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Atatürks Erbe

Kein anderes muslimisches Land hat auf dem Weg in die Moderne so konsequent mit seiner islamischen Vergangenheit gebrochen wie die türkische Republik. Doch heute bestimmt mit der Regierungspartei AKP das religiös-konservative Lager die Politik.

Von Reinhard Baumgarten | 13.03.2010
    Unterrichtspause in der Imam-Hatip-Schule im Istanbuler Stadtteil Beyoglu: Tischtennis zur Entspannung. Adnan spielt gegen Mesut. Mesut ist geschickter mit dem Ball.

    Adnan ist geschickter mit der Stimme. Im Fach Koranrezitation ist er einer der besten seines Jahrgangs.

    Adnan und Mesut gehören zu den knapp 70.000 Schülerinnen und Schülern einer Imam-Hatip-Schule. Anfangs handelte es sich bei diesen Lehreinrichtungen um rein religiös ausgerichtete Schulen, wo Prediger und Moscheevorsteher - sogenannte Imame - ausgebildet werden.

    Das Fach Phonetik gehört von Beginn an ebenso zum Lehrplan wie Arabisch und Koranrezitation.

    Mittlerweile werden auch allgemeinbildende Fächer wie Englisch, Mathematik, Physik, Staatskunde und Sport unterrichtet. Die Imam-Hatip-Schulen sind speziell auf die Verhältnisse in der Türkei zugeschnitten. Sie vereinen religiösen Unterricht und kulturell-weltliche Bildung an einer Lehranstalt. Diese Kombination ist in der laizistischen Türkei keineswegs unumstritten. Denn seit mehr als 8 Jahrzehnten gilt in der türkischen Republik das Prinzip der strikten Trennung von Staat und Religion. Mehr noch: Der Staat bestimmt durch seine am französischen Vorbild ausgerichteten laizistischen Verfassung, wie viel und welche Art Religion öffentlich gelehrt und gelebt werden darf.

    Die erste Imam-Hatip-Schule wird kurz nach dem Zweiten Weltkrieg eröffnet. An der zehn Monate dauernden Ausbildung nehmen vier Dutzend angehende Imame teil. Der türkische Staat reagiert damals auf den zunehmenden Mangel an ausgebildeten Geistlichen bei gleichzeitig wachsender Bevölkerung und einer größeren Hinwendung zum Glauben. Inzwischen gibt es landesweit rund 460 Imam-Hatip-Schulen. Ihre Zahl hat in den vergangenen Jahren stetig zugenommen und dürfte auch in Zukunft weiter steigen. Mit der regierenden AKPartisi - der Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung - bestimmt das religiös-konservative Lager die Politik der Türkei. Namhafte Köpfe der AK-Partei sind Absolventen der Imam-Hatip-Schulen - allen voran Regierungschef Recep Tayyip Erdogan. Auf sein Betreiben hin sind die einstigen Predigerschulen 2004 mit den säkularen allgemeinbildenden Gymnasien gleichgestellt worden. Irfan Aycan ist im Bildungsministerium für die Imam-Hatip-Schulen zuständig.

    "Die Absolventen der Imam-Hatip-Schulen hatten Probleme, an einer weiterführenden Schule oder Universität unterzukommen. Diese Probleme wurden gelöst. Darüber wurde im Parlament diskutiert. Mittlerweile erfahren wir aus arabischsprachigen Ländern großes Interesse am Imam-Hatip-Modell und wir werden gebeten, beim Aufbau eines solchen Schulsystems zu helfen."

    "Auch wenn es immer wieder zu Diskussionen kommt, so sind diese Imam-Hatip-Schulen doch als ein Modernisierungsinstrument unseres Landes anerkannt. In der islamischen Welt gibt es keine vergleichbaren Schulmodelle. Die Schulsysteme in den islamischen Ländern haben den Schwerpunkt in der religiösen Bildung und von diesen Systemen wollen viele Länder weg. Aus diesem Grund findet das Imam-Hatip-Modell reges Interesse. Es soll zur Modernisierung dieser Länder beitragen."

