Außenminister Heiko Maas (SPD) hat das Migrationsthema innerhalb der EU als "großen Schandfleck" bezeichnet. Die Länder der Europäischen Union würden es seit Jahren nicht hinbekommen, gemeinsame Regelungen zu finden, wer Flüchtlinge übernimmt. Das soll sich nun ändern - die EU-Kommission stellt am Mittwoch (23.09.2020) ihre Pläne für eine künftige Asyl- und Migrationspolitik vor.
Für Maas' Parteikollege Michael Roth, Staatsminister im Auswärtigen Amt, führt nur ein gemeinsames solidarisches Vorgehen zum Erfolg. Jetzt gleich wieder mit Vetos und Blockaden zu arbeiten, hält er für wenig ratsam. Das wäre bereits die Politik der vergangenen fünf Jahre gewesen.
Christoph Heinemann: Sollten die Asylverfahren vollständig an die Außengrenzen verlagert werden? Beginnen wir damit.
Michael Roth: Zumindest wäre es hilfreich, den Staaten, die eine EU-Außengrenze haben, besser zu helfen. Die fühlen sich seit vielen Jahren komplett allein gelassen. Und es wäre auch gut, wenn man über eine Vorprüfung schon feststellen könnte, ob die Menschen, die zu uns kommen, eine bleibeperspektive haben, ob eine Asylberechtigung vorliegt, oder ob sie möglicherweise wieder zurück müssen in ihre Heimatländer, weil es keinen Asylgrund gibt. Dafür brauchen wir rechtsstaatliche Verfahren, dafür brauchen wir gegenseitiges Vertrauen in der EU. Das wäre gut, wenn wir das hätten. Aber ich habe den Eindruck, das wird nicht Teil des Vorschlages der EU-Kommission sein.
"Migration und Flucht ist keine nationale Bewährungsprobe"
Heinemann: Warum nicht?
Roth: Weil die EU-Kommission andere Vorschläge machen wird. Wir diskutieren ja jetzt seit 2015 in der Europäischen Union und es ist ein Trauerspiel, denn es ist eine These, dass Migration und Flucht keine nationale Bewährungsprobe ist; das ist eine globale und vor allem auch eine europäische Bewährungsprobe. Und dass wir da nicht zusammenkommen und uns immer wieder verhaken und das Ganze so hoch emotional aufgeladen ist, das tut der Sache nicht gut. Deswegen ist jetzt der Vorschlag, den die Kommission auf den Tisch legen wird, überfällig.
Heinemann: Worauf kann man sich denn in der Europäischen Union überhaupt einigen?
Roth: Ich hoffe erst mal, dass man sich darauf einigen wird, dass alle Menschen, die schutzbedürftig sind, auch in der Europäischen Union Schutz bekommen, dass alle Menschen anständig behandelt werden, dass niemand mehr im Mittelmeer sterben muss, dass wir natürlich auch gemeinsam die Außengrenzen der Europäischen Union schützen, dass wir diejenigen finanziell besser unterstützen, die bereit sind, Geflüchtete aufzunehmen, dass wir diese furchtbaren Bilder, die wir kennen aus europäischen Flüchtlings-Camps und nicht aus Camps in Afrika, dass die endgültig der Vergangenheit angehören. Das wären schon ein paar wichtige Schritte in die richtige Richtung. Und wenn wir es dann noch schaffen, die Staaten, die deutlich mehr Geflüchtete aufnehmen als Mitgliedsstaaten der Europäischen Union, wenn wir die Staaten, aus denen die Geflüchteten kommen, besser unterstützen, damit die Menschen dort eine Perspektive haben, dann könnte das ein umfassender Asyl- und Migrationsansatz sein, den wir wirklich dringend brauchen.
