Endlich kann Amela Prakovnik darüber sprechen – auch wenn sie im Radio nicht unter ihrem wahren Namen auftreten will. Aber – und das ist für sie entscheidend - sie kann ihre Gefühle, das Unglück in Worte fassen. Vor fünf Jahren, im bosnischen Tuzla, vor den Ärzten im Krankenhaus, gelang ihr das noch nicht:
"Ich habe gemerkt, dass es mir schlecht geht. Dass ich abgelenkt bin oder dass ich das Gefühl hatte, ich bin irgendwo anders. Dann bin ich zum Arzt gegangen. Und der hat gesagt: Das ist normal. Wir sind alle so hier."
Die Ärzte schickten Amela Prakovnik nach Hause. Zu ihrem Mann und den beiden kleinen Kindern. Doch den Tod ihrer erstgeborenen Tochter, sie wurde nur 13 Monate alt, hatte Amela Prakovnik damals noch längst nicht verwunden.
"Und irgendwann in der Nacht wurde der jüngste Sohn krank. Ich war allein mit ihm und er ist aufgewacht. Und er hatte Fieber und fing an zu weinen. Und dann habe ich ihn nicht mehr gesehen, sondern halt meine Tochter, die gestorben ist. Da hat es angefangen."
Die Halluzinationen und die Vorstellung, ihr totes Kind sei noch am Leben, hielten an. Die Ärzte im Krankenhaus nahmen sie nicht ernst. 2013 entschied sie sich deshalb, zusammen mit ihrem Mann, nach Deutschland zu gehen. In Deutschland diagnostizierten die Ärzte bei Amela Prakovnik "PTBS", eine posttraumatische Belastungsstörung, ein "dissoziatives Syndrom" und eine "depressive Episode".
Olaf Scholz war an der Ausarbeitung maßgeblich beteiligt
Menschen wie Amela Prakovnik würde in Zukunft nicht mehr geholfen. Sie würden, wenn das Asylpaket II in Kraft tritt, schnell abgeschoben. So jedenfalls sieht es Insa Graefe von der kirchlichen Beratungsstelle "Fluchtpunkt" im Hamburger Schanzenviertel:
"Gerade bei ihr wäre das verheerend gewesen, wenn die Gesetzeslage so schon gewesen wäre. Weil es dort so war, dass wir sie hier vorgefunden haben und sie wirklich völlig fertig war. Und gesagt hat, sie hört Stimmen, völlig desorientiert war. Und wir haben gemerkt, da gibt es einen riesigen Bedarf. Dann hat es ziemlich lange gedauert, bis wir sie überhaupt behandelt bekommen haben. Sie ist dann ja irgendwann im Rahmen der Notaufnahme stationär aufgenommen worden."
Bis die Ärzte eine klare Diagnose stellen konnten, vergingen Monate. Amela Prakovnik wurde stationär behandelt, ein halbes Jahre lang nahm sie Tabletten, um ihre Krankheit in den Griff zu bekommen.
Nach Inkrafttreten des Asylpakets II werden Menschen wie Amela Prakovnik kaum noch Chancen haben, in Deutschland bleiben zu dürfen. Mittlerweile wurden die Länder des Westbalkans zu sicheren Herkunftsstaaten erklärt, darunter auch Bosnien. Ob Flüchtlinge von dort hierzulande eine Bleibeperspektive haben, soll in Zukunft in einem Schnellverfahren innerhalb einer Woche entschieden werden. Wird der Asylantrag abgelehnt, müssen Flüchtlinge - wenn gesundheitliche Gründe gegen eine Ausreise sprechen - umfangreiche ärztliche Atteste bei den Ausländerbehörden vorlegen – und zwar unverzüglich, spätestens aber nach zwei Wochen. Zu spät eingereichte Atteste werden nicht mehr akzeptiert.
Nicht verschärft, sondern "präzisiert" wurden die Anforderungen an ärztliche Atteste, sagt Hamburgs Erster Bürgermeister Olaf Scholz. Er war an der Ausarbeitung der neuen Regeln maßgeblich beteiligt.