    Kein anderes muslimisches Land bricht auf dem Weg in die Moderne so konsequent mit seiner islamischen Vergangenheit wie die neu gegründete türkische Republik. Im Frühjahr 1924 schafft die Nationalversammlung in Ankara das Kalifat ab. Mehr als 400 Jahre haben die türkischen Osmanen die Führung aller Muslime als weltliche und geistliche Herrscher beansprucht. Doch der 43jährige Republikgründer Mustafa Kemal - genannt Atatürk - will einen modernen Staat, in dem Religion Privatsache ist. Religiöse Bruderschaften werden verboten, die Geistlichkeit wird entmachtet. Der säkulare Staat will fortan die Grenzen organisierter Religiosität abstecken. Heute - mehr als 70 Jahre nach dem Tod Atatürks - offenbart die Kemalismus genannte antiklerikale Staatsdoktrin jedoch erhebliche Risse. Die Hüter des reinen Laizismus, der strikten Kontrolle religiösen Lebens durch den Staat, befürchten den Verlust gesellschaftspolitischer Errungenschaften. In den Imam-Hatip-Schulen sehen sie Brutstätten eines politisierten Islams. Irfan Aycan weist diesen Vorwurf zurück.

    "Imam-Hatip-Schulen haben nichts mit politischem Islam zu tun. Der Islam gehört zur Bevölkerung. Das heißt nicht, dass islamische Regeln und Gesetze gemacht werden sollen. So was geht bei uns nicht. So etwas passiert nur in totalitären Staaten. Wir akzeptieren das nicht. Wir glauben nicht, dass Imam-Hatip-Schulen etwas mit politischem Islam zu tun haben. Sie sind getrennt vom politischen Islam."

    Speisesaal der Imam-Hatip-Schule in Beyoglu, einer Ganztagesschule für Jungen mit angeschlossenem Internat.

    Bittgebet nach dem Essen. In staatlichen Schulen undenkbar, in Imam-Hatip-Schulen selbstverständlicher Bestandteil des Schulalltags. Die Aufwertung der einstigen Predigerschulen zu vollwertigen Oberschulen hat bereits lange vor Übernahme der Regierungsgeschäfte durch die religiös-konservative AK Partei begonnen. Glücklicherweise, betonen reformorientierte islamische Theologen am Bosporus. Denn in vielen islamischen Ländern werden Geistliche fast ausschließlich in Theologie oder theologienahen Fächern unterrichtet. In der Türkei ist allgemeinbildender Unterricht Pflicht. Dadurch soll das Denken erweitert und die Auslegung der religiösen Quellen den Anforderungen der Gegenwart gerechter werden.

    "Bei uns sind der Koran und das Leben des Propheten Mohammed sehr wichtig. Doch nur weil Mohammed auf einem Kamel ritt, müssen wir das nicht auch tun. Die moderne Zeit hat viele Erfindungen hervorgebracht. Auf einem Kamel zu reiten, bedeutet nicht Gehorsam, denn wir können uns heute mit anderen Dingen fortbewegen. Nur weil es früher so gemacht wurde, müssen wir das heute nicht auch so machen. Es gibt gewisse Prinzipien, in deren Rahmen wir uns bewegen."

    Die islamischen Quelltexte zeitgemäß zu lesen und auszulegen, ist in vielen islamischen Ländern keineswegs selbstverständlich. Den sich immer höher auftürmenden sozialen und politischen Verwerfungen glauben konservative muslimische Geistliche allzu oft mit Rezepten begegnen zu können, die ihren Ursprung häufig im Mittelalter haben. Doch wenn Korandeutungen vor 400, 800 oder 1200 Jahren sinnvoll waren, müssen sie das nicht notwendigerweise auch im 21. Jahrhundert sein, stellt der Islamgelehrte Yasar Nuri Öztürk fest.

    "Im Koran ist das Dogma auf ein Minimum beschränkt. Stattdessen fordert der Koran dazu auf, den Verstand zu benutzen. Den Verstand zu benutzen heißt, jeden Tag aufs Neue entsprechend den Verhältnissen des Tages Interpretationen vorzunehmen. Der Koran benutzt an dieser Stelle radikale Aussagen. Er sagt: Wer seinen Verstand nicht benutzt, auf den wird Schlechtes niedergehen. Will heißen: Deren Leben wird sich in ein Chaos verwandeln, falls sie ihren Verstand nicht benutzen. Man muss jeden Tag aufs Neue seinen Verstand einsetzen und die Quellen auslegen."