"Ansatz, der niemandem etwas aufzwingt"
Heinemann: Herr Roth, ich lese Ihnen die ersten Zeilen einer Meldung der Nachrichtenagentur AFP von heute Früh fünf Uhr vor. "Die Verteilung von Flüchtlingen in der EU ist aus Sicht des österreichischen Bundeskanzlers Sebastian Kurz gescheitert. Das lehnen so viele Staaten ab, das wird auch nicht funktionieren, sagte kurz der Nachrichtenagentur AFP." – Das klingt nun wirklich nicht nach Einigung.
Roth: Ich würde jetzt allen raten, nicht schon gleich wieder Vetos einzulegen und Blockaden aufzubauen. Das haben wir jetzt fünf lange Jahre erlebt. Und wenn ich die Kommission bislang richtig verstanden habe, versucht sie ja einen Ansatz, der niemandem in der Europäischen Union etwas aufzwingt. Aber ohne eine gemeinsame Verständigung auf Solidarität, Humanität und gemeinsame Verantwortung wird es nicht funktionieren, und wenn wir über Solidarität sprechen, dann wird es sicherlich nicht nur darum gehen, Geflüchtete aufzunehmen per Zwang, sondern dass man Solidarität auch anderweitig übt. Aber Solidarität ist unverhandelbar. Man kann sich nicht einfach aus der Verantwortung stehlen.
Heinemann: Das klang aber jetzt im Bericht unseres Korrespondenten anders. Peter Kapern sprach von Freiwilligkeit ja, aber auch von Zwang.
Roth: Die Frage ist, wie kann man solidarisch sein. Wenn man nicht bereit ist, wenn man partout nicht bereit ist, im Rahmen dessen, was man zu leisten vermag, Geflüchtete aufzunehmen, dann muss man Solidarität eben anders üben, beispielsweise bei höheren Ausgaben für die Entwicklungszusammenarbeit, die humanitäre Hilfe. Die EU-Kommission schlägt offenkundig auch vor, dass man dann bei der Rückführung von Geflüchteten mehr Verantwortung übernimmt. Aber wenn wir wieder in eine Krisensituation kommen – und ich hoffe, dass wir das vermeiden können -, wo viele, viele Menschen aus Kriegsgebieten zu uns kommen, und wir kein geregeltes Verfahren haben, dann ist es wichtig, dass alle Staaten wissen, sie stehen nicht alleine. Dass wir so einen Glaubwürdigkeitsverlust erlitten haben, liegt ja vor allem auch daran, dass die Akzeptanz für die Aufnahme von Geflüchteten in einigen Staaten insbesondere an den EU-Außengrenzen dramatisch nachgelassen hat. Deshalb haben wir diese furchtbaren Bilder, die mit meinen Vorstellungen von der Europäischen Union unvereinbar sind.
"Wir wollen ja keine Festung"
Heinemann: Stichwort Akzeptanz, Herr Roth. Wieso sollten Menschen in die EU einreisen dürfen, die dann später wieder ausreisen müssen?
Roth: Die Frage habe ich offenkundig jetzt, ehrlich gesagt, nicht verstanden. Die Europäische Union ist eine Gemeinschaft der Migration. Alleine 2018 sind 2,4 Millionen Menschen in die Europäische Union eingewandert. Das ist eine Realität, an der wollen wir ja nichts ändern. Wir wollen ja keine Festung. Aber natürlich ist es so, dass Menschen, die aus Asylgründen zu uns kommen, das in einem rechtsstaatlichen Verfahren nachweisen müssen, und diese rechtsstaatlichen Verfahren, die führen ja nicht automatisch dazu, dass man eine Asylberechtigung erhält. Wenn die Asylberechtigung nicht gegeben ist, dann nach hoffentlich schnellen, zügigen, aber stets rechtsstaatlichen Verfahren, dann muss man auch über die Rückführung sprechen. Dann haben die Menschen hier keine dauerhafte Bleibeperspektive.
