Die Koserower Fischer müssen täglich das sogenannte Vineta-Riff umfahren, das bei Seegang in den Wellentälern ihre Schiffe zu zerstören droht. Jahrhunderte lang dachte man, dass es sich bei den Steinansammlungen am Meeresboden um nichts anderes handeln könne als um die Grundmauern der angeblich während einer Sturmflut im Meer versunkenen Stadt. Im Mittelalter soll Vineta die bedeutendste Handelsmetropole Europas gewesen sein, vergleichbar nur mit Konstantinopel, dem heutigen Istanbul. So schrieb der erste deutsche Geograf Adam von Bremen im Jahre 1075 über Vineta:
"Es ist wirklich die größte von allen Städten, die Europa birgt. Die Stadt ist angefüllt mit Waren aller Völker des Nordens, nichts Begehrenswertes oder Seltenes fehlt."
Hundert Jahre später wurde Vineta zum letzten Mal in einer Chronik erwähnt. Seitdem ranken sich Mythen und Legenden um den Verbleib der einst so mächtigen Ostseemetropole. Die Stadt soll wegen der Gottlosigkeit seiner Bewohner von den Fluten verschlungen worden sein, hieß es, als gerechte Strafe für deren Überheblichkeit und Verschwendungssucht. Eine Interpretation, der sich auch die DDR-Rockband "Die Puhdys" anschließt, die den Sagenstoff 1976 in einem Rocksong verarbeitet hat.
"Die haben aus goldenen Tellern gegessen und mit goldenen Löffeln gegessen und haben alles verschwendet, und so wurden sie eben bestraft, die Bürger, und so ist die Stadt eben untergegangen."
Bei den Koserowern ist der Mythos von der untergegangenen Stadt noch immer allgegenwärtig. Besonders im Tourismusgewerbe, von dem fast jeder auf Usedom lebt, hat der Name Vineta nach wie vor einen guten Klang. Es gibt eine Vineta-Apotheke, eine Vineta-Bibliothek, ein Reisebüro, ein Hotel und selbst eine Baubetreuungs-GmbH namens Vineta. Zu Ostern organisiert die Kurverwaltung jedes Jahr mit Glocken und einer schwimmenden Vineta-Attrappe die Auferstehung der versunkenen Stadt aus den Fluten des Meeres, die der Sage nach noch immer auf ihre Erlösung wartet.
"Wenn das Wasser ganz still ist, so sieht man oft unten im Grunde des Meeres in den Trümmern ganz wunderbare Bilder. Große, seltsame Gestalten wandeln dann in den Straßen auf und ab in langen faltigen Kleidern. Oft sitzen sie auch in goldenen Wagen oder auf großen schwarzen Pferden. Manchmal gehen sie fröhlich und geschäftig einher; manchmal bewegen sie sich in langsamen Trauerzügen, und man sieht dann, wie sie einen Sarg zum Grabe geleiten. Die silbernen Glocken der Stadt kann man noch jeden Abend, wenn kein Sturm auf der See ist, hören, wie sie tief unter den Wellen die Vesper läuten."
An der gekalkten Wand der zirka 700 Jahre alten Koserower Feldsteinkirche hängt ein 2,33 Meter hohes und ebenso breites Kreuz - das sogenannte Vineta-Kreuz. Fischer sollen es aus der Ostsee geborgen haben. So steht es jedenfalls in den Reiseführern. Pfarrer Winfried Wenzel hält das allerdings für unwahrscheinlich.
"Weil der Corpus doch so filigran und so verletzlich ist, dass er drei Wellenschläge im Sturm nicht überstehen würde. Ich denke, das bleibt ein Geheimnis, ist unklar, wie das hierher gekommen ist. Es gibt eine ganz schwache Notiz in der Chronik Usedoms von Burckhardt, die ist Anfang des 20. Jahrhunderts geschrieben, der hat sehr genau recherchiert und schreibt in einem Nebensatz, dass nach mündlicher Überlieferung Fischer das Kreuz aus der Ostsee gezogen haben sollen. Und daraus werden Geschichten gemacht dann."
An der Wand des Pfarrhauses hängen Bilder von Männern mit ernsten Minen und altmodischen Frisuren - Winfried Wenzels Amtsvorgänger. Einer von ihnen machte im 19. Jahrhundert als Schriftsteller von sich reden.