    Das ist das täglich Brot von Habil Öndes, der als Imam in der Valide-Sultan-Moschee im Istanbuler Stadtteil Fatih arbeitet.

    "In dem Dorf, aus dem ich komme, hatte ich die Berufswahl zwischen Imam oder Lehrer. Mein Vater wollte, dass ich Imam werde, ich habe das respektiert und bin Imam geworden."

    Das war vor knapp 40 Jahren. Habil Öndes, hat eine Imam-Hatip-Schule besucht, sich zum Vorbeter ausbilden lassen und am Istanbuler Konservatorium für Türkische Musik Laute und Gesang studiert. Neben seiner Arbeit als Seelsorger, Moscheevorsteher und Prediger leitet er einen Männerchor.

    "Der Islam hat bestimmte Grundsätze, so wie jede Religion. Es gibt Unterschiede in der Umsetzung dieser Grundsätze. Ich habe in Europa gesehen, wie die Menschen sich dort verhalten. Obwohl sie keine Muslime sind, leben sie die Grundsätze des Islams."

    Sechs Jahre hat Habil Öndes in Wesseling bei Bonn gelebt und eine Moschee geleitet. Der Aufenthalt in Deutschland hat den 63-jährigen nachhaltig beeindruckt.

    "Zum Beispiel der Grundsatz der Gerechtigkeit oder die Achtung der Rechte anderer. In Europa stellen sich die Menschen in einer Schlange an, keiner verletzt das Recht des anderen. Wenn einer eine Straftat begeht, wird dieser nicht verurteilt, bevor dessen Schuld bewiesen ist."

    Gerechtigkeit in allen das Leben bestimmenden Bereichen - das ist für Imam Öndes eines der herausragenden Themen unserer Zeit. Zur Zeit des Propheten Mohammed habe es eine Sammelstelle für Almosen gegeben. Arme, Kranke, Alte, Bedürftige aller Art konnten dort um Hilfe bitten. Wenn er das mit dem Sozialsystem in Europa vergleiche, dann stelle er fest, dass es auf den gleichen Prinzipien beruhe.

    "Der Dichter Mehmet Akif Ersoy war auch in Europa und er hat gesagt: 'Sie haben eine Arbeitsmoral wie unsere Religion'. Und es gibt noch einen zweiten Satz, den will ich jetzt nicht sagen. Soll ich den auch sagen? 'Und die Europäer haben eine Religion wie unsere Arbeitsmoral.'"

    Die vor mehr als 85 Jahren in der Türkei auf den Weg gebrachte Trennung von Staat und Religion hat tiefe Spuren hinterlassen. Wer die Türkei mit den säkularisierten Gesellschaften Westeuropas vergleicht, mag diesen Eindruck nicht gewinnen. Aber wer die Türkei mit seinen muslimischen Nachbarn im Nahen Osten vergleicht, kann schnell zu diesem Schluss kommen. In der Türkei sind Prozesse angestoßen worden, die in der islamischen Welt einzigartig sind. In keinem anderen muslimischen Land werden heute derart kritisch als unantastbar geltende religiöse Grundsätze hinterfragt und öffentlich diskutiert. Yasar Nuri Öztürk gehört zu den populärsten islamischen Denkern der Türkei.

    "Der Koran hat die Religion vom Verstand abhängig gemacht, nicht den Verstand von der Religion. Nach dem Koran kontrolliert der Verstand den Glauben. Aber der Glaube kann nicht den Verstand kontrollieren. Der Verstand ist der Befehlshaber über den Glauben. Der Koran vergleicht auch Wissenschaft und Glauben. Wissenschaft kann den Glauben kontrollieren, aber der Glaube nicht die Wissenschaft, weil der Glaube subjektiv ist und die Wissenschaft objektiv. Der Koran sagt: Die objektive Wissenschaft soll den subjektiven Glauben kontrollieren. Daher akzeptiert der Koran auf keinen Fall, dass der Verstand eingeengt wird."

    Die Türkei ist ein von Männern dominiertes muslimisches Land, und die Arbeit eines Imams ist hier Männersache. Habil Öndes's Moschee aus dem frühen 18. Jahrhundert wird in monatelanger Arbeit aufwendig renoviert. Der 57jährige hat alle Hände voll zu tun. Er ist ein lebenserfahrener Mann, der in Europa gelebt und gearbeitet hat und große Stücke auf die Errungenschaften westlicher Gesellschaften hält. Imam Öndes versucht, die auch in Deutschland gesammelten Erfahrungen bei seiner Arbeit als Seelsorger und Theologe zu nutzen.