"Da haben wir bisher praktisch keine Rechtslage, die sich aus Gesetzen ergibt. Und insofern hat sich eine sehr unterschiedliche Praxis eingeschlichen - unterstützt von einzelnen Gerichtsentscheidungen und Vermutungen darüber, wie alles wohl so ist - die dazu geführt hat, dass die Zahl derjenigen, die aus medizinischen Gründen nicht abgeschoben werden können, sehr hoch ist. Manche offenbaren ihre medizinischen Gründe auch erst praktisch am Abreisetag. Mit den voraussehbaren Folgen."
In diesen Fällen müssen die Mitarbeiter der Ausländerbehörde, oft in Begleitung von Polizeibeamten, wieder abziehen. Die Abschiebung fällt dann aus, die schon georderten Flugtickets verfallen. Allein in Hamburg, so Olaf Scholz, können 1.600 Menschen aus medizinischen Gründen nicht abgeschoben werden. Offiziell bestätigen will das die Hamburger Ausländerbehörde auf Nachfrage jedoch nicht. Das Wort "Missbrauch" vermeidet der Sozialdemokrat in diesem Zusammenhang zwar. Aber, so Olaf Scholz, diese Zahlen seien in Zeiten der Flüchtlingskrise nicht akzeptabel.
"Jetzt, glaube ich, müssten wir gemeinsam wollen, dass niemand mit einem Trick durchkommt. Sondern nur diejenigen hier bleiben können, die die Gründe vortragen können und plausibel machen können, die wir gesetzlich niedergelegt haben."
Die Große Koalition in Berlin hat den Ball, den Hamburgs Bürgermeister Olaf Scholz ins Rollen gebracht hat, dankbar aufgenommen.
Koalition will verhindern, dass Ärzte Gefälligkeitsgutachten erstellen
Das Ziel: Künftig sollen mehr abgelehnte Asylbewerber auch tatsächlich in ihre Heimat abgeschoben werden. Bislang entzögen sich zu viele Flüchtlinge durch ärztliche Atteste der Rückführung in die Heimat und damit müsse Schluss sein, argumentiert Stephan Mayer, der innenpolitische Sprecher von CDU und CSU im Bundestag.
"Derzeit ist es so, dass in der Praxis gesundheitliche Gründe mit das Hauptabschiebungshindernis Nummer eins sind. Deshalb ist es richtig, dass sich die Große Koalition verständigt hat, die Anforderungen an die Reiseunfähigkeit deutlich zu erhöhen."
Unionspolitiker Mayer zufolge lädt die bisherige Praxis zu Missbrauch ein:
"Die Erfahrung zeigt, dass häufig sehr schnell die Reiseunfähigkeit attestiert wird oder auch darauf hingewiesen wird, dass eine ausreichende medizinische Versorgung im Heimatland nicht erfolgen kann."
Wie viele ausreisepflichtige Flüchtlinge sich durch ein ärztliches Attest einer Abschiebung entziehen, ist allerdings unklar. Bundesweite Zahlen über medizinisch begründete Abschiebehindernisse werden erst seit November 2015 erhoben. Das Ergebnis: Laut Ausländerzentralregister erhielten seitdem 70 Flüchtlinge aus gesundheitlichen Gründen eine Duldung.
Auch der Blick in die Bundesländer schafft kein klareres Bild. Anfragen in Nordrhein-Westfalen, Mecklenburg-Vorpommern und Hessen ergaben: Auch die Landesregierungen wissen nicht, wie viele Abschiebungen aus medizinischen Gründen ausgesetzt werden. Das bayerische Innenministerium immerhin teilt auf Anfrage mit: Im vergangenen Jahr seien 180 Abschiebungen aus gesundheitlichen Gründen aufgehoben worden. Klingt nicht dramatisch, bei bundesweit 201.402 ausreisepflichtigen Flüchtlingen. Burkhard Lischka, der innenpolitische Sprecher der SPD, sieht dennoch Handlungsbedarf:
"Alle Praktiker, mit denen ich gesprochen habe, haben mir bestätigt, dass in einer überwiegenden Zahl vor Abschiebungen Atteste vorgelegt werden. Sehr häufig Atteste von den gleichen Ärzten, sehr häufig Atteste, die kaum aussagefähig sind, die eine Bemerkung nur enthalten, jemand ist reiseunfähig, oder leidet an einer posttraumatischen Störung. Und da halte ich es persönlich für richtig, wenn wir Kriterien aufstellen, wie ein Attest auszusehen hat, dass es die Krankheit beschreibt, die Schwere der Krankheit."
