenn sie glauben, dass es nötig sei.
Von Kickl und Wilders würde man es nicht anders erwarten. Aber von Merz? Folgt Deutschland seinem Notstands-Argument, obwohl der EuGH ähnliche Ansinnen schon mehrfach zurückgewiesen hat, dann wäre damit in Europa ein Präzedenzfall geschaffen. Denn was der größte Mitgliedstaat tut, das findet in der EU immer Nachahmer. Im Guten wie im Schlechten. Sich auf einen vermeintlichen nationalen Notstand zu berufen, um gemeinsames Recht zu ignorieren, dieses Verfahren würde dann wohl in Serie gehen.
Redlicher wäre es, jenes gemeinsame Asylrecht, auf das sich die Mitgliedstaaten nach jahrelangen Verhandlungen gerade erst geeinigt haben, zügig umzusetzen. Schutzbedürftige von Arbeitsmigranten zu trennen, ersteren Asyl zu garantieren, letzteren legale Wege der Einwanderung zu öffnen und so die Kontrolle über die Außengrenzen zurückzuerlangen. Auch das wäre ein Signal. Nämlich, dass die EU als Rechtsgemeinschaft handlungsfähig ist.
Peter Kapern, geboren 1962 in Hamm, Westfalen. Studium der Politikwissenschaften, der Philosophie und der Soziologie in Münster. Volontariat beim Deutschlandfunk. Moderator der Informationssendungen des Dlf, 2007 bis 2010 Leiter der Redaktion Innenpolitik, Korrespondent in Düsseldorf, Tel Aviv und Brüssel.