"Ganz oben hängt Wilhelm Meinhold, der ist ein paar Jahre hier Pfarrer gewesen, hat hier die Geschichte der Bernsteinhexe nicht geschrieben, aber die spielt hier in Koserow. Der ist damit europaweit berühmt geworden. 'Die Bernsteinhexe', das ist ein Roman, den Meinhold geschrieben hat in Form von Tagebuchaufzeichnungen aus dem 30-jährigen Krieg. Er lässt dort einen ehemaligen Pfarrer, Abraham Schweidler, die Geschehnisse der Zeit aufzeichnen, durch die seine Tochter Maria zur Hexe wird."
Seit einigen Jahren wird in den Sommermonaten die Geschichte von der "Bernsteinhexe" als Theaterstück in der Koserower Kirche aufgeführt. Dann drängeln sich Koserower und Touristen auf den Bänken, während die schöne Maria Schweidler auf dem Weg zum Scheiterhaufen von ihrem Liebhaber gerettet wird.
"Das ist im 19. Jahrhundert europaweit der erfolgreichste Roman gewesen. Also das bedeutet schon was, das bedeutet auch den Koserowern und dem Ort schon was. Und vergessen ist das nicht. Das zeigen mir die Urlauber aus Süddeutschland und Berlin, die immer wieder danach fragen, die das lesen. Das wird gelesen."
"Der lebt nach wie vor heute noch, dieser Roman."
Franz Jeschek wurde im Riesengebirge geboren und lebt seit über 60 Jahren in Koserow. Der pensionierte Mathematiker hat die Familiengeschichte seiner Frau aufgearbeitet, die aus einer alteingesessenen Koserower Familie stammt. Ihr Ur-Ur-Großvater war der erste Koserower Hotelbesitzer und gilt als Begründer des Seebades Koserow. Natürlich benannte er sein Hotel nach der versunkenen Stadt.
"Hotel zum Gasthof Vineta. Dieses Hotel hat eine sehr gute Lage gehabt, jeder, der von Wolgast nach Swinemünde in die Kreisstadt wollte zur damaligen Zeit, hat hier gehalten, war genau mitten auf der Insel Usedom."
Heutzutage vermietet fast jeder Koserower ein Zimmer oder eine Ferienwohnung. Der Massentourismus, der zu DDR-Zeiten über den Freien Deutschen Gewerkschaftsbund, kurz FDGB, organisiert war und zirka 50.000 Gäste jährlich nach Koserow führte, brach nach der Wende fast völlig zusammen. Heute beherbergen die Koserower jedoch wieder ebenso viele Gäste wie vor 1990.
"Die Arbeitslosigkeit ist groß, aber durch diese Vermietung geht es uns eben wahrscheinlich wesentlich besser als manch einem mitten in Mecklenburg, wo kein Tourismus ist. Es wurde viel gebaut, viel modernisiert, viele Straßen wurden neu gemacht. So wird der Ort immer schöner, und es kommen immer mehr Touristen. Und dadurch haben auch viele Arbeit hier und verdienen natürlich auch in ihren Gewerbebetrieben, ob das ein Imbiss ist oder Fischer am Strand oder Strandkorbvermieter. Jeder lebt vom Tourismus hier."
Franz Jeschek, der sich als stellvertretender Bürgermeister und Amtsvorsteher für die Gemeinde engagiert, liegt die Geschichte Koserows besonders am Herzen. Er verfasste Broschüren und ein Buch über den Badeort. In seinem Bücherschrank befinden sich viele Bände über die versunkene Stadt Vineta sowie eine Sammlung historischer Postkarten.
"Hier sehr schöne Postkarten von Vineta. Das sind so genannte Halt-gegens-Licht-Postkarten: Wenn man die Postkarte gegen eine Lampe hält, sieht man die untergegangene Stadt Vineta. Ich mach mal meine Lampe an, und dann sehen Sie die ganze Stadt Vineta."
Auf einer der Karten steht die erste Strophe eines Gedichts, das der Romantiker Wilhelm Müller über Vineta geschrieben hat.
"Aus des Meeres tiefem, tiefem Grunde
Klingen Abendglocken dumpf und matt,
Uns zu geben wunderbare Kunde
Von der schönen alten Wunderstadt."
