Europa Anfang der 90er-Jahre: Neben den Ostblockstaaten zerfällt auch das damalige Jugoslawien, wo sich Bevölkerungsgruppen bekriegen; mehr als 100.000 Menschen werden getötet. Hunderttausenden gelingt die Flucht. In Deutschland schnellen die Flüchtlingszahlen in die Höhe - auf mehr als 400.000 Menschen jährlich. In den Asylbewerberunterkünften herrschen teilweise menschenunwürdige Bedingungen.
"Staatsnotstand"
Damals wie heute versucht die Politik den Zuzug der Asylsuchenden, die vor Gewalt und Terror fliehen, zu begrenzen. Der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl spricht von einem "Staatsnotstand". In einer hitzigen Debatte beschließt der Bundestag im Sommer 1993 die Einführung des Artikels 16a, der das Asylrecht drastisch einschränkt: Ein Ausländer muss zum Beispiel Tatsachen vorlegen, dass er verfolgt wird. Der frühere DDR-Bürgerrechtler Konrad Weiß (Grüne) geißelt diesen Grundrechteartikel als "Kompromisskauderwelsch". Aus den sperrigen Formulierungen deutet er: "Politisch Verfolgte genießen Asylrecht, aber nicht in Deutschland."
Der Widerstand ist auch deshalb so groß, weil eben diese Verfassung regelt: "Eine Änderung dieses Grundgesetzes, durch welche die (...) in den Artikeln 1 und 20 niedergelegten Grundsätze berührt werden, ist unzulässig."
Zwei-Drittel-Mehrheit
Trotz der Gegenstimmen von Grünen, Linken, eines Teils der SPD und der FDP kommt eine Zwei-Drittel-Mehrheit zusammen, die in Bundestag und Bundesrat benötigt wird, um die bestehenden Artikel im Grundgesetz zu ändern oder einen neuen einzuführen. Im aktuellen Bundestag sind dafür 420 Stimmen nötig. Die Große Koalition aus CDU, CSU und SPD hat eine komfortable Mehrheit mit insgesamt 503 Stimmen. Doch die SPD will keine Änderungen des Grundgesetzes, um das Asylrecht weiter zu verschärfen, wie das Stimmen der CDU und CSU fordern. Und so kommt auch der stellvertretende CDU-Vorsitzende Thomas Stroble im Deutschlandfunk zu dem Schluss: Eine Grundgesetzänderung "wird es nicht geben, weil die politischen Mehrheiten nicht dafür da sind". Ohne die SPD-Fraktion hat die Union 310 Stimmen.
Bisher 1682 politisch verfolgte Asylberechtigte
Abgesehen von den politischen Mehrheiten wäre der Ertrag dieser Änderung aus Sicht von Strobl kaum messbar. Im vergangenen Jahr wurde laut Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) weniger als zwei Prozent aller anerkannten Flüchtlinge der Status "politisch verfolgt" zuerkannt - in der Summe waren es im vergangenen Jahr 2285 Asylberechtigte bei 128.911 Antragsstellern (BAMF-Bericht, Seite 46).
In diesem Jahr werden es wohl etwas weniger politisch Verfolgte: In den ersten zehn Monaten registrierte das BAMF 81.547 Flüchtlinge, die sich zurecht auf den Asylrechtsartikel berufen konnten, darunter sind 1682 Asylberechtigte (Asylgeschäftsstatistik, Seite 2). Darunter sind 1044 Syrer. Die Zahl der Antragssteller hat sich dagegen auf 362.153 Menschen nahezu verdreifacht.
Interpretationsspielraum
Aber wann genau ist eine Verfolgung politisch? Das trifft laut BAMF nur dann zu, wenn die Verfolgung vom Staat ausgeht oder der politischen Macht, die das Territorium kontrolliert. Ausgeschlossen sind "allgemeine Notsituationen wie Armut, Bürgerkriege, Naturkatastrophen oder Perspektivlosigkeit", heißt es. Die Behörde betont aber gleichzeitig: "Das Asylrecht dient dem Schutz der Menschenwürde in einem umfassenderen Sinne."
Nach Angaben des bayerischen Innenministeriums hat das BAMF einen Stau von 328.000 unerledigten Asylanträgen. Deshalb sei die Behörde in ihrer Not dazu übergegangen, keine neuen Termine für die Stellung eines Asylantrags zu vergeben. Darauf warten derzeit rund 300.000 Flüchtlinge. Politisch verantwortlich für das BAMF ist Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU).