So will die Große Koalition verhindern, dass Ärzte gewissermaßen Gefälligkeitsgutachten für Flüchtlinge erstellen und damit eine Abschiebung verhindern. Flüchtlinge sollen künftig nur noch dann in Deutschland bleiben dürfen, wenn eine lebensbedrohliche Krankheit nachgewiesen wird, die sich durch die Abschiebung in das Heimatland noch verschlechtern würde. Der CSU-Politiker Stephan Mayer:
"Wir haben hier in der Vergangenheit gesehen, dass die Hürden hier zu niedrig liegen, wenn es darum geht, die Reiseunfähigkeit zu attestieren. Wir müssen hier, auch was die Anforderungen an die Atteste angeht, eine erhöhte Begründungspflicht auferlegen. Und das wird mit dem Gesetzespaket jetzt im Rahmen des Asylpakets II erfolgen."
Insa Graefe von der Hamburger Beratungsstelle "Fluchtpunkt" hält diese Argumente für wenig überzeugend. Sie bezweifelt, dass es tatsächlich einen Missbrauch von ärztlichen Attesten in einem nennenswerten Umfang gibt:
"Wenn jemand nicht wirklich krank ist, dann kriegt der einen Zweizeiler! Wo irgendein merkwürdiger Arzt - es gibt solche Ärzte bestimmt! - geschrieben hat: "Hier liegt eine Posttraumatische Belastungsstörung vor!" oder "Hier ist jemand depressiv!" Diese Atteste wurden noch nie beachtet. Zu einem gewissen Grade zu Recht nicht! Es musste schon immer sehr fundiert sein, der Vortrag, damit er überhaupt beachtet wurde."
Auch Ärzte und Psychotherapeuten sind empört über die Vorwürfe, sie würden ohne triftigen Grund per Attest Abschiebungen verhindern. Wulf Dietrich vom Verein demokratischer Ärztinnen und Ärzte:
"Das ist eine unverschämte Unterstellung, die die Kollegenschaft diffamiert. Ich denke, dass bisher sehr differenzierte Gutachten erstellt worden sind."
Die Landesärztekammer in Baden-Württemberg hat schon vor Jahren Qualitätsstandards formuliert, wie ärztliche Atteste für Flüchtlinge auszusehen haben. Sie hat zudem Ärzte gezielt fortgebildet, damit sie für Ausländerbehörden gutachterlich tätig werden können. Doch die wurden bisher fast nie nachgefragt, klagt Ulrich Clever, Chef der Landesärztekammer Baden-Württemberg. Die Behörden seien an fundierten Einschätzungen gar nicht interessiert, so sein Vorwurf. Immer häufiger würden ärztliche Atteste auch schlicht ignoriert:
"Der Druck auf die Ausländerbehörden in den Kommunen ist sehr gestiegen, Abschiebungen schneller und in größerer Zahl möglich zu machen. Die Sorge ist, dass noch weniger Gutachten angefordert werden und dass damit natürlich übersehen werden soll, dass Abschiebehindernisse vorliegen."
Zu diesen "Abschiebehindernissen" zählten bislang auch psychische Erkrankungen wie etwa posttraumatische Belastungsstörungen. Diese sollen jedoch in Zukunft so nicht mehr anerkannt werden. Im aktuellen Gesetzentwurf heißt es dazu:
"Nach den Erkenntnissen der Praktiker werden insbesondere schwer diagnostizier- und überprüfbare Erkrankungen psychischer Art (zum Beispiel Posttraumatische Belastungsstörungen [PTBS]) sehr häufig als Abschiebehindernis (...) geltend gemacht, was in der Praxis zwangsläufig zu deutlichen zeitlichen Verzögerungen bei der Abschiebung führt. Der Gesetzgeber geht nunmehr davon aus, dass (...) in Fällen einer PTBS (...) die Abschiebung regelmäßig möglich [ist (Anm. d. Red.)], es sei denn, die Abschiebung führt zu einer wesentlichen Gesundheitsgefährdung bis hin zu einer Selbstgefährdung."