Ganz nah bei Koserow befindet sich die schmalste Stelle der Insel zwischen Achterwasser und Ostsee: Lüttenort. Hier hat sich der Künstler und Maler Otto Niemeyer-Holstein niedergelassen, der die Ostsee immer und immer wieder gemalt hat.
"Er ist also jeden Tag zum Meer gegangen und hat das täglich intensiver gesehen. Für ihn war das Ufer auch ein inhaltliches Thema: Anfang und Ende der Welt, die Schwelle, wo die Dinge sich begegnen."
Franka Keil führt jeden Tag Besucher durch das Haus des 1984 verstorbenen Malers, der testamentarisch verfügte, dass Gebäude und Garten so erhalten bleiben sollen, wie sie zu seinen Lebzeiten ausgesehen haben. Anfang der 30er Jahre war der 1896 geborene Niemeyer-Holstein mit seinem Boot über das Achterwasser gekommen und hat hier ein Grundstück gekauft. Seine erste Behausung ließ er sich aus Berlin liefern, der Stadt, in der er damals gelebt hat.
"Wenn Sie nach oben gucken, dann merken Sie an der Wölbung der Decke, aber auch noch an den Schiebetüren, dass es mit diesem Raum etwas Besonderes auf sich hat, das ist ein ausrangierter Gepäckwagen der Berliner S-Bahn. Und das war das erste, was Otto Niemeyer-Holstein hier in Lüttenort hatte."
Der S-Bahn-Wagen war die Urzelle des Hauses, in dem Niemeyer-Holstein mit seiner Familie lebte und bis 1945 seine jüdische Schwiegermutter versteckt hielt. Bald hatte er sich durch seine unkonventionelle Lebensweise bei den Koserowern einen gewissen Ruf erworben.
"Es ging ja damit los, dass er mit einem S-Bahn-Wagen hierher kam und eigentlich wie ein Verrückter oder wie ein Aussteiger sich ja erstmal eingeführt hat. Der lebt da draußen ohne Wasser ohne Strom in einem S-Bahn-Wagen. Also da haben die Einheimischen doch schon sich gewundert. Sie selber hatten zwar auch nur Lehmhäuser mit Schilf gedeckt, aber der, der in so einem S-Bahn-Wagen lebt, der ist ja noch weniger. Und er wurde genannt Isenbahner im Kaffernkrahl. Ein Kaffer war damals die Bezeichnung für alles Fremdländische."
Bevor die Kunst seine Familie und ihn ernähren konnte, bot Niemeyer-Holstein Rundreisen mit seinem Segelboot namens "Orion" auf dem Achterwasser an.
"Bin ich auch mitgefahren als Kind, Anfang der 50er Jahre für 50 Pfennige, und Kinder zahlten 20 Pfennig für drei Stunden Bootsfahrt auf dem Achterwasser. Und ich kann mich noch erinnern, wie er mir erklärte, also das Sternbild Orion, hat er in der Kajüte zu hängen gehabt. Als Kind wusste ich nicht, was Orion heißt."
"Er hat es verstanden, mit den Fischern und Bauern genauso ins Gespräch zu kommen wie mit Künstlerkollegen und Intellektuellen. Er ist dann also immer mehr auch erst einmal außerhalb dieser Region bekannt geworden. Hier auf der Insel hat man ihn erst richtig wahrgenommen, als er Nationalpreisträger war, das war ja dann erst nach 1974."
Zehn Jahre früher hatte der Maler bei seinem morgendlichen Strandspaziergang eine Entdeckung gemacht.
"Weil er ja immer der erste war morgens am Strand, hat er nach einem Sturm ein Schiffswrack gefunden, 1964 am Strand. Und dieses Schiff war am Vineta-Riff gesunken und war dann durch den Sturm frei gekommen und vollständig, also richtig so wie ein Gerippe. angespült worden. Und das war natürlich eine grandiose Sensation. Und das hat er also mehrfach gemalt und gezeichnet, dieses Wrack. Und dann hat er diese Holzteile Stück für Stück in seinen Garten getragen, und die liegen hier überall auf den Mauern."
Bei seinen Strandspaziergängen wird Otto Niemeyer-Holstein gewiss auch die Geräusche der versunkenen Stadt Vineta gehört haben, von der manche Forscher zwar behaupten, dass sie ganz woanders gestanden habe, in Barth oder auf der Insel Wollin, doch das waren gewiss keine Koserower, denn die behaupten, wenn auch augenzwinkernd, nach wie vor:
"Wir haben das gehört, wenn das so neblig ist und man sieht so in der Ferne Vineta auferstehen, die Zinnen."
