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Atatürks Enkel
Türkei-Korrespondent dokumentiert Demokratie-Verlust

Kemalisten, Gezi-Protestbewegung, Islamisten. Der Journalist Baha Güngör beschreibt im Buch "Atatürks wütende Enkel" die Stimmung in der Türkei, die Entwicklung der deutsch-türkischen Beziehungen sowie die Ursachen des Erfolgs von Präsident Erdogan. Eine dichte Faktensammlung ergänzt um eigene Erfahrungen und Beobachtungen.

Von Susanne Güsten |
    Baha Güngör, Journalist und Autor. Hier ein Foto aus dem Jahre 2006.
    Baha Güngör, Journalist und Autor. Hier ein Foto aus dem Jahre 2006. (dpa/Marcel Mettelsiefen)
    Verständnislos stehen sich Deutschland und die Türkei in diesen Tagen oft gegenüber. Mehr denn je scheint ein erfahrener Vermittler notwendig, der das Verhalten des Bündnispartners am Bosporus erklären kann. Der deutsche Korrespondent Baha Güngör macht sich das in seinem neuen Buch zur Aufgabe. Wie kann es etwa sein, dass reihenweise Bundesbürger in der Türkei festgehalten oder gar eingesperrt werden, weil sie türkischer Abstammung und ideologisch nicht auf Linie von Ankara sind? "Einmal Türke, immer Türke", ist die zugrundeliegende Einstellung des türkische Staates - und das ist nicht erst seit Erdogan so, berichtet Güngör:
    "In der Türkei werden Türken als solche vom Vater Staat viel mehr in die Pflicht genommen als Deutsche in Deutschland. Das gilt auch für Türken in Almanya oder in anderen Ländern Europas. Das war so, das ist so und wird auch so bleiben. Ein deutscher Pass in der Tasche ist nur ein Detail - ungeeignet als Dokument, hinter dem man sich verstecken kann."
    Güngör machte diese Erfahrung schon vor über dreißig Jahren, als er das ZDF-Büro in Istanbul eröffnete. Zu seinen ersten Besuchern zählte der türkische Geheimdienst MIT, der offen vom ihm verlangte, für den türkischen Staat zu spionieren. Das sei seine Pflicht als Türke, erklärte der Agent dem verblüfften deutschen Korrespondenten, der schon damals keinen türkischen Pass besaß. Güngör lehnte ab und meldete den Anwerbeversuch dem ZDF, das ihn sofort entlassen habe.
    Güngör will den Deutschen die Türkei erklären
    Baha Güngör blieb dennoch als Korrespondent in der Türkei und berichtete 15 Jahre lang für viele deutsche Tageszeitungen und für die Nachrichtenagentur DPA aus Ankara, bevor er 1999 die Leitung der türkischen Redaktion bei der Deutschen Welle übernahm. 1950 in der Türkei geboren und mit elf Jahren nach Deutschland übergesiedelt, hat er es sich im Beruf zur Aufgabe gemacht, den Deutschen die Türkei zu erklären - und das setzt er nach seiner Pensionierung im vergangenen Jahr mit diesem Buch fort:
    "In Deutschland gab es kein Verständnis dafür, warum Erdogan so ist, wie er ist. Und das ist es, was ich in meinem Buch versuche. Er verdient Kritik, aber man kann Erdogan nicht beurteilen, wenn man nicht die Vergangenheit kennt - bis zurück zum Beginn der Mehrparteiensytems, wo die Prinzipien, die Atatürk durchgesetzt hat, nach und nach demontiert worden sind von religiösen Kräften und man sich immer wieder auf die Armee verlassen hat. Und die Armee war ein schlechter Ratgeber, weil die Armee hat nur geputscht, hat dann Leute ins Gefängnis gesteckt, hat Leute gefoltert, aber hat dann nicht ein System geschaffen, wo man dann anschließend demokratisch weitermachen konnte."