Ärzte und Psychotherapeuten, Wohlfahrtsverbände und Flüchtlingsorganisationen halten das für nicht akzeptabel. Auch die Opposition im Bundestag macht mobil gegen die verschärften Abschieberegelungen. Harald Weinberg von der Linkspartei:
Ärzte, Therapeuten und Psychologen laufen Sturm gegen den Gesetzentwurf
"Das ist sowohl unter Menschenrechtsgesichtspunkten, unter Asylrechtsgesichtspunkten und unter medizinischen Gesichtspunkten katastrophal. Weil es im Prinzip dazu führt, dass kranke Menschen trotz ihrer Krankheit, trotz unter Umständen schwerster traumatischer Störungen abgeschoben werden und damit auch Gefahr für Leib und Leben in dem Land, in das sie abgeschoben werden, entsteht."
Viele Flüchtlinge haben Terror und Gewalt erlebt, Frauen wurden vergewaltigt und misshandelt, sind traumatisiert. Ein Abschiebehindernis ist das künftig nicht mehr, es sei denn, Ärzte attestieren akute Gefahr für Leib und Leben. Maria Klein-Schmeink von den Grünen:
"Ich halte das für katastrophal, man muss sich nur vorstellen, was das bedeutet, bei einigen afrikanischen Ländern, wo es die Debatte gibt, sie als sichere Herkunftsländer einzustufen, wo es um die Erfahrung von sexueller Gewalt geht, zum Teil auch das, was mit Beschneidung zu tun hat. Das all diese Dinge nicht anerkannt werden, das halte ich für nicht tragbar."
Auch Ärzte, Therapeuten und Psychologen laufen Sturm gegen den Gesetzentwurf. Sie fürchten, dass kranke Flüchtlinge künftig auch in Länder abgeschoben werden, die nur über eine rudimentäre medizinische Versorgung verfügen. Wulf Dietrich vom "Verein demokratischer Ärzte":
"Es steht ausdrücklich im Gesetzentwurf, dass die medizinische Versorgung nicht dem deutschen System entsprechen muss, es muss nur in einem Ort die Möglichkeit bestehen. Es mag sein, dass es in einer Hauptstadt, sagen wir in Kabul, in Afghanistan, in einem guten Militärhospital, die Möglichkeit gibt, versorgt zu werden. Nur ob der Abgeschobene das Militärhospital jemals erreichen wird und ob er die auch bezahlen kann, wie soll ich das beurteilen von hier aus?"
Posttraumatische Belastungsstörungen könnten auch rein medikamentös behandelt werden, heißt es hingegen in dem Gesetzentwurf. Das bedeutet: Flüchtlinge können auch abgeschoben werden, wenn es keine ausreichende psychotherapeutische Betreuung im Herkunftsland gibt. Mit den einschlägigen medizinischen Leitlinien, also praxisorientierten Handlungsempfehlungen, sei das nicht vereinbar, kritisiert Harald Weinberg von der Linkspartei.
Was Kritiker zusätzlich besorgt: Die Asylverfahren sollen beschleunigt werden. Über die Anträge von Flüchtlingen aus sicheren Herkunftsstaaten und über Folgeanträge sollen die Ausländerbehörden künftig innerhalb von einer Woche entscheiden. Fällt das Urteil negativ aus, haben die Betroffenen maximal zwei Wochen Zeit, um ein ärztliches Attest vorzulegen.
Besonders traumatisierte Flüchtlinge würden dadurch stark benachteiligt, fürchtet die Psychologin Jenny Baron. Sie arbeitet für die bundesweite Arbeitsgemeinschaft der psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer – kurz BAFF:
"Innerhalb von einer Woche einen Arzt oder Psychotherapeuten zu finden, bei dem ich überhaupt einen Termin bekomme, um mit ihm zu sprechen, allein das ist schon so gut wie unmöglich. Und wenn man jetzt noch bedenkt, wie schwierig es für traumatisierte Menschen ist, ein Vertrauensverhältnis aufzubauen, Zugang zur eigenen Geschichte zu finden, Erinnerungen chronologisch zu ordnen, dann ist es schlicht unmöglich, in so kurzer Zeit fundierte, substanzielle Gutachten zu erstellen."
Die Warteschlangen in den Traumazentren würden länger, immer häufiger müssten sie Flüchtlinge ganz ablehnen, weil schlicht die Behandlungskapazitäten fehlten, sagt Baron.
Erkrankungen und psychische Störungen würden im vorliegenden Gesetzentwurf jedoch explizit als Abschiebehindernisse ausgeschlossen und damit bagatellisiert, schreibt die Arbeitsgemeinschaft BAFF in einer Stellungnahme zu dem Gesetz.