"Natürlich sind wir voll überzeugt davon, dass Vineta hier direkt vor Koserow gelegen hat, das sieht man auch, wenn man genauer hinguckt an den Bodenerhebungen unter Wasser."
"Es ist wirklich die größte von allen Städten, die Europa birgt. Die Stadt ist angefüllt mit Waren aller Völker des Nordens, nichts Begehrenswertes oder Seltenes fehlt."
Hundert Jahre später wurde Vineta zum letzten Mal in einer Chronik erwähnt. Seitdem ranken sich Mythen und Legenden um den Verbleib der einst so mächtigen Ostseemetropole. Die Stadt soll wegen der Gottlosigkeit seiner Bewohner von den Fluten verschlungen worden sein, hieß es, als gerechte Strafe für deren Überheblichkeit und Verschwendungssucht. Eine Interpretation, der sich auch die DDR-Rockband "Die Puhdys" anschließt, die den Sagenstoff 1976 in einem Rocksong verarbeitet hat.
"Die haben aus goldenen Tellern gegessen und mit goldenen Löffeln gegessen und haben alles verschwendet, und so wurden sie eben bestraft, die Bürger, und so ist die Stadt eben untergegangen."
Bei den Koserowern ist der Mythos von der untergegangenen Stadt noch immer allgegenwärtig. Besonders im Tourismusgewerbe, von dem fast jeder auf Usedom lebt, hat der Name Vineta nach wie vor einen guten Klang. Es gibt eine Vineta-Apotheke, eine Vineta-Bibliothek, ein Reisebüro, ein Hotel und selbst eine Baubetreuungs-GmbH namens Vineta. Zu Ostern organisiert die Kurverwaltung jedes Jahr mit Glocken und einer schwimmenden Vineta-Attrappe die Auferstehung der versunkenen Stadt aus den Fluten des Meeres, die der Sage nach noch immer auf ihre Erlösung wartet.
"Wenn das Wasser ganz still ist, so sieht man oft unten im Grunde des Meeres in den Trümmern ganz wunderbare Bilder. Große, seltsame Gestalten wandeln dann in den Straßen auf und ab in langen faltigen Kleidern. Oft sitzen sie auch in goldenen Wagen oder auf großen schwarzen Pferden. Manchmal gehen sie fröhlich und geschäftig einher; manchmal bewegen sie sich in langsamen Trauerzügen, und man sieht dann, wie sie einen Sarg zum Grabe geleiten. Die silbernen Glocken der Stadt kann man noch jeden Abend, wenn kein Sturm auf der See ist, hören, wie sie tief unter den Wellen die Vesper läuten."
An der gekalkten Wand der zirka 700 Jahre alten Koserower Feldsteinkirche hängt ein 2,33 Meter hohes und ebenso breites Kreuz - das sogenannte Vineta-Kreuz. Fischer sollen es aus der Ostsee geborgen haben. So steht es jedenfalls in den Reiseführern. Pfarrer Winfried Wenzel hält das allerdings für unwahrscheinlich.
"Weil der Corpus doch so filigran und so verletzlich ist, dass er drei Wellenschläge im Sturm nicht überstehen würde. Ich denke, das bleibt ein Geheimnis, ist unklar, wie das hierher gekommen ist. Es gibt eine ganz schwache Notiz in der Chronik Usedoms von Burckhardt, die ist Anfang des 20. Jahrhunderts geschrieben, der hat sehr genau recherchiert und schreibt in einem Nebensatz, dass nach mündlicher Überlieferung Fischer das Kreuz aus der Ostsee gezogen haben sollen. Und daraus werden Geschichten gemacht dann."
An der Wand des Pfarrhauses hängen Bilder von Männern mit ernsten Minen und altmodischen Frisuren - Winfried Wenzels Amtsvorgänger. Einer von ihnen machte im 19. Jahrhundert als Schriftsteller von sich reden.
"Ganz oben hängt Wilhelm Meinhold, der ist ein paar Jahre hier Pfarrer gewesen, hat hier die Geschichte der Bernsteinhexe nicht geschrieben, aber die spielt hier in Koserow. Der ist damit europaweit berühmt geworden. 'Die Bernsteinhexe', das ist ein Roman, den Meinhold geschrieben hat in Form von Tagebuchaufzeichnungen aus dem 30-jährigen Krieg. Er lässt dort einen ehemaligen Pfarrer, Abraham Schweidler, die Geschehnisse der Zeit aufzeichnen, durch die seine Tochter Maria zur Hexe wird."