Heinemann: Stichwort Rückführung. Im Jahr 2019 gab es nach Angaben der Bundesregierung bei fast 250.000 ausreisepflichtigen Flüchtlingen nur gut 22.000 Abschiebungen und knapp 20.000 geförderte freiwillige Ausreisen. Wäre es denn nicht besser, dafür zu sorgen, dass überhaupt niemand zurückgeführt werden muss, dass vielleicht an den Außengrenzen direkt entschieden werden kann?
Roth: Darauf hatte ich ja hingewiesen. Das wäre sicherlich ein praktischer Weg.
Heinemann: Entschuldigung! Sie sprachen eben von einer ersten Prüfung, nicht vom Asylverfahren. Sollte man nicht das gesamte Asylverfahren, wie der Bundesinnenminister das vorgeschlagen hat, an der Außengrenze durchführen, so dass gar nicht erst Menschen, die nicht schutzbedürftig sind, einreisen können?
Roth: Das stößt bei einer Reihe von Mitgliedsstaaten auf erbitterten Widerstand. Die sagen, nach wie vor ist es zentral, dass die Staaten, in denen die Geflüchteten ankommen, auch die Verantwortung für die Asylverfahren erhalten. Wir könnten uns da durchaus einen anderen Weg vorstellen, aber wir müssen ja auch zur Kenntnis nehmen, dass es jetzt nichts hilft, dass es überhaupt nichts hilft, die immer gleichen Forderungen zu erheben, wenn wir wissen, die sind nicht mehrheitsfähig. Jetzt ist es möglicherweise die letzte Chance für die Europäische Union, deutlich zu machen, dass sie ein ernsthaftes Interesse hat an einer gemeinsamen Asyl- und Migrationspolitik, und wenn wir da scheitern, dann haben am Ende die Nationalisten und Populisten gewonnen, die uns ja schon seit Jahren einreden wollen, die EU hat eigentlich mit der Migrations- und Asylpolitik nichts zu tun, wir wollen uns da in keine Verbindlichkeiten einbringen, das ist alleine unsere Entscheidung und wir möchten nicht, dass sich irgendjemand einmischt. – Das ist aber bei einer europäischen und globalen Bewährungsprobe nicht machbar.
Anspruch auf ein menschenwürdiges Leben
Heinemann: Herr Roth, wie erreicht man funktionierende Partnerschaften mit Herkunfts- oder Transitländern, ohne – siehe Türkei – dauerhaft erpressbar zu sein?
Roth: Wir sind ja nicht erpressbar.
Heinemann: Das sehen andere anders.
Roth: Bei allem Streit, den wir mit der Türkei haben – die Türkei hat vier Millionen Flüchtlinge aufgenommen, und ich überlasse es Ihrer Bewertung, ob die Geflüchteten in der Türkei oder in einigen Flüchtlings-Camps in der Europäischen Union besser und anständiger behandelt werden. Und im Übrigen unterstützen wir ja auch die Geflüchteten in der Türkei und das müssten wir auch in anderen Ländern noch besser tun: bei Jobs, bei Unterkünften, bei medizinischer Versorgung, vor allem auch bei Beschulung von Kindern. Die Menschen haben, auch wenn sie Geflüchtete sind, einen Anspruch auf ein menschenwürdiges Leben. Sie brauchen eine Perspektive. Und wenn ich mir allein den Libanon anschaue, wo Millionen von Menschen seit vielen Jahren auszuharren haben, sollte es doch möglich sein, dass wir als Europäische Union mehr Solidarität üben und diesen Menschen dort auch vor Ort helfen. Denn oftmals sind die Staaten nicht stabil genug, um eine größere Zahl von Geflüchteten dauerhaft bei sich aufnehmen zu können. Da wir selber in der Europäischen Union ja nun auch diese Blockaden haben, ist es wichtig, dass wir den Partnern in unserer unmittelbaren Nachbarschaft besser helfen. Da haben wir auch schon in den vergangenen Jahren einige Fortschritte erzielt. Aber jetzt das in ein Konzept zu gießen, an dem sich alle Mitgliedsstaaten der EU beteiligen, das finde ich überfällig.
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