Ob etwaige Klagen gegen das Gesetz Erfolgsaussichten haben, ist offen
"Die Folge wird sein, dass Personen, die eigentlich zu den besonders Schutzbedürftigen zählen, nämlich Personen mit körperlichen oder psychischen Erkrankungen, Personen, die Folter und Gewalt erfahren haben, dieser Schutzstatus nicht zugesprochen werden kann und dass diese Menschen in das Land, in dem sie dieses Leid erfahren haben, abgeschoben werden."
Hamburgs Erster Bürgermeister Olaf Scholz, der die umstrittenen Neuregelungen maßgeblich vorangetrieben hat, widerspricht jedoch. Auch in den Eilverfahren bleibe ausreichend Zeit, medizinische Einwände gegen Abschiebungen vorzubringen, sagt er.
"Die Krankheitsbilder, wenn sie real da sind, sind schon lange aufgetreten und hätten auch lange schon Gegenstand von Verwaltungswissen werden können, wenn man sie vorgebracht hätte. Auch dazu soll die neue Gesetzgebung anregen: Dass man es sich nicht aufspart für die letzte Minute, sondern rechtzeitig Bescheid sagt. Dann hat man auch genug Zeit."
Auch Unionspolitiker Stephan Mayer, hält die Kritik an dem Gesetzentwurf für überzogen. Wer wirklich schutzbedürftig sei, werde auch in Zukunft in Deutschland Zuflucht finden, sagt der CSU-Mann:
"Es wird beileibe nicht so sein, dass Schwerstkranke abgeschoben werden. Das erfolgte bisher nicht und das wird auch in Zukunft nicht erfolgen. Aber natürlich wollen wir verhindern, dass sehr leichtfertig die Reiseunfähigkeit der abzuschiebenden Personen festgestellt wird und damit Personen nicht unser Land verlassen, die an sich ausreisepflichtig wären."
Die Kritiker beruhigt das nicht. Sie wollen das Gesetz zur Not vor Gericht stoppen. Die Juristin Insa Graefe von der Beratungsstelle "Fluchtpunkt":
"Normalerweise hat ja nach Artikel zwei des Grundgesetzes jeder Mensch ein Recht darauf, dass seine Gesundheit und sein Leben geschützt werden. Und dass das auch berücksichtigt wird. Und wenn hier einfach nur Verfahrensformalitäten berücksichtigt werden, aber nicht die wirkliche Situation des Betroffenen, dann ist es natürlich ein Verstoß gegen diese Grundsätze."
Auch die europäische Aufnahmerichtlinie würde durch die neuen Regelungen verletzt, glaubt Insa Graefe. Denn die EU-Richtlinie sichert besonders Schutzbedürftigen wie etwa Minderjährigen, Schwangeren, Behinderten, schwer Kranken und psychisch Kranken, aber auch älteren Menschen oder Folter- und Vergewaltigungsopfern verstärkte Unterstützung zu.
Ob etwaige Klagen gegen das Gesetz Erfolgsaussichten haben, ist offen. Ebenso wie die Frage, ob der Gesetzentwurf, den das Parlament noch beraten und beschließen muss, an der richtigen Stelle ansetzt. Ein massenhafter gezielter Missbrauch bei der Ausstellung ärztlicher Atteste ist durch Zahlen bislang kaum zu belegen. Gut möglich also, dass die Zahl der Flüchtlinge durch die Maßnahmen nicht entscheidend gesenkt wird. Politischer Aktionismus also? Olaf Scholz von der SPD formuliert es positiv. Er sieht das Gesetzpaket ausdrücklich als Botschaft an die Wähler. Als Signal für Handlungsfähigkeit und Entschlossenheit:
"Ich bin fest überzeugt, dass wir da einen kleinen Blickrichtungswechsel auch bei denjenigen brauchen, die sich für Flüchtlinge einsetzen. Das Ganze funktioniert nur, wenn wir sagen: 'Wir geben denjenigen Schutz, die ihn brauchen und beschränken uns auf die!' Sonst ist das bei der Zahl, die wir haben nicht etwas, dass eine Mehrheit der Bevölkerung unterstützen wird. Und um die müssen wir doch ringen."