Grundgesetz-Artikel 16a "Asylrecht"
(1) Politisch Verfolgte genießen Asylrecht.
(2) Auf Absatz 1 kann sich nicht berufen, wer aus einem Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaften oder aus einem anderen Drittstaat einreist, in dem die Anwendung des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge und der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten sichergestellt ist. Die Staaten außerhalb der Europäischen Gemeinschaften, auf die die Voraussetzungen des Satzes 1 zutreffen, werden durch Gesetz, das der Zustimmung des Bundesrates bedarf, bestimmt. In den Fällen des Satzes 1 können aufenthaltsbeendende Maßnahmen unabhängig von einem hiergegen eingelegten Rechtsbehelf vollzogen werden.
(3) Durch Gesetz, das der Zustimmung des Bundesrates bedarf, können Staaten bestimmt werden, bei denen auf Grund der Rechtslage, der Rechtsanwendung und der allgemeinen politischen Verhältnisse gewährleistet erscheint, daß dort weder politische Verfolgung noch unmenschliche oder erniedrigende Bestrafung oder Behandlung stattfindet. Es wird vermutet, daß ein Ausländer aus einem solchen Staat nicht verfolgt wird, solange er nicht Tatsachen vorträgt, die die Annahme begründen, daß er entgegen dieser Vermutung politisch verfolgt wird.
(4) Die Vollziehung aufenthaltsbeendender Maßnahmen wird in den Fällen des Absatzes 3 und in anderen Fällen, die offensichtlich unbegründet sind oder als offensichtlich unbegründet gelten, durch das Gericht nur ausgesetzt, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Maßnahme bestehen; der Prüfungsumfang kann eingeschränkt werden und verspätetes Vorbringen unberücksichtigt bleiben. Das Nähere ist durch Gesetz zu bestimmen.
(5) Die Absätze 1 bis 4 stehen völkerrechtlichen Verträgen von Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften untereinander und mit dritten Staaten nicht entgegen, die unter Beachtung der Verpflichtungen aus dem Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge und der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, deren Anwendung in den Vertragsstaaten sichergestellt sein muß, Zuständigkeitsregelungen für die Prüfung von Asylbegehren einschließlich der gegenseitigen Anerkennung von Asylentscheidungen treffen.
(1) Politisch Verfolgte genießen Asylrecht.
(2) Auf Absatz 1 kann sich nicht berufen, wer aus einem Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaften oder aus einem anderen Drittstaat einreist, in dem die Anwendung des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge und der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten sichergestellt ist. Die Staaten außerhalb der Europäischen Gemeinschaften, auf die die Voraussetzungen des Satzes 1 zutreffen, werden durch Gesetz, das der Zustimmung des Bundesrates bedarf, bestimmt. In den Fällen des Satzes 1 können aufenthaltsbeendende Maßnahmen unabhängig von einem hiergegen eingelegten Rechtsbehelf vollzogen werden.
(3) Durch Gesetz, das der Zustimmung des Bundesrates bedarf, können Staaten bestimmt werden, bei denen auf Grund der Rechtslage, der Rechtsanwendung und der allgemeinen politischen Verhältnisse gewährleistet erscheint, daß dort weder politische Verfolgung noch unmenschliche oder erniedrigende Bestrafung oder Behandlung stattfindet. Es wird vermutet, daß ein Ausländer aus einem solchen Staat nicht verfolgt wird, solange er nicht Tatsachen vorträgt, die die Annahme begründen, daß er entgegen dieser Vermutung politisch verfolgt wird.
(4) Die Vollziehung aufenthaltsbeendender Maßnahmen wird in den Fällen des Absatzes 3 und in anderen Fällen, die offensichtlich unbegründet sind oder als offensichtlich unbegründet gelten, durch das Gericht nur ausgesetzt, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Maßnahme bestehen; der Prüfungsumfang kann eingeschränkt werden und verspätetes Vorbringen unberücksichtigt bleiben. Das Nähere ist durch Gesetz zu bestimmen.
(5) Die Absätze 1 bis 4 stehen völkerrechtlichen Verträgen von Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften untereinander und mit dritten Staaten nicht entgegen, die unter Beachtung der Verpflichtungen aus dem Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge und der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, deren Anwendung in den Vertragsstaaten sichergestellt sein muß, Zuständigkeitsregelungen für die Prüfung von Asylbegehren einschließlich der gegenseitigen Anerkennung von Asylentscheidungen treffen.
(sdö/dk)