    "Wir erklären den Menschen die Lehren des Korans und des Propheten und die, die es annehmen, werden nur Vorteile davon haben, die, die es nicht annehmen, müssen selbst die Konsequenzen tragen. Wer aber bereut, kann zum Weg Gottes zurückkehren. Aber wir schreien oder schimpfen nicht. Sie haben ja unseren Gottesdienst mitgekriegt, die Ratschläge sind gut gemeint - so wie ein Vater seinem Sohn Ratschläge geben würde."

    Imam in der Türkei - ein Beruf mit Zukunft. Die Zahl der Moscheen wächst ständig. Gegenwärtig sind es landesweit knapp 80.000. Nicht jeder, der eine Imam-Hatip-Schule besucht, will Geistlicher werden. Aber der Beruf des Moscheevorstehers ist für viele Schüler durchaus lukrativ und gleichermaßen anspruchsvoll. Auf das Wohl und Weh des türkischen Staates haben Geistliche nur mittelbaren Einfluss. Aber wie sich die türkische Gesellschaft entwickelt, wird nicht unerheblich durch das Wie und Wie viel an Religiosität der türkischen Bevölkerung mitgestaltet. Und darauf, wie eng oder weit die Grenzen religiösen Verständnisses gesteckt werden, haben Imame kraft ihres Amtes erheblichen Einfluss. Umso mehr, findet der Islamgelehrte Yasar Nuri Öztürk, komme es darauf an, angehende Geistliche im Gebrauch ihres Verstandes zu schulen. Der Verstand dürfe nicht dafür benutzt werden, die als feststehend geltenden Glaubenswahrheiten rechtfertigen zu müssen. Vielmehr müsse der Verstand kritisch, frei und unabhängig die religiösen Glaubensgrundlagen hinterfragen und mit den Erfordernissen der modernen Gegenwart in Einklang bringen.

    "Im Grunde ist der Verstand nach dem Koran der größte Prophet. Dies beschreibt Ragip al-Isfahani als einer der wichtigsten Pioniere der Koranwissenschaften in seinem Werk sehr nachvollziehbar. Er sagt, dass der Verstand der eigentliche Prophet ist. Die übrigen Propheten seien zweitrangig. Er sagt, dass es Menschen, die vom eigentlichen "Propheten Verstand" keinen Nutzen ziehen können, unmöglich ist, von den übrigen Propheten Nutzen ziehen zu können."

    Yasar Nuri Öztürk ist ein glühender Verfechter der laizistischen Ideen von Republikgründer Mustafa Kemal Atatürk. Die von ihm angestoßene Säkularisierung des Landes ist in den vergangenen 85 Jahren mal intensiv, mal weniger intensiv vorangebracht worden. Unter den islamischen Staaten nimmt die Türkei wegen der offiziell noch immer geltenden laizistischen Staatsdoktrin eine Sonderstellung ein. Wie sehr sich die Türken künftig am säkularen Gesellschaftsmodell orientieren werden, hängt nicht unwesentlich davon ab, wie das säkulare Europa mit dem muslimischen Beitrittskandidaten Türkei umgeht. Bemerkenswerterweise lehnen laizistische Kemalisten den Beitritt ihres Landes zur EU eher ab, während die religiös-konservative AK Partei darauf drängt.

    Der Einfluss religiöser Gruppierungen nimmt in der gesamten islamischen Welt zu - die Türkei bildet keine Ausnahme. Welche Art von Islam die gesellschaftliche Entwicklung der Türkei in Zukunft mitgestalten wird, hängt nicht zuletzt von den Geistlichen und deren Ausbildung ab, meint Irfan Aycan:

    "Ich würde die Imam-Hatip-Schule auch meinen besten Freunden empfehlen und besonders deren fleißigen Kindern, denn von hochgebildeten Glaubensvertretern braucht man keinen Schaden zu erwarten. Ein Imam kümmert sich um die Kranken und armen in der Gemeinde. Auf dieses Ziel arbeitet die Imam-Hatip-Schule hin. Die Gesellschaft kann keine Fortschritte machen, wenn die Imame anders und reaktionär denken."