Seit einigen Jahren wird in den Sommermonaten die Geschichte von der "Bernsteinhexe" als Theaterstück in der Koserower Kirche aufgeführt. Dann drängeln sich Koserower und Touristen auf den Bänken, während die schöne Maria Schweidler auf dem Weg zum Scheiterhaufen von ihrem Liebhaber gerettet wird.
"Das ist im 19. Jahrhundert europaweit der erfolgreichste Roman gewesen. Also das bedeutet schon was, das bedeutet auch den Koserowern und dem Ort schon was. Und vergessen ist das nicht. Das zeigen mir die Urlauber aus Süddeutschland und Berlin, die immer wieder danach fragen, die das lesen. Das wird gelesen."
"Der lebt nach wie vor heute noch, dieser Roman."
Franz Jeschek wurde im Riesengebirge geboren und lebt seit über 60 Jahren in Koserow. Der pensionierte Mathematiker hat die Familiengeschichte seiner Frau aufgearbeitet, die aus einer alteingesessenen Koserower Familie stammt. Ihr Ur-Ur-Großvater war der erste Koserower Hotelbesitzer und gilt als Begründer des Seebades Koserow. Natürlich benannte er sein Hotel nach der versunkenen Stadt.
"Hotel zum Gasthof Vineta. Dieses Hotel hat eine sehr gute Lage gehabt, jeder, der von Wolgast nach Swinemünde in die Kreisstadt wollte zur damaligen Zeit, hat hier gehalten, war genau mitten auf der Insel Usedom."
Heutzutage vermietet fast jeder Koserower ein Zimmer oder eine Ferienwohnung. Der Massentourismus, der zu DDR-Zeiten über den Freien Deutschen Gewerkschaftsbund, kurz FDGB, organisiert war und zirka 50.000 Gäste jährlich nach Koserow führte, brach nach der Wende fast völlig zusammen. Heute beherbergen die Koserower jedoch wieder ebenso viele Gäste wie vor 1990.
"Die Arbeitslosigkeit ist groß, aber durch diese Vermietung geht es uns eben wahrscheinlich wesentlich besser als manch einem mitten in Mecklenburg, wo kein Tourismus ist. Es wurde viel gebaut, viel modernisiert, viele Straßen wurden neu gemacht. So wird der Ort immer schöner, und es kommen immer mehr Touristen. Und dadurch haben auch viele Arbeit hier und verdienen natürlich auch in ihren Gewerbebetrieben, ob das ein Imbiss ist oder Fischer am Strand oder Strandkorbvermieter. Jeder lebt vom Tourismus hier."
Franz Jeschek, der sich als stellvertretender Bürgermeister und Amtsvorsteher für die Gemeinde engagiert, liegt die Geschichte Koserows besonders am Herzen. Er verfasste Broschüren und ein Buch über den Badeort. In seinem Bücherschrank befinden sich viele Bände über die versunkene Stadt Vineta sowie eine Sammlung historischer Postkarten.
"Hier sehr schöne Postkarten von Vineta. Das sind so genannte Halt-gegens-Licht-Postkarten: Wenn man die Postkarte gegen eine Lampe hält, sieht man die untergegangene Stadt Vineta. Ich mach mal meine Lampe an, und dann sehen Sie die ganze Stadt Vineta."
Auf einer der Karten steht die erste Strophe eines Gedichts, das der Romantiker Wilhelm Müller über Vineta geschrieben hat.
"Aus des Meeres tiefem, tiefem Grunde
Klingen Abendglocken dumpf und matt,
Uns zu geben wunderbare Kunde
Von der schönen alten Wunderstadt."
Ganz nah bei Koserow befindet sich die schmalste Stelle der Insel zwischen Achterwasser und Ostsee: Lüttenort. Hier hat sich der Künstler und Maler Otto Niemeyer-Holstein niedergelassen, der die Ostsee immer und immer wieder gemalt hat.
"Er ist also jeden Tag zum Meer gegangen und hat das täglich intensiver gesehen. Für ihn war das Ufer auch ein inhaltliches Thema: Anfang und Ende der Welt, die Schwelle, wo die Dinge sich begegnen."