    Diese Entwicklung analysiert Güngör in "Atatürks wütende Enkel" - und wütend sind sie nach seiner Schilderung alle, von den Kemalisten über die Gezi-Protestbewegung bis hin zu den Islamisten, weil sich die Verheißungen des Staatsgründers nicht erfüllt haben. Ausgehend von der Frage nach den Ursachen von Erdogans Erfolg arbeitet der Autor die politische Geschichte des Landes seit der Einführung des Mehrparteiensystems von 1945 weitgehend chronologisch auf, mit thematischen Einschüben zur Rolle der Frau, zur Kurdenfrage und zu den deutsch-türkischen Beziehungen - eine dichte Konzentration von Daten, Fakten, Namen und Kürzeln.
    Das deutsch-türkische Verhältnis
    Am stärksten ist das Buch immer dort, wo Güngör seine eigenen Erfahrungen, Erlebnisses und Beobachtungen beisteuert - etwa wenn es um die deutsch-türkischen Beziehungen geht. Selbst so sorgfältig vorbereitete Begegnungen wie Staats- und Regierungsbesuche sind mit Missverständnissen und Pannen gespickt - zum Beispiel als beim deutschen Staatsbesuch in der Türkei die belgische Fahne gehisst wird; als Bundeskanzler Kohl den vermeintlich begeisterten Bürgern am Straßenrand in Ankara die Hände schütteln will, diese eigentlich aber nur die gesperrte Straße überqueren wollen; als Außenminister Kinkel sein startbereites Flugzeug auf der Piste warten lässt, bis der türkische Premier eine erniedrigende Bemerkung zurückgenommen hat. Das Resümee des Berichterstatters ist ernüchternd:
    "Nach 40 Jahren als journalistischer Beobachter der deutsch-türkischen Beziehungen kann ich mich an keinen Türkei-Besuch von deutschen Staats- und Regierungsvertretern erinnern, der entspannt über die Bühne gegangen wäre. Dabei gibt es, was deutsche Politiker in der Türkei gerne hervorheben, kein zweites Beispiel auf der Welt für die innige Beziehung zweier Staaten, die geographisch derart weit voneinander entfernt sind."
    Nüchterne Bilanz eines Berufslebens
    Frustrierend war das für den Korrespondenten, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, die Missverständnisse auszuräumen und Verständnis füreinander zu wecken:
    "Ich hab mich sehr oft frustriert gefühlt, nicht erst seit Erdogan in der Türkei regiert, sondern vorher schon, zu Zeiten von Turgut Özal in den 80er Jahren. Die Deutschen hatten die Türken gewarnt, dass nach den Menschenrechtsverletzungen im Zuge des Militärputsches von 1980 die Türkei noch eine ganze Menge Hausaufgaben erledigen muss. Das ist in der Türkei nicht angekommen. Ich habe dann immer wieder versucht, in meinen Berichten Verständnis dafür zu wecken, dass es in der Türkei etwas schwieriger ist als in Deutschland. Dann kam der Krieg gegen die PKK, die Kurden, und in Deutschland hat man das gar nicht verstanden, was da los war in der Türkei."
    Jahrzehntelang hat Güngör sich bemüht, den Deutschen die Türkei zu erklären und ihr Verständnis für Land und Leute zu wecken; doch inzwischen fällt es ihm manchmal selbst schwer, Verständnis aufzubringen, vor allem für den Verlust an Rechtsstaatlichkeit und Rechtssicherheit in der Türkei seit dem Putschversuch im vergangenen Jahr. Es markiert sicher einen Tiefstand im Verhältnis zwischen Deutschland und der Türkei, dass selbst Baha Güngör, der Veteran der deutschen Türkei-Korrespondenten, heute nicht mehr in die Türkei reisen mag.
    "Ich habe im Moment einfach die Furcht, wenn ich da festgesetzt werde, habe ich keine Rechtssicherheit zu fragen, warum man mich festsetzt, was gegen mich vorliegt. Wenn man bis zu 14 Tage bei der Polizei festgesetzt wird und danach erst einen Anwalt kontaktieren darf und danach eine U-Haft bis zu 7 Jahre dauern kann... Ich bin 67 und ich möchte jetzt nicht 7 Jahre, bis weit in die 70er, meinen Lebensabend im türkischen Gefängnis verbringen. Und deshalb habe ich einfach die Angst, und ich werde jetzt die Türkei-Reisen streichen."
    Baha Güngör: "Atatürks wütende Enkel. Die Türkei zwischen Demokratie und Demagogie"
    Dietz-Verlag, 237 Seiten, 19,99 Euro.