Zwei Teile hat das Ganze: Die Globalisierung und ihre Folgen bildet Teil eins; Schauplätze und Akteure bilden dann Teil zwei. Auf je einer Doppelseite wird ein globalisierungsrelevantes Thema aus Wirtschaft, Politik, Ökologie oder Gesellschaft abgehandelt bzw. die Weltsicht verschiedener Akteure dargestellt. Text- und Bildmaterial halten sich dabei nicht ganz die Waage, denn ein gewisses Übergewicht der Texte ist schon festzustellen, die eine zwar knappe, nichtsdestotrotz in ihrem Anspruch aber umfassende Erörterung der einzelnen Themen liefern. Zum Nachschlagen erhält man hier solide Zusammenfassungen samt einschlägiger Internet-Adressen zum Weiterforschen, während die Karten und Grafiken nur Teilaspekte herausgreifen, die, visuell abstrahiert und natürlich selektiv vereinfacht, Strukturen sichtbar machen. Wenn man in der Lage ist, seine grundlegende Skepsis gegenüber statistischen Erfassungsmethoden vorübergehend über Bord zu werfen, dann wird man aber gerade an den Bildteilen des Atlasses großes Vergnügen finden und auch ihren didaktischen Wert bald zu schätzen wissen.
Während die Texte nämlich die jeweiligen Problematiken eher deskriptiv darstellen, werfen die visuellen Repräsentationsformen mehr Fragen auf, als sie Antworten geben, regen aber gerade deshalb zu Widerspruch und Kreuz-und-Querlesen an. Selbst Fehler, die sich in manche Bilder eingeschlichen haben, sind nicht ganz zwecklos, denn auch sie fordern zum Nachdenken auf. So wundert man sich beispielsweise über eine Karte, die Lieferanten und Kunden im internationalen Waffengeschäft erfasst. Länder oder Kontinente sind hier kreisförmig dargestellt und die jeweilige Farbe der einzelnen Kreissegmente klärt über die Herkunft der importierten Waffen auf. Die Golfstaaten erhalten haufenweise Waffen aus Europa, ein fettes dunkelgrünes Segment zeigt dies an; einige wenige Waffenlieferungen stammen aus Russland, das indiziert ein kleines orangefarbenes Segment; die USA, violettfarben, tauchen als Lieferant der Golfstaaten aber gar nicht auf. Das kann unmöglich sein, sagt man sich und sucht in der Legende nach der Farbe des größten Kreissegments, das hellgrün ist, aber es kommt dort gar nicht vor. Das muss ein Fehler sein, und schnell stellt man fest, dass sich auf der vorliegenden Karte an manchen Stellen ein hellgrün für ein violett eingeschmuggelt hat. Ein Blick auf Europa oder Ägypten bestätigt diese Vermutung: auch hier hellgrün statt violett. Gerade also weil sich die Bilder nicht immer auf einfache Weise erschließen, und zwar nicht in Folge fehlerhafter Darstellungen, sondern in erster Linie weil einem das Lesebesteck häufig nicht geläufig ist, wird man zwangsläufig zum Mitarbeiten animiert. Für den Schulunterricht dürfte mit dem Atlas der Globalisierung Lehrern und Lehrerinnen mithin ein höchst brauchbares Instrument an die Hand gegeben sein.
Es sind aber auch die scheinbar aberwitzigen Vergleiche des statistischen Blicks auf die Welt, die Schlaglichter werfen. Da wird beispielsweise auf einer Grafik die Wirtschaftsleistung von Ballungsräumen mit der von Staaten verglichen. Zunächst fragt man sich noch, was unter Wirtschaftsleistung hier wohl alles subsumiert ist; es wird nämlich nicht weiter aufgeschlüsselt. Aber spätestens, wenn man dann sieht, dass Tokio fast so viel erwirtschaftet wie ganz Frankreich, dass Paris sich nur geringfügig hinter Mexiko befindet und New York beinahe das Wirtschaftsvolumen Chinas erreicht, wird einem klar, dass es natürlich die Finanzdienstleistungen sind, die inzwischen ja den bei weitem überwiegenden Teil des gesamten Wirtschaftsaufkommens ausmachen. Und so zeigt dieses kleine Schaubild mit seinen zwei Variablen gleichsam beiläufig, dass sich mit der Umstellung vom Industrie- zum Finanzkapitalismus längst eine neue topografische Ordnung herausgebildet hat, in der globale Finanz- und Geschäftszentren wie Tokio, New York oder Paris im Mittelpunkt stehen, während ehemalige Industriestandorte an die Ränder des Weltgeschehens gerückt sind. Tokio ist, wie es eine andere Grafik zeigt, zur Zeit der reichste städtische Ballungsraum der Welt. Und auf einer weiteren Grafik ist das eklatante Verhältnis von virtueller zu realer Ökonomie zu bestaunen.
Die Welt als ein geordnetes Gefüge, das kann man hier sehr schön sehen, ist immer auch abhängig von den Darstellungsmethoden der Statistik und Kartografie. Bildgebende Verfahren sind eben immer auch blickbildend. Und dass der Blick hier geschärft wird für die veränderten globalen Kräfteverhältnisse des postmodernen Kapitalismus, das ist ja gerade die Absicht der Herausgeber gewesen. Und es ist ihnen auch gelungen. Ein Sachregister und eine wenigstens grob strukturierte physische Weltkarte hätte man sich aber doch noch gewünscht. Vielleicht machen eine baldige Neuauflage oder die nächste aktualisierte Version das ja möglich.
Atlas der Globalisierung, herausgegeben von Le Monde Diplomatique und verlegt von der TAZ Verlags und Vertriebs GmbH. Der Atlas hat 191 Seiten und kostet 10 Euro.