Franka Keil führt jeden Tag Besucher durch das Haus des 1984 verstorbenen Malers, der testamentarisch verfügte, dass Gebäude und Garten so erhalten bleiben sollen, wie sie zu seinen Lebzeiten ausgesehen haben. Anfang der 30er Jahre war der 1896 geborene Niemeyer-Holstein mit seinem Boot über das Achterwasser gekommen und hat hier ein Grundstück gekauft. Seine erste Behausung ließ er sich aus Berlin liefern, der Stadt, in der er damals gelebt hat.
"Wenn Sie nach oben gucken, dann merken Sie an der Wölbung der Decke, aber auch noch an den Schiebetüren, dass es mit diesem Raum etwas Besonderes auf sich hat, das ist ein ausrangierter Gepäckwagen der Berliner S-Bahn. Und das war das erste, was Otto Niemeyer-Holstein hier in Lüttenort hatte."
Der S-Bahn-Wagen war die Urzelle des Hauses, in dem Niemeyer-Holstein mit seiner Familie lebte und bis 1945 seine jüdische Schwiegermutter versteckt hielt. Bald hatte er sich durch seine unkonventionelle Lebensweise bei den Koserowern einen gewissen Ruf erworben.
"Es ging ja damit los, dass er mit einem S-Bahn-Wagen hierher kam und eigentlich wie ein Verrückter oder wie ein Aussteiger sich ja erstmal eingeführt hat. Der lebt da draußen ohne Wasser ohne Strom in einem S-Bahn-Wagen. Also da haben die Einheimischen doch schon sich gewundert. Sie selber hatten zwar auch nur Lehmhäuser mit Schilf gedeckt, aber der, der in so einem S-Bahn-Wagen lebt, der ist ja noch weniger. Und er wurde genannt Isenbahner im Kaffernkrahl. Ein Kaffer war damals die Bezeichnung für alles Fremdländische."
Bevor die Kunst seine Familie und ihn ernähren konnte, bot Niemeyer-Holstein Rundreisen mit seinem Segelboot namens "Orion" auf dem Achterwasser an.
"Bin ich auch mitgefahren als Kind, Anfang der 50er Jahre für 50 Pfennige, und Kinder zahlten 20 Pfennig für drei Stunden Bootsfahrt auf dem Achterwasser. Und ich kann mich noch erinnern, wie er mir erklärte, also das Sternbild Orion, hat er in der Kajüte zu hängen gehabt. Als Kind wusste ich nicht, was Orion heißt."
"Er hat es verstanden, mit den Fischern und Bauern genauso ins Gespräch zu kommen wie mit Künstlerkollegen und Intellektuellen. Er ist dann also immer mehr auch erst einmal außerhalb dieser Region bekannt geworden. Hier auf der Insel hat man ihn erst richtig wahrgenommen, als er Nationalpreisträger war, das war ja dann erst nach 1974."
Zehn Jahre früher hatte der Maler bei seinem morgendlichen Strandspaziergang eine Entdeckung gemacht.
"Weil er ja immer der erste war morgens am Strand, hat er nach einem Sturm ein Schiffswrack gefunden, 1964 am Strand. Und dieses Schiff war am Vineta-Riff gesunken und war dann durch den Sturm frei gekommen und vollständig, also richtig so wie ein Gerippe. angespült worden. Und das war natürlich eine grandiose Sensation. Und das hat er also mehrfach gemalt und gezeichnet, dieses Wrack. Und dann hat er diese Holzteile Stück für Stück in seinen Garten getragen, und die liegen hier überall auf den Mauern."
Bei seinen Strandspaziergängen wird Otto Niemeyer-Holstein gewiss auch die Geräusche der versunkenen Stadt Vineta gehört haben, von der manche Forscher zwar behaupten, dass sie ganz woanders gestanden habe, in Barth oder auf der Insel Wollin, doch das waren gewiss keine Koserower, denn die behaupten, wenn auch augenzwinkernd, nach wie vor:
"Wir haben das gehört, wenn das so neblig ist und man sieht so in der Ferne Vineta auferstehen, die Zinnen."
"Natürlich sind wir voll überzeugt davon, dass Vineta hier direkt vor Koserow gelegen hat, das sieht man auch, wenn man genauer hinguckt an den Bodenerhebungen unter Wasser."